Zusammenfassung
Mit dem Artikel «Neue Ungereimtheiten im Postauto-Skandal» vom 21. Februar 2021 hat die «SonntagsZeitung» den Journalistenkodex nicht verletzt. Der Schweizer Presserat weist eine entsprechende Beschwerde des Bundesamtes für Verkehr (BAV) ab, wonach die Redaktion schwere Vorwürfe erhoben, diese dem BAV aber vor der Publikation nicht zur Stellungnahme vorgelegt habe. Für den Presserat war eine Anhörung nicht zwingend. Es handelt sich bei den beschriebenen Formulierungen nicht um schwere Vorwürfe, sondern um zulässige, für die Leserschaft erkennbare journalistische Einschätzungen, in einem Fall sogar um ein Zitat des BAV-Direktors. Aus Sicht der Leserschaft sind einzig Titel und Lead nicht ideal gelöst, da sie Erwartungen wecken, die der Artikel nicht einlöst. Doch medienethisch ist auch dies unbedenklich.
Das Bundesamt für Verkehr monierte zudem, die «SonntagsZeitung» habe wichtige Informationen unterschlagen sowie in unzulässiger Weise zwei gänzlich unterschiedliche Sachverhalte vermischt. Dem Presserat erschliesst sich beides nicht. Weder verschweigt der Artikel etwas noch stellt er etwas falsch dar. Die Beschwerde wird abgewiesen.
Résumé
La «SonntagsZeitung» n’a pas porté atteinte au code de déontologie des journalistes en publiant le 21 février 2021 l’article intitulé «Neue Ungereimtheiten im Postauto-Skandal» («Nouvelles incohérences dans le scandale de CarPostal»). Le Conseil suisse de la presse rejette la plainte de l’Office fédéral des transports (OFT), qui déploraitque la rédaction ait émis de graves reproches à son sujet sans l’entendre. Pour le Conseil de la presse, il n’était pas impératif de procéder à une audition. Les formulations en cause ne constituent en effet pas de graves reproches, mais des appréciations journalistiques tout à fait admissibles et identifiables comme telles par le lectorat, l’un d’entre elles consistant même en une citation du directeur de l’OFT. Seuls le titre et le chapeau de l’article ne sont pas rédigés de manière idéale pour les lecteurs, car ils suscitent des attentes auxquelles l’article ne répond pas. Cela ne constitue toutefois pas un problème sur le plan déontologique.
L’OFT reproche également à la «SonntagsZeitung» d’avoir omis de publier des informations importantes et d’avoir mêlé de manière inadmissible deux éléments matériels totalement distincts l’un de l’autre. Le Conseil de la presse ne partage pas son avis. L’article ne tait rien ni ne contient d’erreurs. La plainte est donc rejetée.
Riassunto
L’articolo si intitolava: «Nuove incongruenze nello scandalo dell’Autopostale» ed era uscito il 21 febbraio 2021 sulla «SonntagsZeitung». Il Consiglio della stampa ha respinto un reclamo dell’Ufficio federale dei trasporti (BAV) in cui si accusava il giornale di aver mancato al dovere di sentire la parte criticata prima di pubblicare. Nel caso, il dovere di ascolto non era obbligatorio: si trattava – dice il Consiglio della stampa – di un’ammissibile valutazione, di tipo giornalistico, come tale riconoscibile, e in un caso di un intervento del direttore dell’Ufficio. Al massimo erano esagerati titolo e sommario, in quanto destavano nel lettore un’attesa che il seguito del pezzo non giustificava. Ma son cose che capitano nei mass media, dice il Consiglio.
Secondo l’Ufficio, il giornale avrebbe taciuto informazioni importanti e inammissibilmente confuso due casi senza rapporto tra loro. Neppure questa riserva ha trovato riconoscimento da parte del Consiglio: il giornale non ha taciuto elementi importanti né scritto cose inesatte. Il reclamo è stato respinto.
I. Sachverhalt
A. Am 21. Februar 2021 veröffentlichte die «SonntagsZeitung» einen Artikel von Beat Schmid mit dem Titel «Neue Ungereimtheiten im Postauto-Skandal». Der Lead lautete «Das Bundesamt für Verkehr kannte schon 2013 die Absicht von Postauto, eine Holdingstruktur mit Transferpreisen einzuführen. Bisher unveröffentlichte Dokumente zeigen, dass ihm die Pläne sogar zur Genehmigung vorgelegt wurden.»
Im Artikel wird ausgeführt, dass betreffend «Postauto-Skandal» trotz mehrerer Untersuchungen noch immer vieles im Dunkeln liegt. Bis heute gebe es keine Anklage, geschweige denn eine Verurteilung. Eine Klage sei vom Gericht wegen gravierender Verfahrensfehler abgewiesen worden. Nun zeigten neue Dokumente erstmals, dass Spitzenbeamte des Bundesamtes für Verkehr (nachfolgend: BAV) und des Departementes für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation bereits ab 2013 von den Plänen der Post erfahren hätten, den Postauto-Bereich in einer Holding zu organisieren. Der Artikel beschreibt, wie die Neuorganisation (Projekt Impresa) konkret ablief, wer in die Projektarbeiten involviert war und welche Personen in der Verwaltung zu welchem Zeitpunkt vom Projekt erfuhren. Fazit: Impresa sei «kein ominöses Gewinnverschleierungsprojekt, sondern eine über Jahre vorbereitete und innerhalb der Post und Verwaltung breit diskutierte und abgestützte Neuorganisation des Postauto-Bereichs».
B. Am 23. Februar 2021 reichte das BAV eine Beschwerde beim Schweizer Presserat gegen den Artikel der «SonntagsZeitung» ein. Dieser verletze die Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen), die zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») gehört. Im Artikel werde eine «Mitwisserschaft» des BAV beim «Postauto-Skandal» suggeriert in dem Sinne, dass dem BAV die Pläne von Postauto, mit einer Holdingstruktur «Gewinne zu verstecken», bekannt gewesen seien. Weiter werde dem BAV-Direktor ein «fahrlässiger Umgang mit dem Betrugsvorwurf an die früheren Postauto-Kader» vorgeworfen. Mit diesen schwerwiegenden Vorwürfen sei man vor der Publikation des Artikels nicht konfrontiert worden. Das BAV habe demzufolge keine Gelegenheit gehabt, im Rahmen der Berichterstattung der «SonntagsZeitung» Stellung zu nehmen.
Wegen der fehlenden Anhörung sieht das BAV auch die Ziffer 3 der «Erklärung» (Unterschlagen von wichtigen Elementen von Informationen) verletzt. Der Artikel stelle wahrheitswidrig längst bekannte Tatsachen (Korrespondenz zwischen Postauto AG und Bund zur Holdingstruktur) als neu dar und vermische «in unzulässiger Weise zwei gänzlich unterschiedliche Sachverhalte, nämlich einerseits die Zulässigkeit von Holding-Modellen in öV-Unternehmen, und andererseits die betrügerischen Machenschaften inner- oder ausserhalb einer solchen Holdingstruktur durch fiktive Buchungen bzw. unzulässige Gewinnzuschläge». Letzteres – und nicht die Holdingstruktur – sei der Grund für das Strafverfahren, schreibt das BAV. Dies werde im Artikel aber «totgeschwiegen», was der Leserschaft «ein völlig falsches Bild» vermittle.
Auch der Vorwurf des fahrlässigen Umgangs mit dem Begriff «betrügerischer Handlungen» durch den Direktor des BAV sei nicht angebracht, fügt der Beschwerdeführer an. Die betrügerischen Handlungen der ehemaligen Postauto-Kader «mit tausenden von fiktiven Buchungen» seien in den zahlreichen Untersuchungsberichten «ausführlich dokumentiert» und von der Post mit der Rückzahlung von 205 Millionen Franken zu viel bezogener Subventionen «eingestanden». Strafrechtlich liege eine Anklage von Fedpol wegen Leistungsbetrugs vor, wobei das Verfahren wegen Formfragen noch hängig sei.
C. Am 21. Mai 2021 nahm die «SonntagsZeitung» Stellung zur Beschwerde des Bundesamtes für Verkehr. Diese erwiese sich in jeder Hinsicht als unbegründet und sei abzuweisen.
Die Redaktion argumentiert, dass im Artikel keine schweren Vorwürfe erhoben worden seien, mit denen man das BAV hätte konfrontieren müssen. Es sei noch nicht einmal klar, um welche Vorwürfe es in der Beschwerde genau gehe. Mutmasslich seien die folgenden beiden Vorwürfe gemeint: Erstens suggeriere der Artikel laut Beschwerdeführer eine «Mitwisserschaft» des BAV beim «Postauto-Skandal» in dem Sinne, dass dem BAV die Pläne von Postauto, mit einer Holdingstruktur «Gewinne zu verstecken», bekannt gewesen seien. Zweitens werde dem BAV-Direktor im Artikel laut Beschwerdeführer ein «fahrlässiger Umgang mit dem Betrugsvorwurf an die früheren Postauto-Kader» vorgeworfen.
Der erste Vorwurf ziele ins Leere, schreibt die «SonntagsZeitung». Der Artikel suggeriere an keiner Stelle eine «Mitwisserschaft» oder «Komplizenschaft» des BAV in Bezug auf die Absicht von Postauto, «Gewinne zu verstecken». Es stehe auch nirgends, dass dem BAV bekannt gewesen sein soll, dass die neue Holdingstruktur darauf abziele, «Gewinne zu verstecken». Daraus folge, dass im monierten Artikel gar kein schwerwiegender Vorwurf erhoben wird, mit dem das BAV hätte konfrontiert werden können, geschweige denn hätte müssen.
Auch der zweite Vorwurf entbehre jeglicher Grundlage, schreibt die «SonntagsZeitung». Moniert würden Formulierungen in den ersten beiden Abschnitten des Artikels:
Im Februar 2018 erschütterte der Postauto-Skandal die Schweiz. Drei Jahre später scheint der Schock beim Bundesamt für Verkehr (BAV) noch immer tief zu sitzen. Direktor Peter Füglistaler blickt in einem Newsletter auf die bewegenden Ereignisse zurück und resümiert: «Auch wenn seit 2018 weitere Subventionsfälle bei der BLS und den Verkehrsbetrieben Luzern (VBL) aufgedeckt wurden, so sind betrügerische Handlungen die Ausnahme geblieben.»
«Betrügerische Handlungen» – mit dieser Formulierung lehnt sich der Spitzenbeamte weit aus dem Fenster. Zwar reichte sein Amt eine Strafanzeige ein, die sich gegen frühere Post-Kader richtet, doch zu einer Anklage, geschweige denn einer Verurteilung ist es bis heute nicht gekommen. Im Gegenteil: Ein Gericht wies eine Klage wegen gravierender Verfahrensfehler Ende 2020 ab. Von betrügerischen Handlungen zu sprechen, wie das Füglistaler tut, ist also heikel.
Laut Beschwerdeführer erhebe der Autor in diesen Zeilen einen «schwerwiegenden Vorwurf» gegen den BAV-Direktor, schreibt die Beschwerdegegnerin. Doch davon könne bei den Formulierungen «aus dem Fenster lehnen» und «von betrügerischen Handlungen zu sprechen (…) ist also heikel» keine Rede sein. Der Amtsdirektor habe als hoher Beamter zudem wohl kaum unbedacht von «betrügerischen Handlungen gesprochen». Er selbst habe diese Formulierung gewählt – und zwar in einem auf der Webseite des BAV publizierten Newsletter. Der Autor habe den Amtsdirektor im Artikel lediglich zitiert. Die Anhörungspflicht nach Richtlinie 3.8 sei nicht verletzt.
Die «SonntagsZeitung» weist weiter darauf hin, dass der Beschwerdeführer in der Beschwerdeschrift «in unzulässiger Weise» die Formulierung «betrügerische Handlungen» zu rechtfertigen versuche. Die Post habe mit der Zahlung von 205 Millionen Franken nichts «eingestanden». In keinem der Untersuchungsberichte finde sich die Formulierung «betrügerische Handlungen». Dass die Postauto-Kader betrogen, sei vielmehr die Sicht des BAV, das in dieser Sache Verfahrenspartei sei. Dieses selbst habe ein Strafverfahren gegen frühere Postauto-Kader wegen mutmasslichen Leistungsbetrugs initiiert. Eine Anklage des Fedpol sei vom Gericht wegen «schwerwiegender Verfahrensfehler» zurückgewiesen worden. Ob es in der Sache je zu einer Anklage komme, sei offen.
Die «SonntagsZeitung» weist auch den Vorwurf, wichtige Informationen unterschlagen zu haben (Ziffer 3 der «Erklärung»), dezidiert zurück. Der Artikel vermische zudem nicht – wie vom Beschwerdeführer moniert – in unzulässiger Weise zwei gänzlich unterschiedliche Sachverhalte. Er beleuchte vielmehr aufgrund neuer, bisher unveröffentlichter sowie aufgrund bekannter Fakten und Dokumente die Hintergründe, warum Postauto eine Subholdingstruktur eingeführt hatte. Weiter erkläre der Artikel, wer in die Projektarbeiten involviert gewesen sei und wer in der Verwaltung wann vom Projekt erfahren habe. Es werde im Artikel nicht behauptet, dass alle erwähnten Dokumente neu seien. Von einer Verletzung der journalistischen Sorgfaltspflicht könne deshalb keine Rede sein.
D. Das Präsidium des Presserates wies den Fall seiner 3. Kammer zu. Ihr gehören Max Trossmann (Kammerpräsident), Annika Bangerter, Monika Dommann, Michael Furger, Jan Grüebler, Simone Rau und Hilary von Arx an.
E. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 12. Januar 2022 und auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» verpflichtet Journalistinnen und Journalisten, Betroffene vor der Publikation schwerer Vorwürfe anzuhören. Die zur Publikation vorgesehenen Vorwürfe sind dabei präzis zu benennen. Den von den Vorwürfen Betroffenen muss nicht derselbe Umfang im Bericht zugestanden werden wie der Kritik. Aber ihre Stellungnahme ist im gleichen Medienbericht fair wiederzugeben. Unter schweren Vorwürfen versteht der Presserat gemäss langjähriger Praxis illegales oder damit vergleichbares Handeln.
2. Aus Sicht des Bundesamtes für Verkehr suggeriert der Artikel der «SonntagsZeitung» eine «Mitwisserschaft» des BAV beim «Postauto-Skandal» in dem Sinne, dass diesem die Pläne von Postauto, mit einer Holding «Gewinne zu verstecken», bekannt gewesen seien. Weiter werde dem BAV-Direktor ein «fahrlässiger Umgang» mit dem Betrugsvorwurf an die früheren Postauto-Kader vorgeworfen. Mit diesen schwerwiegenden Vorwürfen sei man nicht konfrontiert worden.
Für den Presserat ist nicht ersichtlich, warum bzw. an welcher Stelle der Artikel eine entsprechende «Mitwisserschaft» suggerieren soll. Dieser beschreibt einzig, dass das BAV bereits 2013 die Absicht von Postauto gekannt habe, eine Holdingstruktur mit Transferpreisen einzuführen. Es steht auch nirgends, dass das BAV gewusst haben soll, dass die neue Holdingstruktur darauf abziele, «Gewinne zu verstecken», wie das der Beschwerdeführer behauptet. Diese durchaus schweren Vorwürfe finden sich im Artikel nicht beschrieben und mussten demnach dem BAV vor der Publikation auch nicht vorgelegt werden.
Auch in Titel und Lead werden keine schweren Vorwürfe erhoben. In der Kombination erwecken sie allerdings Erwartungen, die der Artikel nicht einlöst. Denn der Artikel bringt eigentlich keine «neuen Ungereimtheiten» zutage, sondern zeichnet einfach die Entstehung der Holdingstruktur von Postauto nach. Das ist medienethisch unbedenklich, aus Sicht der Leserschaft allerdings nicht ideal gelöst.
Auch betreffend des zweiten Vorwurfs war eine Anhörung für den Presserat nicht zwingend. Bei den Formulierungen «aus dem Fenster lehnen» und «von betrügerischen Handlungen zu sprechen (…) ist also heikel» handelt es sich nicht um schwerwiegende Vorwürfe, sondern um zulässige, für die Leserschaft klar erkennbare journalistische Einschätzungen. Auch handelt es sich bei der Formulierung «betrügerische Handlungen» lediglich um ein Zitat des BAV-Direktors. Dieser hat seine Aussage in einem öffentlich zugänglichen Newsletter auf der BAV-Webseite gemacht. Gegen Richtlinie 3.8 wird nicht verstossen.
3. Der Beschwerdeführer moniert zudem eine Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung». Diese verlangt von Journalistinnen und Journalisten, nur Informationen, Dokumente, Bilder und Töne von ihnen bekannten Quellen zu veröffentlichen. Weiter heisst es: «Sie unterschlagen keine wichtigen Elemente von Informationen und entstellen weder Tatsachen, Dokumente, Bilder und Töne noch von anderen geäusserte Meinungen.»
Für den Presserat erschliesst sich nicht, dass der Artikel der «SonntagsZeitung» in «unzulässiger Weise zwei gänzlich unterschiedliche Sachverhalte» vermischt, wie dies das BAV kritisiert. Er sieht auch nicht, inwiefern der Artikel etwas verschweigen soll. So wird etwa entgegen den Ausführungen des Beschwerdeführers nirgends behauptet, dass alle erwähnten Fakten und Dokumente neu seien. Der Autor unterlässt es zwar, im Artikel genau zu benennen, welche Fakten und Dokumente neu und welche bereits bekannt sind. Dies hätte er im Sinne der Transparenz allenfalls tun können, aber keinesfalls müssen. Er verschweigt nichts und stellt auch nichts falsch dar. Eine Verletzung von Ziffer 3 ist nicht gegeben.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Die «SonntagsZeitung» hat mit dem Artikel «Neue Ungereimtheiten im Postauto-Skandal» die Ziffer 3 (Anhörung bei schweren Vorwürfen; kein Unterschlagen von wichtigen Elementen von Informationen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.