Nr. 1/2020
Anhören bei schweren Vorwürfen / Verschleiern des Berufs / Verdeckte Recherche

(X. c. «watson.ch»)

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I. Sachverhalt

A. Am 6. Februar 2018 veröffentlichte «watson.ch» auf seinem Onlineportal einen ausführlichen Artikel von Nadja Brenneisen mit der Überschrift «Wie sich Mütter auf Facebook in den Still-Wahnsinn treiben». Untertitel: «In einer Facebook-Gruppe propagieren Mütter radikales Stillen und setzen damit andere Mitglieder unter Druck – die Still-Liga freut’s.» Der Artikel dreht sich – deutlich sachlicher als in der Überschrift – um die Facebook-Gruppe «Stillen Schweiz», welche, laut «watson.ch», ein «Forum für den Austausch rund um das Stillen» sein wolle, sie verunsichere aber junge Mütter mit ihren radikalen Ansichten. Eine anonymisierte Mutter kommt zu Wort, welche erzählt, sie habe durch die Ratschläge in diesem Forum «einen Horror-Start in die Elternschaft» erlebt. Sie habe sich angesichts ihrer Probleme beim Stillen wochenlang anhören müssen, jede Frau könne stillen und sie sei entsprechend unter Druck gekommen.

Darauf angesprochen erklärt eine der Administratorinnen der Gruppe, es sei klar, dass man eine Haltung «pro Stillen» einnehme. Das stehe auch in den Gruppenregeln. Andere Gruppen, welche ein Abstillen propagierten, sich für den Schoppen einsetzten, gebe es schon viele. Es kommt dann zur Sprache, dass in dieser Gruppe die These vertreten worden sei, dass Babys im ersten Lebensjahr keine ergänzende Nahrung zum Stillen verabreicht werden solle. Ein Facharzt für Kindermedizin widerspricht dieser These mit ausführlicher Begründung. Ebenso der These, dass die Muttermilch sozusagen Garantin gegen jede Krankheit sei und dass das Stillen sozusagen das Seelenheil des Kindes gewährleiste. Im weiteren Verlauf des Artikels wird erläutert, dass ein Teil der Administratorinnen der Facebook-Gruppe «Stillberaterinnen der La Leche Liga» seien, einer weltweiten Still-Lobby, welche mit dem Handbuch «Die stillende Mutter» einem sehr traditionellen gesellschaftlichen Rollenbild anhänge: Die Mutter stillt, der Vater arbeitet. Es werden zwei Autorinnen zitiert, welche diese Kritik bestätigen und es wird auf ein anderes Mütter-Forum verwiesen, wo das «Still-Forum» kritisch beurteilt werde. Dort wird von einer (anonymen) Frau konzediert, dass die Beraterinnen zwar kompetent seien, dass man aber sofort «verurteilt und zusammengeschissen» werde, wenn man offene Fragen stelle. Eine andere anonyme Mutter schreibe von einer «Sekte», wenn es um die Mentalität in dieser Gruppe gehe. Es sei aber toll, entgegnet eine weitere anonym gehaltene Nutzerin, dass sich diese Frauen ehrenamtlich fürs Stillen einsetzten. Dafür fehle immer noch das Verständnis, vor allem am Arbeitsplatz.

B. X. reichte am 18. März 2018 Beschwerde beim Schweizer Presserat ein und machte eine Verletzung von Ziffer 3 und Ziffer 4 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») geltend. Insbesondere sei die Pflicht zur Anhörung bei schweren Vorwürfen verletzt, also Richtlinie 3.8. Ebenso habe die Journalistin mit ihrem Vorgehen gegen Richtlinie 4.1 (Verschleierung des Berufs) und 4.2 (verdeckte Recherche) verstossen.

Den Verstoss gegen Richtlinie 3.8 begründet die Beschwerdeführerin damit, dass im Artikel schwere Vorwürfe erhoben würden (Sekte, Frauen unter Druck setzen, einige Administratorinnen seien bei der «Leche Liga», welche überholte Rollenbilder propagiere), zu welchen die Administratorin zwar schriftlich befragt worden sei, zu welchen man aber im Artikel selber nicht, oder nicht in ausreichendem Masse zu Wort gekommen sei.

Einen Verstoss gegen Richtlinie 4.1 (Verschleiern des Berufes) sieht die Beschwerdeführerin darin, dass die Autorin in einer früheren Phase selber als Mutter in der Facebook-Gruppe «Stillen Schweiz» Rat gesucht hatte, den damaligen Austausch im Text denn auch verwendet habe, aber ohne dies gegenüber der Leserschaft oder der befragten Vertreterin der Facebook-Gruppe transparent zu machen. Dieser sei auch nie gesagt worden, dass es schwere Vorwürfe von Seiten einer anonymen Mutter gebe.

Und einen Verstoss gegen Richtlinie 4.2 (verdeckte Recherchen) sieht sie ebenfalls in der Tatsache, dass die Autorin im Artikel Informationen verwendet, welche sie (als Nutzerin des Forums) beschafft hat, ohne ihre Identität als Journalistin zu deklarieren. Es sei auch gar nicht klar, weshalb sie das verschleiert habe, das wäre nämlich gar nicht nötig gewesen.

Schliesslich macht die Beschwerdeführerin geltend, die Autorin habe ein Bild aus dem (geschlossenen) Facebook-Forum entnommen, dies sei unzulässig, auch wenn die Quelle genannt werde.

C. Mit Schreiben vom 17. April 2018 nahm der Chefredaktor von «watson.ch», Maurice Thiriet, zur Beschwerde Stellung:

Was die unterlassene Anhörung bei schweren Vorwürfen (Richtlinie 3.8) betrifft, so weist er darauf hin, dass die Auskunftsperson von «Stillen Schweiz» befragt worden sei zum Vorwurf, wonach Kinderärzte und Beratungsstellen den Tipps von «Stillen Schweiz» teilweise widersprächen. Auch sei sie mit dem Vorwurf «sektiererisch» konfrontiert worden. Sie sei also angehört worden.

Was die «Verschleierung des Berufs» und die «verdeckte Recherche» (Richtlinien 4.1 und 4.2) angehe, so habe die Autorin mit ihrer Anfrage bei «Stillen Schweiz» deklariert, dass sie als Journalistin arbeite und einen Artikel plane. Dass sie bereits zu einem früheren Zeitpunkt als Privatperson Fragen in diesem Forum gestellt habe, tue seines Erachtens nichts zur Sache.

D. Am 23. Mai 2018 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 24. Februar 2020 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen): Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Position der Gruppe «Stillen Schweiz» sei beim Vorwurf, «sektiererisch» zu sein, zu wenig zu Wort gekommen. Wenn man die ganze von ihr im Vorfeld unterbreitete schriftliche Antwort zu dieser Frage liest, dann ist die im Artikel zitierte Version zwar verkürzt, sie bewegt sich aber entlang der Aussage der Auskunftsperson.

Etwas anders sieht es beim Vorwurf aus, wer nicht mehr stillen möge, werde in dieser Gruppe stark unter Druck gesetzt. Die Hauptaussage in der ursprünglichen Antwort auf die Frage nach dem Druck, dem die Teilnehmerinnen ausgesetzt seien, lautete dort: «Wer in unsere Gruppe kommt, tut das freiwillig.» Es könne «niemand gezwungen werden zu stillen, schon gar nicht durch eine Facebookgruppe. Wenn es einem zuviel ist, darf man die Gruppe jederzeit verlassen. Wichtig ist zu wissen, dass Stillberaterinnen – und davon haben wir auch ein paar in unserer Gruppe, inklusive mir – eine Frau auch beim Abstillen begleiten und unterstützen.» Hier wurde ein entscheidender Teil, nämlich der Schlusssatz, weggelassen, die Aussage, dass in dieser Gruppe Frauen auch beim Abstillen begleitet würden. Dieser Satz stellt die Aussage der anonymen Zeugin vom «enormen Druck», dem man ausgesetzt werde, wenn man nicht mehr stille, vom «Horror-Start ins Elternleben», am deutlichsten in Frage. Allerdings handelt es sich bei diesem Vorwurf nicht um einen schweren Vorwurf im Sinne der Praxis des Presserats. Danach ist von einem schweren Vorwurf auszugehen, wenn jemandem ein illegales oder damit vergleichbares Verhalten vorgeworfen wird. Dies ist hier nicht der Fall, Richtlinie 3.8 ist somit nicht verletzt.

Was den Vorwurf betrifft, man verfolge ein antiquiertes Rollenbild, indem man die Vorgaben der «Leche Liga» propagiere, deren Handbuch «reproduziere klassische Geschlechterrollenbilder», wird keine Stellungnahme von «Stillen Schweiz» erwähnt, sie wurde mit dem Vorwurf in den (schriftlichen) Fragen auch nie konfrontiert. Allerdings kann auch hier nicht von einem «schweren» Vorwurf gesprochen werden, hier geht es mehr um eine Interpretation als um einen schweren Vorwurf.

Insgesamt wurde Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) nicht verletzt.

2. Die Beschwerdeführerin kritisiert, dass die Autorin Informationen verwendet hat, welche sie noch erhalten hatte, als sie in der Gruppe nicht als Journalistin aufgetreten war. Damit verletze sie Richtlinie 4.1 und 4.2 (Verschleiern des Berufes, verdeckte Recherche): Dieser Vorwurf trifft insofern nicht zu, als die Autorin mit dem Rückgriff auf eigene frühere Erfahrungen in dieser Gruppe keine Informationen erhielt, die sie nicht auch so erhalten hätte. Das betont auch die Beschwerdeführerin selber. Es wäre zwar sehr zu wünschen gewesen, dass sie diese Tatsache im Artikel erwähnt hätte, aber die damalige Erkundigung erfolgte gemäss den vorliegenden Informationen nicht in der Absicht, auf diese Art an irgendwelche journalistisch verwertbaren Informationen zu kommen. Die Richtlinien 4.1 und 4.2 sind nicht verletzt.

3. Weiter zu dem von der Beschwerdeführerin ohne direkten Bezug auf eine Bestimmung der «Erklärung» erhobenen Vorwurf, «watson.ch» habe ein Bild aus einer geschlossenen Facebookseite ohne deren Zustimmung verwendet. Auf diesen Vorwurf ist gemäss Geschäftsreglement des Presserates Art. 9 Abs. 2 nicht einzutreten, weil nicht deklariert wird, gegen welche Bestimmung ein bestimmter Passus verstösst. Es sei aber hinzugefügt, dass das Bild, ein Screenshot, aus einem Text besteht, den man legitimerweise als relevant für die Sache ansehen kann und dass die daneben sichtbare Illustration aus einer Strichzeichnung besteht. Einzelne Einträge neben der Illustration sind nicht lesbar. Es sind also keine Persönlichkeitsverletzungen im Spiel, die Quelle ist angegeben, was bleibt, ist allenfalls eine urheberrechtliche Frage. Die wiederum kann und darf der Presserat nicht bewerten.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. «watson.ch» hat mit dem Artikel «Wie sich Mütter auf Facebook in den Still-Wahnsinn treiben» vom 6. Februar 2018 die Ziffern 3 (Anhören bei schweren Vorwürfen) und 4 (Verschleiern des Berufs/Verdeckte Recherche) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.