Nr. 34/2000
Verunglimpfender Leserbrieftitel

(L. c. „Thurgauer Volkszeitung“ / „Thurgauer Zeitung“) Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 2. November 2000

I. Sachverhalt

A. Am 16. April 2000 sandte L. der „Thurgauer Volkszeitung“ einen Leserbrief, in dem er das aus seiner Sicht totale Fiasko der Schweizer Demokraten bei den Thurgauer Kantonsratswahlen kommentierte. Der Wähleranteil der Schweizer Demokraten habe diesmal auf den ganzen Kanton hochgerechnet lediglich 0.22% betragen.

B. Die „Thurgauer Volkszeitung“ druckte den Leserbrief von L. in ihrer Ausgabe vom 19. April 2000 ab.

C. S. reagierte mit einem Leserbrief, der am 9. Mai 2000 unter dem Titel „L. – kein Gentleman“ in der „Thurgauer Volkszeitung“ abgedruckt wurde. Inhaltlich wies er die Wahlanalyse von L. und insbesondere dessen Zahlenspielerei als unhaltbar zurück.

D. Mit Schreiben vom 12. Mai 2000 gelangte L. an die Redaktion der „Thurgauer Volkszeitung“ und protestierte gegen den Abdruck des Leserbriefs von S.. Am 8. Mai 2000 habe er Chefredaktor T. angefragt, ob die „Thurgauer Volkszeitung“ – wie die „Thurgauer Zeitung“ – den Titel „L. – kein Gentleman“ übernehmen würde. T. habe ihm das verneint. Einen Tag später sei der Leserbrief in der „Thurgauer Volkszeitung“ veröffentlicht worden. Es sei ihm zwar klar gewesen, dass S. auf seinen Leserbrief reagieren werde. Unbegreiflich sei aber, dass ihm die Redaktion der „Thurgauer Volkszeitung“ die Genugtuung gewähre, die ehrverletzende Überschrift, „L. – kein Gentleman“, in der „grösstmöglichsten Fettschrift in die Welt hinaus zu posaunen.“

E. Mit Beschwerde vom 31. Mai 2000 gelangte L. an den Presserat und machte sinngemäss geltend, die „Thurgauer Volkszeitung“ habe mit dem Abdruck des umstrittenen Leserbrieftitels berufsethische Pflichten verletzt.

F. Mit Schreiben vom 8. Juli 2000 beantragte der Chefredaktor der „Tages-Spiegel-Redaktion“, T,, die Abweisung der Beschwerde. Der Titel „L. – kein Gentleman“ – sei nicht persönlichkeitsverletzend und dessen Publikation verletze keine journalistischen Sorgfaltspflichten. Es sei aber nachvollziehbar, dass jemand der als „kein Gentleman“ bezeichnet wird, sich subjektiv in seiner Ehre verletzt fühlt. Deshalb und weil er das Verhältnis von L. und S. kenne, habe er Herrn L. in einem Telefongespräch am späteren Nachmittag des 8. Mai 2000 zugesichert, den Titel der Replik von S. zu überprüfen und gegebenenfalls abzuändern. Am 9. Mai 2000 sei der Leserbrief dann in der in Frauenfeld redigierten „Thurgauer Volkszeitung“ erschienen, ohne dass er noch Gelegenheit gehabt habe, mit der dortigen Redaktion Kontakt aufzunehmen.

G. Mit Schreiben vom 24. September 2000 fragte das Presseratssekretariat die Redaktion der „Thurgauer Zeitung“ an, ob sie den Leserbrieftitel „L. – Kein Gentleman“ tatsächlich ebenfalls veröffentlicht habe und bat gegebenenfalls um die Zustellung einer Kopie sowie um eine Stellungnahme zur Frage, ob der Abdruck eines solchen Leserbrieftitels unter berufsethischen Gesichtspunkten vertretbar war.

H. Mit Schreiben vom 18. Oktober 2000 bestätigte die Huber & Co AG, dass der Leserbrief mit dem Titel „L. – Kein Gentleman“ am 4. Mai 2000 als Replik auf den am 22. April 2000 veröffentlichten Leserbrief des Beschwerdeführers in der „Thurgauer Zeitung“ abgedruckt worden ist. Nach Ansicht der Redaktion sei der Leserbrieftitel angesichts der beidseitig hart geführten Auseinandersetzung auch unter berufsethischen Gesichtspunkten vertretbar.

I. Das Presseratspräsidium wies den Fall der 3. Kammer zu, der Catherine Aeschbacher als Präsidentin sowie Esther Diener-Morscher, Judith Fasel, Sigmund Feigel, Roland Neyerlin, Daniel Suter und Max Trossmann als Mitglieder angehören. Die Kammer behandelte die Beschwerde an ihren Sitzungen vom 24. August und 2. November 2000.

II. Erwägungen

1. Die „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ gilt auch für die Bearbeitung von Leserbriefen. So sind u.a. Leserbriefe zurückzuweisen, die offensichtlich falsche Aussagen und sachlich eindeutig nicht gerechtfertigte Anschuldigungen enthalten (Ziff. 1 und 7 der „Erklärung“; vgl. u.a. die Stellungnahme i.S. rassistische Leserbriefe vom 15. Dezember 1999, Sammlung 1999, S. 174ff. sowie zuletzt die Stellungnahme 9/2000 i.S. Wyss c. „Coop-Zeitung“ vom 30. März 2000 sowie 24/2000 i.S. BSU c. „Blick“ vom 24. August 2000).

2. Dementsprechend ist hinsichtlich des umstrittenen Titels „L. – kein Gentleman“ zu fragen, ob es sich dabei um eine sachlich eindeutig nicht gerechtfertigte Anschuldigung handelt. Die Redaktion der „Thurgauer Volkszeitung“ räumt selbst ein, dass jemand, der als „kein Gentleman“ bezeichnet wird, sich subjektiv in seiner Ehre verletzt fühlt. Auch objektiv ist mit dieser Bezeichnung ein offensichtliches Unwerturteil verbunden. Dem Beschwerdeführer wird mit diesem Titel die Eigenschaft abgesprochen, ein Mann von Anstand zu sein.

3. Aufgrund der dem Presserat vorliegenden Unterlagen lässt sich ein solches Unwerturteil sachlich nicht rechtfertigen. Zwar äussert sich der Beschwerdeführer in seinem am 19. bzw. 22 April abgedruckten Leserbrief sowohl bei seiner Interpretation des Wahlergebnisses und hinsichtlich des Präsidenten der Schweizer Demokraten Thurgau sehr pointiert, ohne dabei jedoch die Grenzen des in harten politischen Auseinandersetzungen üblichen Tones zu überschreiten. Dasselbe würde an sich auch für die am am 4. bzw. 9. Mai 2000 abgedruckte Replik von S. gelten, setzt dieser sich doch darin inhaltlich in durchaus sachlicher Weise mit der aus Sicht von S. verfehlten Wahlanalyse des Beschwerdeführers auseinander. Einzig der Titel enthält unmotiviert und ohne zureichende Begründung einen Angriff gegen die Person des Beschwerdeführers, der insbesondere auch in der grossgehaltenen Fettschrift und in der Erwähnung des Namens im Titel zum Ausdruck kommt. Auch wenn es sich im Ergebnis nicht um eine sehr gravierende Verletzung von Ziff. 7 der „Erklärung“ handelt, wäre die Redaktionen der „Thurgauer Volkszeitung“ bzw. der „Thurgauer Zeitung“ berufsethisch verpflichtet gewesen, hier redigierend einzugreifen.

4. Gemäss der Präambel der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ sichern Journalistinnen und Journalisten den gesellschaftlichen Diskurs und lassen sich dabei u.a. vom Fairnessprinzip leiten. Es ist Ausdruck eines fairen Diskurses, wenn Diskussionen zwar hart in der Sache geführt werden, gleichzeitig aber auf unnötige persönliche Angriffe und Verunglimpfungen verzichtet wird. Dementsprechend erschiene es aus berufsethischer Sicht zwar zulässig, einen Leserbrief abzudrucken, in dem eine Wahlanalyse z.B. als „nicht gentleman-like“ qualifiziert wird, nicht aber wenn sich ein solches Unwerturteil in einem fettgedruckten Titel gegen eine Person als Ganzes richtet.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2. Die „Thurgauer Volkszeitung“und die „Thurgauer Zeitung“ haben durch den Abdruck des in grosser Fettschrift gehaltenen Leserbrieftitels „L. – Kein Gentleman“ Ziff. 7 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ verletzt.

3. Es ist Ausdruck eines fairen Diskurses, wenn Diskussionen zwar hart in der Sache geführt werden, gleichzeitig aber auf unnötige persönliche Angriffe und Verunglimpfungen verzichtet wird.