Nr. 14/1997
Nennung wichtiger gesellschaftlicher Funktionen und Wahrung der Privatsphäre

(X. c. „SonntagsBlick“) vom 20. November 1997

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Stellungnahme

Die Öffentlichkeit hat ein Interesse daran, davon Kenntnis zu nehmen, wenn Träger wichtiger gesellschaftlicher Funktionen Verzweiflungstaten ausüben. Doch ist auch bei Nennung von Beruf, Funktion usw. darauf Rücksicht zu nehmen, dass die Privatsphäre der Betroffenen soweit als möglich gewahrt wird.

Einer Redaktion kann keine Verletzung der berufsethischen Pflicht zur Überprüfung der Quellen vorgeworfen werden, wenn sie Meldungen von Nachrichtenagenturen übernimmt, ohne de-ren Richtigkeit selber nachzurecherchieren.

Prise de position

Le public a un intérêt à avoir connaissance des fonctions sociales d’une personne lorsque ces fonctions sont importantes et que ces personnes commettent des actes désespérés. Toutefois, lors de l’indication de la profes-sion, des fonctions sociales, etc., il est indispensable que la sphère privée de la personne concernée soit préservée le plus possible.

Aucune violation du devoir d’éthique professionnelle quant à la vérification des sources ne peut être reprochée à une rédaction lorsque celle-ci reprend des nouvelles provenant d’agences de presse, sans procéder elle-même au contrôle de leur exactitude.

Presa di posizione

Il pubblico è interessato a conoscere se un atto disperato è commesso dal titolare di funzioni sociali importanti. La sfera privata dev’essere tuttavia rispettata nella misura più ampia possibile quando si indicano i nomi, la professione o la funzione occupata dalle persone toccate.

A una redazione non si può rimproverare il mancato rispetto del dovere deontologico di verifica della fonte se ha pubblicato una notizia d’agenzia senza accertarne direttamente la corret-tezza.

I. Sachverhalt

A. In seiner Ausgabe vom 15. Dezember 1996 berichtete der „SonntagsBlick“ unter dem Titel: „Amoklauf in Kirche: 2 Verletzte“ über die Verhaftung von X. in der Kirche Notre Dame in Genf. Dieser habe sich dort verschanzt, nach-dem er zwei Menschen angeschossen hatte. Danach habe er sich in seiner Ver-zweiflung bei „SonntagsBlick“ gemeldet.

In der Ausgabe vom 22. Dezember 1996 berichtete „SonntagsBlick“, X. sei schwer gestört. Als er in der Genfer Kirche Notre Dame durchgedreht habe, glaubte er von einem „Killerkomando“ verfolgt zu werden. Er habe sich erst nach stundenlangen Verhandlungen ergeben.

In beiden Medienberichten wurde X. nicht namentlich genannt. Angegeben wurden lediglich ehemalige beruf-liche und militärische (Ex-Chef des Militär-kommandos des Kantons Y.) Funktionen sowie der Herkunftskan-ton.

B. Mit Schreiben vom 25. Februar 1997 gelangte X. an den Presserat und machte geltend, der „SonntagsBlick“ habe mit seiner Berichterstattung Desin-formation betrieben.

Mit Schreiben vom 26. April 1997 präzisierte X. seine Vorwürfe dahingehend, der „SonntagsBlick“ habe mit seinen Berichten Ziff. 1 und 3 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ verletzt. Entgegen dem „SonntagsBlick“ habe sich der Vorfall nicht in einer Kirche, sondern in einem Büro der Kirchgemeinde zugetragen. Es habe keinen Amoklauf gegeben, da er während der ganzen Handlung nie gelaufen sei. Er habe sich auch nicht verschanzt. Alle Türen seien immer offen gewesen. Im Gespräch mit dem „SonntagBlick“ habe er seine ehemalige militärische Funktion keinesfalls erwähnt. Ein Militärkomman-do des Kantons Y. gebe es gar nicht, was allein schon zeige, wie falsch und oberflächlich der Bericht abgefasst sei. Zum dama-ligen Zeitpunkt habe er auch nicht gewusst, welche Funktionen die ihn bedro-henden Personen innehatten. Weiter sei er kein Amokschütze, und die Vermitt-lung durch den Genfer Polizeichef sei nicht über den „SonntagsBlick“ erfolgt. „SonntagsBlick“ habe nichts zur Lösung des Falles beigetragen, sondern sei erst nachträglich auf den fahrenden Zug aufgesprungen. Er habe sich auch nie geäussert, er würde von einem „Killerkommando“ bedroht, sondern nur, dass er sich seit zwei Tagen von Unbekannten verfolgt fühlte. Schliesslich weist X. darauf hin, dass er vor der Abgabe der Schüsse sechs Mal auf den Notruf 117 angerufen habe. Die Gespräche seien alle von Polizeiseite abgebrochen worden. Dies sei vom „SonntagsBlick“ jedoch unterschlagen worden.

Gegenüber Polizei- und Untersuchungsbehörden sagte X. am 15. Dezember 1996 sinngemäss aus, er werde seit einigen Tagen von Unbekannten bedroht und verfolgt, weshalb er eine Pistole auf sich trage. Er habe in der Kirche Schutz suchen wollen, habe dem Priester von seinen Problemen erzählt und ihn gebeten, in der Sakristei ruhig telefonieren zu dürfen. Trotz mehrerer Ver-suche auf der Notrufnummer 117 sei es ihm nie gelungen, sich Gehör zu ver-schaffen. Als zwei Personen in die Sakristei eingetreten seien, habe er sie aufgefordert, sich ihm nicht zu nähern, da er sich bedroht fühlte. Als sie trotzdem näherkamen, habe er seine Waffe gezogen und auf die Beine gezielt. Er habe in Notwehr geschossen.

C. In seiner Stellungnahme vom 28. Mai 1997 weist der „SonntagsBlick“ darauf hin, dass er den Namen von X. nie nannte. Zum der Berichterstattung zugrundeliegenden Sachverhalt wird auf SDA-Meldungen verwiesen, die teils am 14. Dezember, teils am 15. Dezember 1996 übers Netz liefen.

Die SDA-Meldung vom 14. Dezember 1997, 23.45 Uhr lautet wie folgt: „Genf. Schütze verschanzt sich in Kirche. Pfarrer und Sakristan durch Schüsse in Beine verletzt (…) Der offenbar verwirrte Schütze drang um 19.30 Uhr ge-gen Ende der Messe in die katholische Kirche ein und gab aus seiner Pistole Schüsse ab. Die beiden Verletzten wurden mit Ambulanzen weggebracht. Da-nach verschanzte sich der Mann in der Kirche, wo er sich um 23.30 Uhr immer noch aufhielt. Die Polizei machte sich kurz vor 21.00 Uhr mit kugelsicheren Westen und Helmen bereit, die Kirche zu stürmen. Scharfschützen wurden postiert. In der Kirche befanden sich keine anderen Menschen. Per Natel führte der Schütze Telefongespräche. Ein Polizeipsychologe konnte Kontakt zu ihm aufnehmen. Der Mann verlangte, mit einem hohen Polizeibeamten in Uniform zu sprechen. Ein Polizeioffizier machte sich um 23.30 Uhr bereit. Die Polizei sperrte die Umgebung der Kirche beim Genfer Bahnhof weiträumig ab und leitete den Verkehr um. Rund um den Bahnhof herrschten chaotische Ver-kehrs-verhältnisse.“

Der „SonntagsBlick“ wies darauf hin, dass X. laut den späteren SDA-Meldun-gen in der Sakristei geschossen habe. Dies sei bereits am Abend der Vorfalls soweit möglich auch bestätigt worden. Zudem sei wohl unbe-stritten, dass die Polizei die Kirche und nicht irgendein Nebengebäude umstellt hatte. Ausser X. habe an die-sem Abend wohl niemand gewusst, ob die Türen der Sakristei ver-schlossen waren – auch die Polizei nicht. X. habe während des Telefons mit „SonntagsBlick“ mehrmals von seiner militärischen Vergangenheit gesprochen und habe ausdrücklich verlangt, von einer uniformierten Person „behandelt“ zu werden. X. habe den „SonntagsBlick“ eindringlich gebeten, mit der Polizei Kontakt aufzunehmen, da ihm selber die Möglichkeit verwehrt worden sei. Einem Redaktor von „SonntagsBlick“ sei es gelungen, die Genfer Polizei, später sogar den Einsatzleiter zu erreichen. Es sei auch versucht worden, die beiden Telefone zusammenzukoppeln, damit X. direkt verhandeln konnte.

D. Auf Ersuchen von X. wurde das vom Presseratspräsidium an die 3. Kam-mer überwiesene Verfahren von anfangs Juni bis Ende Oktober 1997 sistiert. Die 3. Kammer, bestehend aus Kammerpräsident Reinhard Eyer und den Mit-gliedern Catherine Aeschbacher, Adi Kälin, Marie-Therese Larcher und Christian Schwarz, behan-delte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 20. No-vember 1997.

II. Erwägungen

1. Gemäss Ziff. 1 der „Erklärung der Pflichten und
Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ haben sich diese ohne Rücksicht auf die sich daraus für sie ergebenden Folgen an die Wahrheit zu halten und sich vom Recht der Öffent-lichkeit leiten zu lassen, die Wahrheit zu erfahren.

2. Hinsichtlich der geltend gemachten Verletzung von Ziff. 1 der „Erklärung“ rügt X. vorab, dass die in der Berichterstattung des „SonntagsBlick“ verwende-ten Begriffe „Amokschütze“ „Amoklauf“, „Killerkommando“ und „verschanzt“ sachlich falsch seien, dass er seine vom „SonntagsBlick“ unkorrekt wiederge-gebenen ehema-ligen militärischen Funktionen gar nie erwähnt habe und der Vorfall zudem nicht in der Kirche, sondern in einem Büro der Kirchgemeinde stattgefunden habe.

3. Diese Rügen sind aus Sicht des Presserates schon deshalb nicht gerechtfer-tigt, weil bereits aus der SDA-Meldung vom 14. Dezember 1996 hervorgeht, dass der Vorfall in einer Kirche stattfand, in der sich ein Schüt-ze verschanzt habe. Gemäss der Praxis des Presserates (vgl. SAIH c. „Rheintalische Volkszeitung“/“Rheintaler“, Sammlung der Stellungnahmen 1992, 32ff.) kann einer Redaktion keine Verletzung der berufsethischen Pflicht zur Überprüfung der Quellen vorgeworfen werden, wenn sie Meldungen von Nachrichtenagenturen übernimmt, ohne deren Richtigkeit selber nachzurecherchieren. Hinsichtlich der Verwen-dung der Begriffe „Amoklauf“ (laut Duden, Deutsches Universal-wörterbuch ein krankhaft verwirrt Umherlaufender), „Amokschütze“(laut der-selben Quelle ein mit der Waffe blindwütig schiessender Amokläufer) und „Killerkommando“ ist dem Beschwerdeführer zwar zuzugestehen, dass sie den Inhalt der SDA-Meldung bzw. den von den Parteien dargelegten Sachverhalt nicht ganz entsprechen. Doch kann keine Rede davon sein, dass der Anspruch des Publikums auf Kenntnis von Tatsachen und Meinungen wegen der Ver-wendung dieser etwas reisserischen Ausdrücke verletzt worden wäre.

Hinsichtlich der Erwähnung der ehemaligen militärischen Funktionen und deren korrekten Wiedergabe stellt der Presserat fest, dass sich die Behauptungen der Partei diametral widersprechen und dementsprechend mangels klarer Indizien grundsätzlich von der Version der Beschwerdegegnerin auszugehen ist. Zudem steht unbestrittenermassen fest, dass sich X. selber beim „SonntagsBlick“ gemeldet hat. Und selbst wenn die militärische Funktion von X. nicht korrekt wiedergegeben worden sein sollte, war es jedenfalls der Redaktion des „SonntagsBlick“ am Samstag Abend gegen Mitternacht nicht zumutbar, sich bei der zuständigen Behörde über die Korrektheit dieser Bezeichnung rückzuver-sichern.

4. Ziff. 3 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ auferlegt diesen die berufsethische Pflicht, weder Tatsachen, Do-kumente und Bilder noch von andern geäusserte Meinungen zu unterschlagen.

5. Hinsichtlich einer Verletzung von Ziff. 3 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ rügt der Beschwerdeführer, „SonntagsBlick“ habe unterschlagen, dass er vor der Abgabe der Schüsse sechs Mal auf den Notruf 117 angerufen habe und die Gespräche alle von Polizeiseite abgebrochen worden seien.

6. Auch diese Rüge erweist sich als unbegründet, wird doch im Bericht des „SonntagsBlick“ vom 15. Dezember 1997 darauf hingewiesen, dass X. die „SonntagsBlick“-Redaktion anrief, weil er gemäss eigenen Angaben von der Polizei nicht ernst genommen worden sei und nun via „SonntagsBlick“ mit ihr Kontakt aufnehmen wollte. Dass X. den Kontakt mit dem „SonntagsBlick“ von sich aus suchte, hat er in seiner Be-schwerde nicht bestritten.

7. Gemäss Ziff. 7 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ haben Medienschaffende die Privatsphäre des Einzelnen zu respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt.

8. Die Frage einer allfälligen Verletzung von Ziff. 7 der „Erklärung“ stellt sich hinsichtlich einer Identifizierbarkeit von X. durch die Berichterstattung des „SonntagsBlick“. Diesbezüglich macht der „SonntagsBlick“ zu Recht geltend, X. in seiner Berichterstattung nie namentlich genannt zu haben. Dessen unge-achtet war X. jedoch für einen beschränkten Teil des Publikums durch die An-gabe des Herkunftskantons sowie seiner ehemaligen beruflichen und militärischen Funktionen erkennbar.

9. Nach der Praxis des Presserates ist eine Verletzung der berufsethischen Pflicht zur Respektierung der Privatsphäre vorbehältlich eines öffentlichen Interesses auch dann zu bejahen, wenn zwar der Name nicht genannt, die Identi-fikation des Betroffenen aber sonstwie möglich ist (Stellungnahme vom 7. November 1994 i.S. Namensnennung bei der Gerichtsberichterstattung, Sammlung 1994, 67ff.). Ungeachtet der Verwerflichkeit einer Tat haben auch ein mutmasslicher Täter und seine indirekt betroffenen Angehörigen ein Recht auf Wahrung ihrer Privatsphäre. Medienschaffende sind in jedem Fall verpflich-tet, selber zu überprü-fen, ob eine Namensnennung gerechtfertigt ist (Stellungnahme vom 7. November 1994 i.S. Namensnennung bei Berichter-stattung über schwere Verbrechen, Sammlung der Stellungnahmen 1994, 76ff.) Die Identität des Betroffenen darf nur dann zugänglich gemacht werden, wenn dies durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt ist.

10. Grundsätzlich hatte X. also ungeachtet seines Verhaltens ein Recht auf Wahrung seiner Privatsphäre. Unter dem Gesichtspunkt der Information des Publikums fällt jedoch ins Gewicht, dass X. bis vor kurzem für die Öffent-lichkeit gewichtige Funktionen innehatte. Es besteht durchaus ein Interesse der Öffentlichkeit, davon Kenntnis zu nehmen, wenn ein Träger wichtiger gesell-schaftlicher Funktionen eine Verzweiflungstat begeht. Dementsprechend war es mit Ziff. 7 der „Erklärung“ vereinbar, die ehemaligen beruflichen und militäri-schen Funktionen von X. zu nennen. Immerhin hat der „SonntagsBlick“ dem Interesse von X. auf Wahrung der Privatsphäre dadurch Rechnung getragen, dass auf eine Namensnennung verzichtet wurde.

III. Feststellungen

1. Mit seiner Berichterstattung über X. hat der „SonntagsBlick“ weder Ziff. 1 noch Ziff. 3 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ verletzt.

2. Die Öffentlichkeit hat ein Interesse, davon Kenntnis zu nehmen, wenn Träger wichtiger gesellschaftlicher Funktionen Verzweiflungstaten ausüben. Doch ist auch bei Nennung von Beruf, Funktion usw. darauf Rücksicht zu nehmen, dass die Privatsphäre der Betroffenen soweit als möglich gewahrt wird.