Nr. 2/1997
Recht der Öffentlichkeit auf Wahrheit

(Bino c . Stamm), vom 4. März 1997

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Stellungnahme

Es bestand ein öffentliches Interesse an Informationen über die Schulden des Theaterproduzenten Eynar Grabowsky, der eine Person des öffentlichen Lebens war. Hugo Stamm vom „Tages-Anzeiger“, der in der Sache recherchierte und auf einer späteren Veröffentlichung seiner Rechercheergebnisse beharrte, nicht ohne aber Grabowsky ausführlich Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, ver-letzte daher die „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ nicht. Vielmehr bestand ein Recht der Öffentlichkeit, die Wahr-heit zu erfahren (Ziff. 1 der „Erklärung“).

Prise de position

Il existait un intérêt public à l’information concernant les dettes du producteur de théâtre Eynar Grabowsky, qui était une personnalité publique. Hugo Stamm du „Tages-Anzeiger“ a procédé à une enquête dans cette affaire. Il tenait à publier ulterierurment les résultats de ses recherches, non sans avoir donné à Grabowsky la possibilité de prendre position de manière circonstanciée. Il n’a par conséquent pas enfreint la „Déclaration des devoirs et des droits du / de la journaliste“. Au contraire, il existait un droit pour le public de connaître la vérité (chiffre 1 de la „déclaration“).

Presa di posizione

Eynar Grabowsky, in quanto produttore teatrale, era una persona pubblica: sapere che era indebitato era perciò di pubblico interesse. Hugo Stamm, del „Tages-Anzeiger“, che ha condotto un’inchiesta sul caso e insisteva per tornare sull’argomento con nuovi dati, non senza aver offerto a Grabowsky la possibilità di far valere le proprie ragioni in modo esteso, non ha violato la Dichiarazione dei doveri e dei diritti del giornalista. Il diritto del pubblico a conoscere la verità (p. 1 della Dichiarazione) prevale.

I. Sachverhalt

A. Der Theaterproduzent Eynar Grabowsky, der grosse Schulden hatte, erhielt am 14. Dezember 1995 einen Anruf von Hugo Stamm, Redaktor beim „Tages-Anzeiger“, der ihn mit Rechercheergebnissen zu seiner finanziellen Lage konfrontierte. Grabowsky bat Stamm, nichts zu publizieren, willigte aber schliesslich ein, sich mit dem Journalisten am folgenden Tag auf der Redaktion zu einem Interview zu treffen. Am 15. Dezember erschien Grabowsky indessen nicht zum Interview, sondern warf sich bei Moutier vor einen fahrenden Zug.

B. In der Folge stellten verschiedene Freunde Eynar Grabowskys, so Peter Leopold, Verwaltungratspräsident der Basler „Scala Theater AG“, Angelika Meier, Geschäftsführerin der Bernhard-Theater AG und Grabowskys Bruder Vincent, einen Zusammenhang zwischen Stamms Recherchen und dem Suizid Grabowskys her. Hugo Stamm habe Grabowskys Tod verschuldet, hiess es mehrfach ( TV „Züri 1″, 18.12. 1995, „Blick“, 19.12.1995, NZZ, 19.12. 1995, „Neues Bülacher Tagblatt“ 6.1.1996).

C. Anita Bino (Brüttisellen) wandte sich danach an den Presserat mit der Bitte, die Vorwürfe gegen Hugo Stamm abzuklären. Sie argumentierte, Stamm hätte die moralische Verpflichtung gehabt, auf den Gemütszustand Grabowskys Rücksicht zu nehmen und den geplanten Artikel fallenzulassen. Sinngemäss angesprochen ist Ziff. 7 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“: Die Journalistinnen und Journalisten „respektieren die Privatsphäre des einzelnen, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Sie unterlassen anonyme und sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen.“ Der Presserat trat auf die Beschwerde ein und wies sie seiner 1. Kammer zu, der Roger Blum als Präsident und Sylvie Arsever, Piergiorgio Baroni, Sandra Baumeler, Klaus Mannhart und Enrico Morresi als Mitglieder angehören.

II. Erwägungen

1. Grabowsky war eine Person des öffentlichen Lebens. Da er Theaterbetriebe leitete und Musical-Produktionen inszenierte, also öffentliche Veranstaltungen managte, war auch sein Geschäftsgebaren keine reine Privatsache. Wenn er vom Kanton Basel-Stadt betrieben wurde und wenn Gläubiger Summen einforderten, die zusammen mehrere Millionen betrugen, so hatte zumindest das Theaterpublikum ein Anrecht darauf zu wissen, was los war. Journalistische Recherchen in dieser Sache waren daher legitim.

2. Von anonymen oder sachlich nicht gerechtfertigten Anschuldigungen kann keine Rede sein: Hugo Stamm konfrontierte Grabwosky mit seinen Rechercheergebnissen und gab ihm die Möglichkeit zur Stellungnahme, ja willigte sogar in ein eigentliches Interview ein, in dem Grabowsky seine Sicht hätte darlegen können. Das Prinzip des „audiatur et altera pars“ war eingehalten.

3. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob eine Ethik des Unterlassens gefordert wäre und ob Medien nicht schweigen müssten, wenn die Gefahr besteht, dass ihre Berichterstattung schlimme Folgen hat. Eine solche wirkungsorientierte Verantwortungsethik könnte aber fatal sein, denn sie verbietet letztlich jede Kritik an öffentlichen Personen. Hätte die Ethik des Unterlassens kategorisch gegolten, so wäre die Enthüllung des Watergate-Skandals ebenso wenig zulässig gewesen wie die Aufdeckung der Libanon-Connection, die Barschel-Affäre hätte ebenso verborgen bleiben müssen wie die Machenschaften Andreottis, immer mit dem Hinweis darauf, dass sich die Betroffenen ein Leid antun könnten oder dass sie womöglich der Schlag trifft. Die Pressefreiheit lebt aber gerade von Kritik und Kontrolle, und wenn Medien nicht „Wachhunde“ sind, die bellen, wenn etwas nicht in Ordnung ist, dann kehren wir zurück zu einem System, in dem die Medienschaffenden Lakaien der Mächtigen und Herrschenden sind. Die Ethik des Unterlassens ist dann am Platz, wenn Medien Gefahr laufen, aus reiner Geschäftssucht im Schmutz zu wühlen und aus reiner Lust- und Neugierdebefriedigung durch Schlüssellöcher zu blicken. Im konkreten Fall drohte diese Gefahr nicht.

4. Die journalistische Sorgfaltspflicht verlangt, dass in einem Konflikt die Betroffenen zu Wort kommen und dass die Positionen fair beschrieben werden. Die Rücksicht auf besondere Wünsche der Betroffenen tritt aber auf jedem Fall zurück vor dem Recht der Öffentlichkeit, die Wahrheit zu erfahren (Ziff. 1 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“). Dieses Recht gilt dann, wenn das Thema von öffentlicher Relevanz ist. Das Thema der Schulden Grabowskys war von öffentlicher Relevanz. Hugo Stamm hat daher korrekt gehandelt, als er einem Aufschub seines Artikels zustimmte und Eynar Grabowsky die Möglichkeit zur ausführlichen Stellungnahme gab, aber auf späteren Publikation der Geschichte beharrte. Umgekehrt wäre es möglich, das Verhalten anderer Medien kritisch zur Diskussion zu stellen, die nicht gleichermassen sorgfältig verfuhren, als Hugo Stamm selber zum Betroffenen wurde: Weder die „Neue Zürcher Zeitung“, noch das „Neue Bülacher Tagblatt“ befragten den zum Schuldigen gestempelten Hugo Stamm. Dies aber ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.

5. Wenn Hugo Stamm im Kreuzfeuer der Kritik steht, so ist stets zu beachten, dass er als Sekten-Spezialist regelmässig angegriffen wird – vor allem von Mitgliedern der Scientology Kirche. Die Medienschaffenden sind daher aufgefordert, Vorwürfe an die Adresse von Personen wie Hugo Stamm besonders sorgfältig zu prüfen, bevor sie übernommen und kolportiert werden.

III. Feststellungen

1. Es bestand ein öffentliches Interesse an Informationen über die Schulden des Theaterproduzenten Eynar Grabowsky, der eine Person des öffentlichen Lebens war. Hugo Stamm vom „Tages-Anzeiger“, der in der Sache recherchierte und auf einer späteren Veröffentlichung seiner Rechercheergebnisse beharrte, nicht ohne Grabowsky ausführlich Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, verletzte daher die „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ nicht.

2. Viel
mehr bestand ein Recht der Öffentlichkeit, die Wahrheit zu erfahren (Ziff. 1 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“).