Nr. 1/1997
Veröffentlichung vertraulicher Informationen

(Jagmetti / 'SonntagsZeitung'), vom 4. März 1997

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Stellungnahme

Die „SonntagsZeitung“ hat durch eine verkürzte Darstellung und ungenügende Einordnung des Strategiepapiers die Ansichten Jagmettis auf unverantwortliche Weise dramatisiert und skandalisiert. Sie hat damit die „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ verletzt, indem sie wichtige Elemente der Information unterschlagen hat (Ziff. 3 der Pflichten).

Massenmedien sollten immer dann Öffentlichkeit herstellen, wenn ein öffentliches Interesse an Aufklärung besteht, unabhängig davon, ob die Quelle zugänglich oder vertraulich ist. Bei der Veröffentlichung vertraulicher Informationen ist eine sorgfältige Güterabwägung nötig, bei der auch überprüft werden muss, ob schutzwürdige Interessen verletzt werden. Interne diplomatische Lageberichte sind mit Recht vertraulich, aber nicht in jedem Fall äusserst schutzwürdig. Die Kritik- und Kontrollfunktion der Medien schliesst auch die Aussenpolitik mit ein.

Prise de position

Par la présentation tronquée et le classement insuffisant du rapport stratégique la „SonntagsZeitung““ a, d’une manière irresponsable, rendu l’opinion de Jagmetti dramatique et scandaleuse. De ce fait, elle a violé la „Déclaration des devoirs et des droits du / de la journaliste““ en omettant des éléments essentiels d’information (chiffre 3 des devoirs). Mais la publication elle-même était légitime.

Les médias devraient toujours rendre publiques les informations qui présentent un intérêt public, que leur source soit officielle ou confidentielle. Avant toute publication d’information confidentielle, il convient de procéder à une soigneuse pesée des intérêts et d’évaluer notamment si des intérêts dignes de protection pourraient être atteints. La confidentialité des rapports diplomatiques internes est justifiée, mais elle ne saurait être protégée à n’importe quel prix. La fonction de critique et de contrôle des médias s’applique également au domaine de la politique étrangère.

Presa di posizione

Pubblicando in modo incompleto un rapporto diplomatico di importanza strategica e contestualizzandolo in modo insufficiente, la „SonntagsZeitung““ ha irresponsabilmente drammatizzato e reso scandalistica l’opinione di Jagmetti. Omettendo importanti elementi di informazione (p.7), ha violato la Dichiarazione dei doveri e dei diritti del giornalista.

Gli organi d’informazione dovrebbero render pubblica ogni informazione di interesse pubblico, sia pubblica o confidenziale la fonte da cui la ottengono. Prima di pubblicare un’informazione confidenziale è opportuno mettere a confronto i valori in gioco, in particolare valutando se potrebbe compromettere interessi degni di protezione. La riservatezza dei rapporti diplomatici è legittima; non tuttavia in ogni caso. La funzione di critica e di controllo degli organi d’informazione concerne anche la politica estera.

I. Sachverhalt

A. A. Am 26. Januar 1997 zitierte die „SonntagsZeitung“ unter dem Titel „Botschafter Jagmetti beleidigt die Juden“/ „Geheimpapier: ‚Man kann dem Gegner nicht vertrauen'“ aus einem vertraulichen Strategiepapier, das der Schweizer Botschafter in Washington, Carlo Jagmetti, am 19. Dezember 1996 an Botschafter Thomas Borer, Leiter der Task Force im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA), und an andere Adressaten geschickt hatte. Während diplomatische Lageberichte in jedem Fall an die zuständigen Stellen im EDA, an die Mitglieder des Bundesrates, an den Bundeskanzler und an die beiden Vizekanzler gehen, bediente Botschafter Jagmetti mit seinem Bericht auch Staatssekretär Franz Blankart vom Bundesamt für Aussenwirtschaft sowie die Schweizer Vertretungen in London, Paris, Bonn, Tel Aviv und New York.

Jagmetti analysierte in dem Bericht die Lage der Schweiz angesichts der Forderungen jüdischer Organisationen gegenüber dem Bund und den Banken im Zusammenhang mit den Holocaust-Geldern. Das Papier war der „SonntagsZeitung“ zugespielt worden. Mit der Enthüllung wollte die Zeitung zeigen, dass Jagmetti wegen seiner aggressiven Wortwahl, wegen seiner Rede vom „Krieg, den die Schweiz an der Aussen- und Innenfront führen und gewinnen muss“ und wegen seines Vorschlags, die jüdischen Kreise mit einem Deal „per saldo aller Ansprüche“ zu entschädigen, damit Ruhe einkehre, als Botschafter „nicht mehr tragbar“ sei (so Chefredaktor Ueli Haldimann im Kommentar). Sie zitierte Martin Rosenfeld, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, der die Äusserungen Jagmettis als „schockierend und zutiefst beleidigend“ empfand.

B. Während die „SonntagsZeitung“ nur wenige Sätze aus dem vertraulichen Strategiepapier öffentlich gemacht hatte, publizierte der „Tages-Anzeiger“ das Papier am folgenden Tag (27. Januar 1997) fast in extenso und kommentierte, Jagmettis Denken zeige, „dass viele Beamte und Politiker nur eine Krise managen wollen; dass die Schuld, welche sich Schweizer während der Zeit des Nazi-Regimes aufgeladen haben, für sie sekundär ist“ (Artur K. Vogel). Nachzulesen war der fast vollständige Wortlaut des Jagmetti-Papiers wiederum einen Tag später auch im „Le Nouveau Quotidien“ (28. Januar 1997), übersetzt nach der Vorlage des „Tages-Anzeigers“ (mit den gleichen Kürzungen). Andere Medien hingegen verurteilten die Enthüllung scharf. So schrieb die „Neue Zürcher Zeitung“ von einem „Fall ‚Sonntags-Zeitung’„ und fand, es könne nicht „Sache einer verantwortungsbewussten Presse sein, in einer überaus heiklen Angelegenheit die Interessen des Landes den eigenen, kommerziellen zu opfern“ (Max Frenkel). Es handle sich um einen „aus dem Hinterhalt geführten Dolchstoss gegen Jagmetti“ (Raul Lautenschütz) bzw. die „SonntagsZeitung“ habe sich „bewusst für die Brandstiftung entschieden“ (Kenneth Angst). Der „Bund“ schrieb von „landesschädigenden Indiskretionen“ (Richard Aschinger). Über ausländische Nachrichtenagenturen wurde der Inhalt des Papiers sehr verkürzt und verzerrt auch in Amerika publik.Dies wiederum war die Grundlage für die Reaktion des amerikanischen Staatsdepartementes.

C. Botschafter Carlo Jagmetti sah sich nach der Indiskretion nicht mehr in der Lage, seine Aufgabe als diplomatischer Vertreter der Schweiz in den Vereinigten Staaten von Amerika wahrzunehmen, und erklärte noch am Montag (27. Januar 1997) seinen Rücktritt. Denn Jagmetti war gerade in den USA nach der Veröffentlichung heftiger Kritik ausgesetzt, in die nicht nur Senator Alfonso d’Amato und die jüdischen Organisationen, sondern auch das amerikanische Aussenministerium einstimmten. Er zeigte sich über die Vorgänge erschüttert und bedauerte, dass seine Wortwahl als antisemitisch empfunden wurde und dass er die Empfindungen jüdischer Kreise verletzt hatte. Bundesrat Flavio Cotti, der sich vom Strategiepapier Jagmettis nicht distanzierte, aber gewisse Formulierungen als nicht im Einklang mit den Absichten des Bundesrates bezeichnete, geisselte vor allem die Indiskretion und stellte eine Strafuntersuchung in Aussicht.

D. Am 29. Januar 1997 beauftragte der Bundesrat die Bundesanwaltschaft, eine Strafuntersuchung einzuleiten, die sich laut Vizekanzler Achille Casanova nicht gegen Medienschaffende, sondern nur gegen die Person richte, die eine „unentschuldbare, sehr schwerwiegende Indiskretion“ begangen habe. Gleichzeitig verabschiedete der Bundesrat eine Erklärung, in der er ausführte, er achte die Pressefreiheit zu hoch, als dass er sich ein Urteil erlaube über den Entscheid der „SonntagsZeitung“, gewisse Passagen des internen Berichts Jagmettis zu veröffentlichen, wie auch über den Beschluss des „Tages-Anzeigers“, den Bericht fast vollständig zu publizieren. „Diese Ereignisse“, so fuhr der Bundesrat fort, „werfen die grundsätzliche Frage der Eigenverantwortung der Medien auf.
Diese Frage sollte von den Medienschaffenden selber und ihren Organisationen eingehend überdacht werden. Der Bundesrat ersucht darum den Presserat SVJ, den Fall zu prüfen und, wenn nötig, die sich aufdrängenden Schlussfolgerungen in bezug auf die Anwendung des Ehrenkodexes dieser Standesorganisation zu ziehen“. Die Einladung erreichte den Presserat mit einem Brief von Bundeskanzler François Couchepin.

E. Der Presserat griff den Fall auf und übertrug ihn der 1. Kammer, der Roger Blum als Präsident und Sylvie Arsever, Piergiorgio Baroni, Sandra Baumeler, Klaus Mannhart und Enrico Morresi als Mitglieder angehören. Diese führte ein Hearing durch, an dem Ueli Haldimann, Chefredaktor der „SonntagsZeitung“, Dr. Max Frenkel, Inlandredaktor, und Dr. Kenneth Angst, stellvertretender Chefredaktor der „Neuen Zürcher Zeitung“ und Dr. Peter Studer, Chefredaktor des Schweizer Fernsehens DRS, befragt wurden. Sie holte ferner weitere schriftliche – so bei Roger de Weck, Chefredaktor des „Tages-Anzeigers“ – und mündliche Stellungnahmen ein. Am 4. März 1997 verabschiedete das Plenum des Presserates die Stellungnahme.

II. Erwägungen

1. Der Presserat hat kein politisches Urteil zu fällen. Es ist nicht seine Aufgabe, den gegenwärtigen Diskurs über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und über die heutige Verantwortung des Landes im Zusammenhang mit den Holocaust-Geldern und den damals zurückgewiesenen jüdischen Flüchtlingen zu bewerten. Es ist auch nicht seine Aufgabe, die Rolle, die die einzelnen Medien in diesem Diskurs übernehmen, zu kommentieren. Aufgabe des Presserates ist einzig und allein, sich dazu zu äussern, ob die Journalistinnen und Journalisten dieses Landes die berufsethischen Regeln einhalten. Seine Richtschnur ist ausschliesslich die „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ .

2. Im Zusammenhang mit der Veröffentlichung vertraulicher Informationen sind folgende Bestimmungen der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ relevant:

a) „Die Verantwortlichkeit der Journalistinnen und Journalisten gegenüber der Öffentlichkeit hat den Vorrang vor jeder andern, insbesondere vor ihrer Verantwortlichkeit (…) gegenüber staatlichen Organen“ (Präambel).

b) Die Journalistinnen und Journalisten „haben freien Zugang zu allen Informationsquellen und die Freiheit zur unbehinderten Ermittlung aller Tatsachen, die von öffentlichem Interesse sind; die Geheimhaltung öffentlicher oder privater Angelegenheiten kann dabei den Journalistinnen und Journalisten gegenüber nur in Ausnahmefällen und nur mit klarer Darlegung der Gründe geltend gemacht werden“ (Lit. a der Rechte).

c) Die Journalistinnen und Journalisten „veröffentlichen nur Informationen, Dokumente und Bilder, deren Quelle ihnen bekannt sind. Sie unterschlagen keine wichtigen Elemente von Informationen und entstellen weder Tatsachen, Dokumente und Bilder noch von andern geäusserte Meinungen. Sie bezeichnen unbestätigte Meldungen und Bildmontagen ausdrücklich als solche. Sie halten sich an zumutbare Sperrfristen“ (Ziff. 3 der Pflichten).

d) „Sie bedienen sich bei der Beschaffung von Informationen, Dokumenten und Bildern keiner unlauteren Methoden“ (Ziff. 4 der Pflichten).

e) „Sie wahren das Berufsgeheimnis und geben die Quellen vertraulicher Informationen nicht preis“ (Ziff. 6 der Pflichten).

f) „Sie nehmen weder Vorteile noch Versrpechungen an, die geeignet sind, ihre berufliche Unabhängigkeit und die Äusserung ihrer persönlichen Meinung einzuschränken“ (Ziff. 8 der Pflichten).

3. Die Pressefreiheit ist ein zu wichtiges Grundrecht, als dass sie a priori hinter die Interessen des Staates zurücktreten dürfte. Denn wenn der Staat im Interesse seiner Handlungsfähigkeit den Spielraum der Massenmedien beengt, dann wird das Hauptanliegen der Pressefreiheit – die Ermöglichung des freien öffentlichen Diskurses durch die Absenz jeglicher Zensur – unterlaufen. Thomas Jefferson sagte, wenn er wählen müsse zwischen einer Regierung ohne Presse und einer Presse ohne Regierung, dann würde er sich für die Presse ohne Regierung entscheiden, denn in einem demokratischen Staat brauche die Regierung die kritische Begleitung durch die Medien. Die Massenmedien übernehmen stellvertretend für das Volk, für den Souverän, eine Kritik- und Kontrollfunktion.

Diese Kritik- und Kontrollfunktion verlangt von den Massenmedien, dass sie immer dann Öffentlichkeit herstellen, wenn ein öffentliches Interesse an Aufklärung besteht. Dies gilt auch dann, wenn die Informationen vertraulich sind und die Quelle nicht genannt werden kann. Dabei hat die Verantwortung der Journalistinnen und Journalisten gegenüber der Öffentlichkeit Vorrang vor allem andern (Präambel der „Erklärung“). Das heisst: Die Medienschaffenden sind gehalten, verantwortungsbewusst zu handeln, auch insofern, als sie die Öffentlichkeit achten und sie nicht im Zwielicht des Halbwissens belassen.

Bei der Publikation vertraulicher Informationen und Dokumente müssen die Journalistinnen und Journalisten immer auch die Risiken beachten, die damit verbunden sind. Es ist ihre Pflicht, die Identität der Quelle und die Authenzität der Information oder des Dokumentes zu überprüfen (Ziff. 3 der Pflichten). Sie müssen auch darauf achten, dass sie ihre Unabhängigkeit bewahren und sich nicht instrumentalisieren lassen von privaten Interessen, die mit dem Anspruch der Öffentlichkeit auf Information in keinem zwingenden Zusammenhang stehen (Ziff. 8 der Pflichten). Die Problematik der Instrumentalisierung durch Informanten kann allerdings der Presserat nicht überprüfen, da er das Redaktionsgeheimnis achtet (Ziff. 6 der Pflichten)und deshalb die Identität der Informanten und ihre Motivationen nicht kennt.

Der Presserat hat sich bereits ausführlich zur Veröffentlichung vertraulicher Informationen geäussert (Parlamentarische Vorstösse Moser/Reimann; Stellungnahme Nr. 2/94 vom 24. Januar 1994, Sammlung 1994 S. 29-42). Damals hat er betont, dass sich die Medienschaffenden dabei an gewisse Regeln der Fairness und der Verhältnismässigkeit halten müssen. Er hat Kriterien aufgestellt, die erfüllt sein müssen, damit es ethisch gerechtfertigt ist, eine vertrauliche Information trotz Strafandrohung zu veröffentlichen:

a) Es muss sich um ein Thema von öffentlicher Relevanz handeln. Der Vorteil im publizistischen Wettbewerb genügt als Rechtfertigung nicht.

b) Es muss ein Grund dafür bestehen, dass das Thema jetzt und nicht erst viel später öffentlich wird.

c) Es muss gewährleistet sein, dass das Thema oder das Dokument für immer oder für längere Zeit als geheim oder vertraulich eingestuft ist und nicht bloss mit einer Sperrfrist von wenigen Tagen oder Stunden belegt ist. Wenn ein Medium eine Sperrfrist bricht, an die sich alle andern halten, so ist die Veröffentlichung ungerechtfertigt.

d) Es muss sich um eine Indiskretion handeln, zu der eine Gewährsperson aus freien Stücken Hand bietet. Wenn Bestechung, Erpressung, Installation von Wanzen, Einbruch oder Diebstahl im Spiel wären, gäbe es keine ethische Begründung für eine Veröffentlichung.

e) Es muss ausgeschlossen sein, dass mit der Veröffentlichung äusserst wichtige Interessen (wie schützenswerte Persönlichkeitsrechte, Geheimnisse der militärischen Landesverteidigung etc.) beeinträchtigt werden.

4. Die Veröffentlichung von Aussagen Botschafter Carlo Jagmettis durch die „SonntagsZeitung“ und den „Tages-Anzeiger“ (sowie den „Nouveau Quotidien“) ist deshalb im Lichte der bei der Publikation vertraulicher Dokumente relevanten Bestimmungen der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ und der vom Presserat aufgestellten Kriterien zu überprüfen. Dabei stellen sich folgende drei Fragen:

a) Gehören die diplomatischen Berichte zu den äusserst wichtigen schutzwürdigen Interessen? Werden ungeschminkte Lageberichte zuhanden der aussenpolitischen Zentrale unmöglich,
wenn die Gefahr besteht, dass sie veröffentlicht werden? Haben „SonntagsZeitung“ und „Tages-Anzeiger“ den aussenpolitischen Handlungsspielraum der Schweiz empfindlich eingeengt? Wurden wichtige Landesinteressen tangiert?

b) War die Tatsache, dass der Botschafter in Washington einen Bericht mit diesem Inhalt und mit dieser Wortwahl nach Bern schickte, derart relevant, dass darüber Öffentlichkeit hergestellt werden musste? War das Thema deshalb von öffentlicher Relevanz, weil es ein Licht auf unhaltbare Zustände warf und der Botschafter unter diesen Umständen nicht mehr tragbar war?

c) Erfolgte die Veröffentlichung in der dem Thema angemessenen Form? Wurde der Kontext hergestellt und fehlten keine wichtigen Elemente der Information?

5. Zuerst ist zu klären, ob diplomatische Berichte zu den äusserst wichtigen schutzwürdigen Interessen gehören. Die Bundesbehörden und jene, die ihre Sicht teilen, argumentieren, dass diese Berichte hochsensibel seien, ähnlich wie die Verhandlungen des Bundesrates und die ihnen vorausgehenden Mitberichte. Sie hätten einen grösseren Anspruch auf Schutz als beispielsweise Expertenberichte oder Protokolle parlamentarischer Kommissionen. Denn das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten und der Bundesrat könnten sich über die Verhältnisse überall auf der Welt nur ein genaues Bild machen, wenn die Botschafter mehr, andere und delikatere Informationen lieferten als die Medien. Diplomaten berichteten auch, was sie aus vertraulichen Quellen, background oder off the record erfahren. So müsse es beispielsweise möglich sein, dass sie sich ungeschminkt über Menschenrechtsverletzungen und politische Kräfteverhältnisse in Iran, über die Verstrickung von kolumbianischen Spitzenpolitiker in Drogengeschäfte oder über die wahren Machtverhältnisse und Intrigen im Kreml äussern. Werde ein solcher Bericht dennoch öffentlich bekannt, so mache sich ein Botschafter im Gastland fast automatisch unmöglich. Würden solche Berichte immer wieder veröffentlicht, so könnten die Botschafter nicht mehr über alles berichten, und die schweizerische Aussenpolitik würde beeinträchtigt, wenn nicht sogar teilweise lahmgelegt. Und wenn alles öffentlich sei, könnte die Schweiz ihre Botschafter zurückziehen und durch die Medien ersetzen. Die Kritik- und Kontrollfunktion der Massenmedien müsse immer gekoppelt sein mit Verantwortungsbewusstsein, und gerade auf dem Feld der Aussenpolitik sei der Anspruch an das Verantwortungsbewusstsein der Medienschaffenden besonders hoch. Denn Berichte über Aussenpolitik würden auch im Ausland beachtet. Allein schon dadurch seien sie sensibler als Berichte über innenpolitische Sachverhalte.

Demgegenüber argumentieren Medienvertreter, dass sich die Kritik- und Kontrollfunktion der Medien in der Aussenpolitik nicht wesentlich von der Kritik- und Kontrollfunktion in anderen Themenbereichen unterscheide. Gerade wenn Aussenpolitik im Spiel sei, werde immer sehr rasch das nationale Interesse beschworen. Das sei in der Schweiz bei der Schliessung der Agentur Novosti oder bei den enthüllten Mängeln des Panzers 68 der Fall gewesen, in den USA bei Watergate oder bei den Pentagon Papers. Die schweizerische Aussenpolitik sei aber kein Naturreservat. Wenn sich die Medien nämlich an die Wünsche der Regierung hielten, dann sei man nicht weit entfernt von der faktischen Gesinnungsneutralität zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Auf allen Gebieten, auch auf dem der Aussenpolitik, kämen Reformprozesse oft nur in Gang, wenn der Vertraulichkeitsmantel durchlöchert werde.

Der Presserat anerkennt die Wichtigkeit des Vertraulichkeitsprinzips für den diplomatischen Verkehr. Diese Prinzip haben die schweizerischen Massenmedien bisher grundsätzlich respektiert. Es war nicht ihr Bestreben, die umfassende Öffentlichkeit der Diplomatie herzustellen. Enthüllungen auf dem Feld der Aussenpolitik waren in der Schweiz bisher die Ausnahme. Die Medienschaffenden sind sich offensichtlich bewusst, dass gerade dort die Kritik- und Kontrollfunktion mit Verantwortung verbunden ist. Umgekehrt darf nicht ausser acht gelassen werden, dass in anderen Staaten Enthüllungen durch Massenmedien auf dem Gebiet der Aussenpolitik gang und gäbe sind, vor allem in den USA, aber auch in Grossbritannien oder in Israel. Andere Regierungen und Diplomaten leben offenbar längst mit dem Risiko aussenpolitischer Enthüllungen, und sie wissen damit umzugehen. Ob sie es wollen oder nicht: Auch die schweizerischen Behörden werden lernen müssen, mit einer Situation umzugehen, in der die Aussenpolitik genau so wenig vor den Massenmedien abgeschirmt werden kann wie die Innenpolitik, und in der Enthüllungen nicht nur durch schweizerische, sondern auch durch ausländische Massenmedien jederzeit möglich sind. Eine Konzeption, die das öffentliche Interesse zu rigid der Vertraulichkeit unterordnet, ist weder realistisch noch gerechtfertigt, zumal diplomatische Berichte regelmässig an sehr viele Verwaltungsstellen verteilt werden.

Die Enthüllungen der „SonntagsZeitung“ und des „Tages-Anzeigers“ haben die schweizerische Aussenpolitik zweifellos in Verlegenheit und in Schwierigkeiten gebracht, aber den Spielraum nicht empfindlich eingeengt. Diplomatische Berichte sind mit Recht vertraulich, aber wenn die Kriterien für die Publikation vertraulicher Berichte erfüllt sind, hat die Pressefreiheit Vorrang (Vgl. Stellungnahme 2/94, Parlamentarische Vorstösse Moser/Reimann).

6. Nun gilt es abzuwägen, ob der Inhalt des Strategiepapiers von Botschafter Jagmetti von derartiger Relevanz war, dass ein öffentliches Interesse geltend gemacht werden konnte, und ob es darum gerechtfertigt war, ihn zu veröffentlichen. Für Ueli Haldimann, Chefredaktor der „SonntagsZeitung“, war das öffentliche Interesse dadurch gegeben, als es wichtig war zu zeigen, wie der Schweizer Botschafter in Washington über die komplexe Problematik der Holocaust-Gelder und der schweizerischen Vergangenheitsbewältigung denkt und was für ein agressives Vokabular er verwendet. Seine Zeitung publiziere auf Indiskretionen basierende Informationen nicht, wenn kein öffentliches Interesse vorliege. Zwar gebe es heute mehr Indiskretionen als früher, aber sie seien nicht grundsätzlich schädlich, und oft seien sie das letzte Mittel, um einen Schaden zu beheben. Auch Vertreter anderer Medien bejahen das öffentliche Interesse am Inhalt des Jagmetti-Papiers, da es eine wichtige Fussnote sei zur Affäre Delamuraz. Das Fernsehen oder der „Tages-Anzeiger“beispielsweise hätten daher ebenfalls über das Papier berichtet, wenn es ihnen zuerst zugespielt worden wäre.

Demgegenüber argumentieren Kritiker der Publikation des Jagmetti-Papiers, dass das öffentliche Interesse bei nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Informationen immer durch die Medien selbst definiert werde und dass dabei andere Güter wie Geheimhaltungsinteressen, Persönlichkeitsrechte, Landesinteressen, absehbare Folgewirkungen der Enthüllung sowie Motive und Interessen der Informanten miterwogen werden müssten. Im konkreten Fall habe kein höherwertiges öffentliches Interesse am Bericht Botschafter Jagmettis bestanden, da er vor der Publikation ein Nicht-Ereignis gewesen sei, bereits fünf Wochen alt war und nicht ohne Schaden für die schweizerischen Interessen habe publiziert werden können. Die „SonntagsZeitung“ habe daher der schweizerischen Aussenpolitik in voraussehbarer, gravierender und durch kein öffentliches Interesse legitimierter Art geschadet. Korrekt gewesen wäre nach dieser Argumentationslinie, den Jagmetti-Bericht als klassisches Hintergrundmaterial zu behandeln und ihn weder ganz noch teilweise zu publizieren.

Für den Presserat ging es zunächst darum, die Relevanz des Strategiepapier von Botschafter Carlo Jagmetti zu analysieren. Jagmetti nahm in dem Papier eine durchaus mögliche Analyse der Situation mit einigen konstruktiven Vorschlägen vor. Er entwickelte zwei „extreme“ Optionen, jene des „Deal“ und jene des „juristischen approach“. Durch das Papier zog sich das Grundanlieg
en der Wahrheitssuche, einer grosszügigen finanziellen Lösung, der Wahrung der Interessen der Schweiz und der guten Beziehungen zu den USA. Auffällig – und wohl für keine Leserinnen und Leser übersehbar – ist jedoch, dass Jagmetti eine sehr kriegerische Sprache führte und die Verhandlungspartner als Gegner betrachtet, denen man nicht trauen kann und die man allenfalls mit einem Deal befriedigen muss. Die Sprache verrät eine Mentalität, die auch in einem internen Papier problematisch ist, denn Mentalitäten bergen die Gefahr in sich, dass sie auch in Verhandlungen und bei informellen Kontakten zum Ausdruck kommen. Und Jagmetti hätte im Zusammenhang mit den Holocaust-Geldern im letzten halben Jahr seiner Tätigkeit wichtige Gespräche führen müssen.

Der Presserat ist sich bewusst, dass öffentliches Interesse an einer vertraulichen Information nicht wertfrei definiert werden kann, sondern abhängig ist vom ideologischen, kulturellen, ökonomischen und publizistischen Kontext eines Mediums. Im Fall des Strategiepapiers von Botschafter Carlo Jagmetti ist aber das öffentliche Interesse zu bejahen, weil die Debatte über die Holocaust-Gelder und über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg Ende 1996/Anfang 1997 intensiv und mit internationaler Dimension geführt wurde und weil der Schweizer Botschafter in Washington in den in diesem Zusammenhang zu führenden Gesprächen eine hervorragende Stellung einnimmt. Es ist daher nicht belanglos, sondern relevant, was gerade dieser Botschafter denkt und wie er seine Gedanken ausdrückt. Abgeleitet von diesem öffentlichen Interesse und der Relevanz der Aussagen des Botschafters lässt sich die Publikation dieses an sich vertraulichen Berichtes ethisch rechtfertigen. Denn nur durch die Publikation wurde deutlich, dass in den Köpfen der Zuständigen trotz Task Force noch immer keine Klarheit herrschte, welche Verantwortung die Schweiz trägt und was für Schritte sie einleiten müsste. Im Sinne der politischen Hygiene konnte die Publikation des vertraulichen Papiers, auch wenn seine Niederschrift mehr als ein Monat zurücklag und in der Zwischenzeit erste Ansätze zur Schaffung eines Holocaust-Fonds sichtbar wurden, der schweizerischen Regierung über die öffentliche Debatte einen weiteren Anstoss geben, Mängel zu beheben, Führungskraft zu zeigen und überzeugende Lösungen zu präsentieren.

7. Schliesslich ist zu klären, ob die Veröffentlichung in der angemessenen Form erfolgte. Nach der einen Sicht üben die Massenmedien Macht aus, indem sie nicht nur informieren, sondern mit der Art und Einbettung der Information dem Publikum auch suggerieren, wie die Information zu bewerten ist. Im konkreten Fall habe die „SonntagsZeitung“, so diese Optik, eine interne aussenpolitische Analyse so verkürzt und mit der Stellungnahme Dritter, denen das Original nicht vorgelegt worden sei, so aufbereitet, dass die Botschaft „Jagmetti beleidigt die Juden“ in den Köpfen des Publikums habe verankert werden können. Dadurch, dass die „SonntagsZeitung“ Jagmetti Antisemitismus unterstellt habe, habe sie unverantwortlichen Rufmord betrieben. Eine vollständige Wiedergabe des Textes hätte nicht den gleichen Druck auf Jagmetti ausgeübt und ihn nicht zum Rücktritt gezwungen. Erst die Art der Publikation habe Probleme und Turbulenzen geschaffen.

Nach der anderen Sicht war wesentlich, das Markante der Aussagen Jagmettis herauszuarbeiten. Dabei ging es nach Ansicht der „SonntagsZeitung“ keineswegs darum, Botschafter Jagmetti Antisemitismus zu unterstellen. Hinterher sei man allerdings auf der Redaktion der Meinung, es wäre klüger gewesen, den ganzen Text des Strategiepapiers zu veröffentlichen. Es sei am 25. Januar 1997 fast unmöglich gewesen, eine zusätzliche Zeitungsseite „freizuschaufeln“. Und die Absicht, den integralen Text aufs Internet zu laden, sei an technischen Problemen gescheitert.

Der Presserat betrachtet diese Argumente als Ausflüchte und schliesst sich der Kritik an der Form der Veröffentlichung an. Die „SonntagsZeitung“ hat zu wenig deutlich gemacht, dass Botschafter Jagmetti in seinem Strategiepapier verschiedene Optionen vorstellte und dass jene des „Deals“ nur eine Variante war. Sie hat den zeitlichen Kontext ungenügend hergestellt, zumal das Papier bereits fünf Wochen alt war und die Adressaten vor dem Interview des abtretenden Bundespräsidenten in „24heures“/“Tribune de Genève“ erreichte. Sie hat unnötig dramatisiert und skandalisiert und mit dem Titel „Botschafter Jagmetti beleidigt die Juden“ falsche Schlussfolgerungen suggeriert und so getan, als handle es sich um Äusserungen vom 25. Januar 1997. Es war inkorrekt zu behaupten, Jagmetti störe mit seinem Brief den im Januar in Gang gekommenen Prozess, zumal das Papier vorher verteilt worden und bisher nicht öfffentlich war, also die Gespräche mit den Partnern im In- und Ausland auch nicht stören konnte. Als die „SonntagsZeitung“ am Freitag, 24. Januar 1997, Botschafter Jagmetti für eine Stellungnahme zu erreichen suchte und dabei herausfand, dass es nicht möglich war, weil Jagmetti in Florida weilte, hätte intern die Frage gestellt werden müssen, ob es nicht klüger wäre, mit der Publikation eine Woche zuzuwarten, um Auszüge zusammen mit einem Interview mit Carlo Jagmetti zu veröffentlichen. Dass die Publikation trotzdem schon in der nächsten Ausgabe erfolgte, kann nur mit der Angst vor der Konkurrenz zu tun haben, und dies genügt als Rechtfertigung für die sofortige Publikation nicht. So, wie die „SonntagsZeitung“ das Strategiepapier präsentierte, unterschlug sie wichtige Elemente der Information und verletzte damit die „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ (Ziff. 3 der Pflichten).

Und der „Tages-Anzeiger“ sowie „Le Nouveau Quotidien“? Der „Tages-Anzeiger“ wetzte am Montag die Scharte der „SonntagsZeitung“ mit einer ziemlich ausführlichen Dokumentation des Strategiepapiers aus. Roger de Weck, Chefredaktor des „Tages-Anzeigers“, hielt dazu fest: „Nach Meinung der Chefredaktion des ‚Tages-Anzeigers‘ waren die Publikation und die Lektüre des Jagmetti-Berichts – zumal am Vortag eine andere Zeitung Auszüge gebracht hatte und verschiedene Kreise die Suspendierung unseres Botschafters in Washington forderten – eindeutig von öffentlichem Interesse. Carlo Jagmetti hat in seinem Rücktrittsschreiben festgehalten, nun könne sich ‚der Leser des gesamten Berichts ein klareres Bild machen’„. Allerdings war der Text auch im „Tages-Anzeiger“ an sieben Stellen gekürzt, wobei eine längere Kürzung eine Passage betraf, die laut Roger de Weck „durch die Entwicklung seit der Niederschrift des Jagmetti-Berichts gänzlich obsolet geworden war“. De Weck betonte, dass der Bericht im Vorspann und in weiteren Beiträgen differenzierend eingeordnet worden sei (Zeitpunkt und Umstände seines Entstehens, nuancierte Bewertung des Textes, Stärken und Schwächen des Autors). Im „Nouveau Quotidien“ war ein Tag später nichts anderes zu lesen als eine französische Übersetzung der Publikation im „Tages-Anzeiger“.

Der Presserat sieht keinen Anlass, „Tages-Anzeiger“ und „Le Nouveau Quotidien“ zu kritisieren. Denn durch die Veröffentlichung des praktisch vollständigen Strategiepapiers, das durch die Enthüllung der „SonntagsZeitung“ bereits skandalisiert war, haben „Tages-Anzeiger“ und „Le Nouveau Quotidien“ einerseits Mängel der schweizerischen Diplomatie offengelegt und diskutiert, anderseits aber eher Schaden wieder gutgemacht, indem sie die umstrittensten Sätze Jagmettis in den Zusammenhang stellten und relativierten. Sie haben die „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ nicht verletzt.

III. Feststellungen

1. Die Pressefreiheit ist ein zu wichtiges Grundrecht, als dass sie a priori hinter die Interessen des Staates zurücktreten dürfte. Die Kritik- und Kontrollfunktion verlangt von den Massenmedien, dass sie immer dann Öffentlichkeit herstellen, wenn ein öffentliches Interesse an Aufklärung besteht, unabhängig davon, ob
die Quelle zugänglich oder vertraulich ist.

2. Bei der Veröffentlichung vertraulicher Informationen ist eine sorgfältige Güterabwägung nötig, bei der auch überprüft werden muss, ob schutzwürdige Interessen verletzt werden.

3. Interne diplomatische Lageberichte sind mit Recht vertraulich, aber nicht in jedem Fall äusserst schutzwürdig. Die Kritik- und Kontrollfunktion der Massenmedien schliesst auch die Aussenpolitik mit ein, was zur Folge haben kann, dass Medienschaffende einen diplomatischen Bericht veröffentlichen, weil sie seinen Inhalt im öffentlichen Interesse für relevant halten.

4. Im Fall Jagmetti waren wegen der Bedeutung der öffentlichen Debatte über die Holocaust-Gelder, wegen der wichtigen Stellung des Schweizer Botschafters in Washington und wegen des Inhalts die öffentliche Relevanz und das öffentliche Interesse zu bejahen und die Publikation des Strategiepapiers zu rechtfertigen.

5. Die „SonntagsZeitung“ hat indessen durch die verkürzte Darstellung und die ungenügende zeitliche Einordnung des Strategiepapiers die Ansichten Jagmettis auf unverantwortliche Weise dramatisiert und skandalisiert. Sie hat damit die „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ verletzt, indem sie wichtige Elemente der Information unterschlagen hat (Ziff. 3 der Pflichten). Der „Tages-Anzeiger“ und der „Le Nouveau Quotidien“ hingegen haben, nachdem die Enthüllung einmal passiert war, durch die nahezu vollständige Veröffentlichung des Strategiepapiers die Dinge eher wieder ins richtige Licht gerückt.