I. Sachverhalt
A. Am 8. Januar 2005 veröffentlichte der «Tages-Anzeiger» einen von Verena Vonarburg gezeichneten Artikel mit dem Titel «Die Tamilen und der Zwang zur Spende». Bereits auf der Frontseite erschien unter dem Titel «Tamilen machen Schulden für Spenden» ein Hinweis auf den Bericht. Laut dem «Tages-Anzeiger» setzte die «von den Tamil Tigers kontrollierte Hilfsorganisation» – die Tamils Rehabilitation Organization – Schweizer Tamilen unter Druck, viel Geld für die Opfer des Tsunami zu spenden. Diese dringend benötigte Hilfe drohe «nicht wenige Emigranten finanziell zu überfordern». Gemäss einem anonymen Informanten «sei der grösste Teil der Tamilen in der Schweiz hoch verschuldet, manchmal mit Hunderttausenden von Franken. Viele Tamilen seien zudem «Alkoholiker». Gemäss dem gleichen Informanten habe «mehr als die Hälfte der tamilischen Männer in der Schweiz» ein «Alkoholproblem». Der Schluss des Artikels lautete: «In ihrer Heimat ist Alkohol verpönt, hier aber trinken die Männer, um zu vergessen. Und je mehr sie trinken, desto grösser werden ihre Schulden. Und ihre Isolation.»
B. Am 22. Februar 2005 gelangte die schweizerische Niederlassung der Tamils Rehabilitation Organization (nachfolgend: TRO) mit einer Beschwerde gegen den «Tages-Anzeiger» an den Presserat. Die Organisation beanstandete, die Zeitung habe mit der Veröffentlichung des Artikels von Verena Vonarburg die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht); 3 (Unterschlagung von wichtigen Informationen / Entstellung von Informationen) und 5 (Berichtigungspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt. Die TRO sei weder von den Tamil Tigers gegründet worden, noch werde sie weiterhin von diesen kontrolliert. Ebensowenig sammle die TRO für militärische Zwecke. Und schliesslich setze die TRO die Tamilen in der Schweiz entgegen dem «Tages-Anzeiger» nicht so stark unter Druck, dass sich diese zum Spenden gezwungen fühlten. Von Zwang könne hier deshalb nicht die Rede sein.
C. Am 1. April 2005 beantragte die durch den Rechtsdienst Tamedia vertretene Redaktion des «Tages-Anzeigers», die Beschwerde sei abzuweisen. Die Tatsachenbehauptung, wonach die TRO eine Art humanitärer Arm der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) bilde, sei durch eine lange Liste von Dokumenten – die dem Presserat als Beilage zugestellt wurden – bewiesen. Der «Tages-Anzeiger» habe zudem nicht behauptet, das von der TRO gesammelte Geld werde für Gewaltaktionen gebraucht, sondern lediglich auf die latente Gefahr eines Missbrauchs hingewiesen. Weiter habe die Redaktion mit dem Wort «Zwang» im Titel des Artikels nicht «Zwang» im Rechtssinne gemeint. Der «Tages-Anzeiger» habe weder geschrieben und auch nicht den Eindruck erweckt, die TRO habe sich beim Geldsammeln der Nötigung schuldig gemacht.
D. Am 1. Mai 2005 gelangten X. und Y. zusammen mit acht weiteren Mitunterzeichnenden mit einer Beschwerde gegen denselben Bericht des «Tages-Anzeigers» an den Presserat. Sie machten geltend, die Zeitung habe die Ziffern 3 (Entstellung von Tatsachen) und 8 (Diskriminierung) der «Erklärung» verletzt. Der Untertitel «Viele Tamilen sind Alkoholiker» und der Satz «Mehr als die Hälfte der tamilischen Männer in der Schweiz hat laut Anelingam ein Alkoholproblem; andere Tamilen stimmen dem zu» wirke diskriminierend. Zudem sei es äusserst problematisch, dass die Zeitung, die gegen eine Minderheit schwere Anschuldigungen erhebe, sich hinter anonymen Informanten verstecke und sich eine quantitative Einschätzung leiste, obwohl die Quellenlage eine solche gar nicht ermögliche.
E. Am 10. Mai 2005 teilte das Presseratspräsidium den Parteien mit, die beiden Beschwerden würden gemeinsam behandelt.
F. Am 16. Juni 2005 wies der Rechtsdienst der Zeitung auch die Beschwerde X., Y. & Co. als unbegründet zurück. Die Anonymisierung der Quellen sei notwendig gewesen, da die Informanten Repressalien der Tamil Tigers befürchtet hätten. Von rassistischer Diskriminierung könne nicht die Rede sein, weil rassistisch nur Äusserungen seien, «welche die Betroffenen wegen ihrer Rasse, Ethnie oder Religion heruntermachen». Das Alkoholproblem der Tamilen in der Schweiz würde im Artikel durch ihre Sorgen und Lebensumstände erklärt und nicht durch die Behauptung, sie seien minderwertig.
G. Das Präsidium des Presserates wies die Beschwerde zur Behandlung an die erste Kammer. Diese setzt sich aus Peter Studer (Kammerpräsident), Luisa Ghiringhelli Mazza, Pia Horlacher, Philip Kübler, Kathrin Lüthi, Edy Salmina und Francesca Snider zusammen. Die Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 15. Juli 2005 sowie auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. Es ist nicht Sache des Presserates zu prüfen, ob die TRO wie vom «Tages-Anzeiger» behauptet von den Tamil Tigers gegründet wurde und ob sie nach wie vor von der LTTE kontrolliert wird. Gemäss Ziffer 1 der «Erklärung» haben sich Journalisten an die Wahrheit zu halten. Wesentlicher Teil dieser Pflicht ist ein redliches Bemühen darum, behauptete Fakten auf ihren Wahrheitsgehalt abzuklären (Richtlinie 1.1 zur «Erklärung», Wahrheitssuche). Der «Tages-Anzeiger» stützt seine Tatsachendarstellung auf zahlreiche – teils von amtlichen Stellen stammenden – Urkunden und Medienberichten, die seine Einschätzungen teilen. Die Autorin hat zudem ebenso in der Schweiz lebende Tamilen wie die schweizerischen Behörden zu diesem Thema befragt. Vor allem aber geht im Sinne der Anhörung beider Seiten aus dem beanstandeten Bericht auch hervor, dass die TRO selber jeglichen Einfluss der Tamil Tigers auf ihre Organisation dementiert. Somit steht für die Leserschaft des «Tages-Anzeigers» letztlich Einschätzung gegen Einschätzung. Eine mangelnde Sorgfalt bei der Wahrheitssuche kann der Zeitung unter diesen Umständen jedenfalls nicht vorgeworfen werden, weshalb eine Verletzung von Ziffer 1 der «Erklärung» unter diesem Gesichtspunkt zu verneinen ist.
2. Eine Verletzung der Wahrheitspflicht ist ebenso bei der weiteren Rüge der TRO zu verneinen, der Artikel von Verena Vonarburg habe den falschen Eindruck erweckt, das von der Hilfsorganisation gesammelte Geld werde für militärische Zwecke missbraucht. Für den unvoreingenommenen Leser geht aus dem Bericht klar hervor, dass die TRO Geld für Soforthilfe an die Tsunamiopfer gesammelt hat. Ebenso ist ausgehend von den geltend gemachten Verflechtungen zwischen TRO und LTTE nachvollziehbar, dass die Autorin das Geldsammeln auf öffentlichen Plätzen wegen diesen Verflechtungen und nicht wegen eines behaupteten Missbrauchs für problematisch hält.
3. a) Zwischen den Parteien ist unbestritten, dass angesichts des Ausmasses und der Folgen der Flutkatastrophe vom Dezember 2005 ein gewisser moralischer Druck auf die Tamilen in der Schweiz (und anderswo) entstand, möglichst viel Geld an die Soforthilfe und für den Wiederaufbau zu spenden. Bei der Behauptung, die TRO habe jede tamilische Familie in der Schweiz besucht und unter Druck gesetzt, damit sie möglichst gleich viel oder mehr wie die Nachbarn geben würden, beruft sich der «Tages-Anzeiger» auf die Aussagen eines anonym bleibenden Informanten.
b) Dieser Informant spricht explizit von «moralischem Druck», während gemäss der Darstellung der TRO die Verwendung des Worts «Zwang» eindeutig auf eine Nötigung im strafrechtlichen Sinne hindeutet. Die Frontseite enthielt den Satz «der Druck sei sehr gross, sagen Kenner der Szene». Auch diese Wortwahl deutet eher auf moralischen Druck denn auf Nötigung hin. Problematischer erscheint hingegen der Titel des Hauptartikels «Die Tamilen und der Zwang zur Spende», verrät doch das Wort «Zwang» tendenziell, wenn auch nicht eindeutig, mehr als bloss gesellschaftlichen Druck. Dementsprechend könnte die Verwendung des Worts «Zwang» hier gegebenenfalls dann eine Verletzung der Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) und / oder 3 (Entstellung von Tatsachen) der «Erklärung» begründen, wenn der Titel für sich allein betrachtet selbsterklärend wäre. Dies ist nach Auffassung des Presserates jedoch zu verneinen. Weder führt die blosse Betrachtung des Titels bereits zum Schluss, die Tamilen in der Schweiz seien nach der Flutkatastrophe durch Androhung von physischer oder psychischer Gewalt zum Spenden genötigt worden, noch dass diese Nötigung von der TRO ausgegangen wäre. Bereits im Lead («Eine von den Tamil Tigers kontrollierte Hilfsorganisation setzt Schweizer Tamilen unter Druck, viel Geld für die Flutopfer zu spenden. Dabei sind die meisten seit Jahren hoch verschuldet») ist zudem nicht mehr von Zwang, sondern lediglich von Druck die Rede. Schliesslich wird der Name der Beschwerdeführerin erst im Lauftext genannt, aus dem differenzierter hervorgeht, dass die TRO die Spenden nicht mit Anwendung von Zwang im Rechtssinne, sondern bloss mit moralischem Druck eingetrieben hat. Im Ergebnis ist eine Verletzung der Ziffern 1 und 3 der «Erklärung» deshalb auch hier zu verneinen.
4. Ebenso weist der Presserat die weitere Rüge der TRO ab, welche die Berichtigungspflicht (Ziffer 5 der «Erklärung») verletzt sieht. Eine Pflicht zur Berichtigung besteht dann, wenn eine Redaktion sachlich unrichtige Fakten von einer gewissen Relevanz veröffentlicht hat. Dies wird von der Beschwerdeführerin zwar behauptet, ist für den Presserat aber entsprechend den Ausführungen oben in den Ziffern 1 bis 3 dieser Erwägungen weder bezüglich des Verhältnisses zwischen TRO und LTTE, noch der weiteren von der Beschwerdeführerin als falsch gerügten Aussagen des Artikels von Verena Vonarburg erstellt. Zusammenfassend ist die Beschwerde der TRO deshalb vollständig abzuweisen.
5. a) Zu prüfen bleibt, ob die in der zweiten Beschwerde von X. / Y. & Co. gegen den gleichen Medienbericht gerügten Aussagen über den Alkoholkonsum von Tamilen in der Schweiz als Verletzung der Ziffern 3 (Entstellung von Tatsachen) und / oder 8 (Diskriminierung) zu werten sind.
b) Ziffer 8 der «Erklärung» gebietet den Journalistinnen und Journalisten, auf diskriminierende Anspielungen zu verzichten. Daraus hat der Presserat abgeleitet, dass möglichst auf Verallgemeinerungen zu verzichten ist, die eine Nation, Ethnie, Religionsgemeinschaft usw. herabsetzen (Stellungnahme 10/2001). Eine diskriminierende Anspielung liegt insbesondere dann vor, wenn die Verallgemeinerung eines Verhaltens von Angehörigen einer schützenswerten Minderheit, als typisches Verhalten, als Wesensart dieser Gruppe dargestellt wird. Allerdings stellt nicht jede Bezugnahme auf die ethnische oder nationale Zugehörigkeit von Personen in der Medienberichterstattung bereits eine Verletzung von Ziffer 8 der «Erklärung» dar. Eine solche Bezugnahme ist nur dann diskriminierend, wenn sie mit einem erheblich verletzenden Unwerturteil verbunden ist (37/2004). Das Diskriminierungsverbot verbietet zudem nicht die individuelle Kritik an gesellschaftlichen Akteuren, sondern soll sachlich ungerechtfertigte Verallgemeinerungen verhindern (49/2001).
c) Sind der Zwischentitel «Viele Tamilen sind Alkoholiker» und die Aussage «Mehr als die Hälfte der tamilischen Männer in der Schweiz hat laut Anelingam ein Alkoholproblem» als diskriminierend in diesem Sinne zu werten? Der Presserat kommt zum Schluss, dass dies zu verneinen ist. Zwar bestand bei dieser Berichterstattung eine erhebliche Gefahr, dass die Leserschaft des «Tages-Anzeigers» künftig tamilische Männer in der Schweiz als potentielle Alkoholiker betrachten würde. Eine diskriminierende Anspielung liegt aber deshalb nicht vor, weil die Tamilen nicht aufgrund ihrer Ethnie zugeschriebenen «typischer» Eigenschaften herabgesetzt werden. Vielmehr geht aus dem Bericht klar hervor, dass die geltend gemachten Alkoholprobleme von der sozial nicht einfachen Situation der Tamilengemeinschaft herrühren.
d) Dennoch kommt der Presserat nicht umhin, im Zusammenhang mit den umstrittenen Aussagen über den behaupteten Alkoholmissbrauch der Tamilen in der Schweiz eine Verletzung einer berufsethischen Norm festzustellen. Aus dem Artikel wird bei genauer Analyse zwar ersichtlich, dass die heikle quantitative Aussage «Mehr als die Hälfte der tamilischen Männer in der Schweiz hat laut Anelingam ein Alkohlproblem» sich bloss auf einen anonymen Informanten sowie auf weitere eher vage Quellen («andere Tamilen stimmen dem zu») und nicht etwa auf wissenschaftliche Erhebungen stützt. Bei einem gerade im Zusammenhang mit einer ausländischen Minderheit in der Schweiz sensiblen Thema hätte sich die Redaktion aber nicht damit begnügen dürfen, eine für Dritte kaum überprüfbare und zudem nur schwach belegte quantitative Einschätzung wiederzugeben. Der «Tages-Anzeiger» räumt in seiner Stellungnahme zu diesem Punkt ein, nicht genau zu wissen, «wie gross das Alkoholproblem unter den Tamilen ist», weil es dazu keine quantitativen Erhebungen zu geben scheine. Diese Einsicht geht für die Leserinnen und Leser aus dem Artikel von Verena Vonarburg zu wenig differenziert hervor. Wer den Text liest, nimmt im Gegenteil mit grosser Wahrscheinlichkeit als zumindest im Artikel unbestrittene Hauptaussage wahr, jeder zweite tamilische Mann in der Schweiz habe ein Alkoholproblem. Diese quantitativ ungenügend belegte Einschätzung kommt – jedenfalls ausgehend von der dem Presserat bekannten Quellenlage – einer Entstellung von Tatsachen gleich, weshalb der «Tages-Anzeiger» hier die Ziffer 3 der «Erklärung» verletzt hat.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde der TRO wird abgewiesen.
2. Die Beschwerde von X. / Y. & Co. wird teilweise gutgeheissen.
3. Der «Tages-Anzeiger» hat mit der Veröffentlichung der ungenügend belegten quantitativen Angabe eines anonymen Informanten, wonach mehr als die Hälfte der Tamilen in der Schweiz ein Alkoholproblem habe, die Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.
4. Darüber hinausgehend wird auch die Beschwerde von X. und Y. und Co. abgewiesen.