Nr. 65/2011
Verweigerter Abdruck der «Replik» eines Referendumskomitees

(Verein freie Arztwahl c. «Tages-Anzeiger») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 30. Dezember 20

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I. Sachverhalt

A. Am 17. November 2011 veröffentlichten «Tages-Anzeiger» und «Der Bund» einen Bericht von Patrick Feuz über die Unterschriftensammlung der Ärztevereinigung FMH für das Referendum gegen die vom Parlament im Herbst 2011 verabschiedete Reform der Grundversicherung gemäss Krankenversicherungsgesetz – die sog. Managed Care-Vorlage (Titel «Tages-Anzeiger»: «Ärztelobby bekämpft Gesundheitsreform mit viel Geld» bzw. «Bund»: «Ärztelobby kämpft mit viel Geld gegen Gesundheitsreform»).

Um sicherzustellen, dass das Referendum zustande komme, zahle die «Ärztelobby» drei Komitees vier Franken pro beglaubigte Unterschrift. «Für den anschliessenden Abstimmungskampf will die FMH laut ihrem Chef weitere 1 bis 1,5 Millionen aufwenden.» Laut dem Kampagnespezialisten Mark Balsiger werfe die FMH damit eine «stolze Summe» auf. Die meisten Abstimmungskomitees müssten mit deutlich weniger als einer Million Franken auskommen. «Frustriert reagieren die Befürworter der Reform. CVP-Nationalrätin Ruth Humbel will gehört haben, dass die FMH sogar 2,5 Millionen Franken aufwende.» Demgegenüber habe das Pro-Lager kaum Geld. «Humbel ärgert sich auch über die ‹bewusst emotionalen› Argumente, die in unzulässiger Weise vor dem Ende der freien Arztwahl warnten. Wenigstens kann Gesundheitsminister Didier Burkhalter jetzt auf die Hilfe prominenter Hausärzte zählen. Die Delegierten der Hausärzte haben der Reform deutlich zugestimmt.»

Der «Tages-Anzeiger» setzte das Thema zudem bildlich mit einer Karikatur von Felix Schaad um, die einem Arzt folgende Aussage in den Mund legt: «Wir sammeln Unterschriften … weil wir uns Sorgen machen um die künftige Grundversorgung … unseres Bankkontos.»

Auf Seite 5 des «Tages-Anzeiger» respektive 7 des «Bund» der gleichen Ausgaben erschien zudem der Artikel mit dem Titel «Für das Referendum zahlen die Ärzte 4 Franken pro Unterschrift», der den Bericht der Titelseite ergänzt.

B. Daraufhin ersuchte Daniel Bracher, Gümligen, Präsident des Vereins freie Arztwahl, den Autor der beiden Berichte und Leiter der gemeinsamen Bundeshausredaktion von «Bund» und «Tages-Anzeiger», Patrick Feuz, darum, in den beiden Zeitungen eine Replik abzudrucken.

C. «Der Bund» druckte am 24. November 2011 in der Rubrik «Tribüne» einen ausführlichen  Beitrag von Daniel Bracher mit dem Titel «Managed Care: Irreführung der Bevölkerung» ab. Laut Bracher geht es bei der vom Parlament beschlossenen Teilrevision des Krankenversicherungsgesetzes nicht um Managed Care, sondern um verdeckte Rationierung. Mit finanziellen Anreizen werde versucht, den Hausärzten die Kostenverantwortung aufzubürden.

D. Gleichentags teilte Patrick Feuz Daniel Bracher per E-Mail mit, der «Tages-Anzeiger» bringe den Text nicht, da der «zuständige Mann», Hannes Nussbaumer, andere Themen dringender finde.

E. Am 28. November 2011 wandte sich Hannes Nussbaumer per E-Mail an Daniel Bracher. Dieser erhebe «mit einer Tonalität einen Anspruch auf Publikation» seines Texts, wie er dies als Redaktor noch kaum erlebt habe. Im Artikel vom 17. November gehe es jedoch nur am Rand um den Inhalt der Referendumsvorlage. Thema seien vielmehr die unterschiedlich gefüllten «Kriegskassen» der Parteien des Abstimmungskampfs. «Die Diskussion über den Inhalt haben wir in der Zeitung geführt, als die Vorlage im Parlament war – selbstverständlich wurden dabei die verschiedenen Positionen und Argumente abgebildet. Wir werden diese inhaltliche Diskussion wieder aufnehmen, wenn es um die Abstimmung geht, auch dann werden alle Seiten zu Wort kommen.»

F. Am 11. Dezember 2011 beschwerte sich Daniel Bracher in seiner Funktion als Präsident des Vereins freie Arztwahl beim Presserat über den Nichtabdruck seiner «Tribüne» durch den «Tages-Anzeiger». Die Wahrnehmung demokratischer Volksrechte setze voraus, dass der Souverän durch die Medien sachlich informiert wird. Dabei sei es einer Redaktion unbenommen, selber eine Meinung zu vertreten und die Argumente der anderen Partei kritisch zu hinterfragen. Die Redaktionen seien aber verpflichtet, bei Angelegenheiten, bei welchen es zu einer Volksabstimmung kommt, auch der anderen Seite angemessenen Raum zur Darstellung ihrer Sicht der Dinge zu gewähren. Der Artikel vom 17. November sei in einer für die Meinungsbildung kritischen Phase erschienen, im Vorfeld des Parteitags der Sozialdemokratischen Partei. Da die bürgerlichen Parteien die Unterstützung des Referendums von vornherein nicht in Betracht zögen, sei es im Hinblick auf den Ausgang der Abstimmung von Bedeutung gewesen, dass wenigstens die SP das Referendum unterstütze.

Vordergründig thematisiere der Artikel vom 17. November 2011 zwar nur die finanziellen Mittel, welche die FMH für das Referendum bereitstellt. Er betone aber auch, dass die Hausärzte entgegen der FMH die Managed-Care-Vorlage unterstützten. Hingegen stünde ihnen und den Krankenkassen viel weniger Geld zur Verfügung. «Die Botschaft, welche im Kern vermittelt wird, ist also diejenige, dass sich die Spezialärzte mit grossem finanziellen Aufwand ihre Pfründen sichern wollen, und zwar gegen die Hausärzte, welche sich für eine bezahlbare, effiziente Medizin einsetzen.» Diese Botschaft werde durch die vom «Tages-Anzeiger» abgedruckte Karikatur noch verstärkt. Tatsächlich gehe es um etwas ganz anderes. Managed Care sei ein Etikettenschwindel. Kern der Vorlage sei vielmehr die obligatorische Budgetmitverantwortung der Ärzte und – als Folge davon – die Einführung einer verdeckten Rationierung.

G. Gemäss Art. 12 Abs. 1 des Geschäftsreglements behandelt das Presseratspräsidium Beschwerden, auf die der Presserat nicht eintritt.

H. Das Presseratspräsidium, bestehend aus Presseratspräsident Dominique von Burg, Vizepräsidentin Esther Diener-Morscher und Vizepräsident Edy Salmina, hat die vorliegende Stellungnahme per 30. Dezember 2011 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Gemäss Artikel 10 Absatz 1 seines Geschäftsreglements tritt der Presserat nicht auf offensichtlich unbegründete Beschwerden ein.

2. a) Der Presserat hat in der Stellungnahme 26/2000 darauf hingewiesen, das Recht der Öffentlichkeit auf Information, von dem sich die berufsethischen Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten ableiten, sei nicht mit dem Rechtsanspruch eines Einzelnen zu verwechseln, der Öffentlichkeit via den redaktionellen Teil einer Zeitung Informationen über sich selbst zukommen zu lassen. «Ebenso wenig bedeutet das Recht auf Information, dass eine Zeitung gezwungen wäre, alle ihr zufliessenden Informationen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Jede Redaktion muss notgedrungen aus der Fülle der Nachrichten und Meinungen auswählen. In dieser Auswahl konkretisiert sich die Pressefreiheit. Gegen die ‹Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten› verstiesse eine solche Auswahl erst dann, wenn wichtige Elemente von Informationen unterschlagen oder Tatsachen, Dokumente, Bilder und Meinungen entstellt wiedergegeben würden (Ziffer 3 der ‹Erklärung›).»

b) Ebenso wenig wie Einzelpersonen haben politische Gruppierungen – ungeachtet ihrer Grösse und Bedeutung – Anspruch darauf, dass die Medien ihre Mitteilungen, Stellungnahmen, Resolutionen usw. veröffentlichen (Stellungnahme 11/1998). Grundsätzlich sind die einzelnen Redaktionen aber verpflichtet, im Rahmen ihrer politischen Berichterstattung auch Kleinparteien und politischen Minderheiten ein Mindestmass an medialer Aufmerksamkeit zu gewähren (Stellungnahme 18/1999).

c) Was ist aus diesen Grundsätzen für den konkreten Fall abzuleiten? Unter berufsethischen Gesichtspunkten wäre das Verhalten des «Tages-Anzeiger» dann problematisch, wenn die Zeitung das Referendum gegen die Managed-Care-Vorlage boykottieren und die Argumente der verschiedenen Gruppierungen, die das Referendum unterstützen, konsequent übergehen würde. Davon kann allerdings bereits gestützt auf die Ausführungen von Hannes Nussbaumer in der E-Mail vom 28. November 2011 an den Beschwerdeführer offensichtlich nicht die Rede sein. Ein Blick auf die in den letzten Monaten vom «Tages-Anzeiger» veröffentlichten zahlreichen Berichte zum Thema «Managed Care» vermittelt zudem zumindest den Eindruck, dass die Vorlage – aus unterschiedlichen Gründen – vor allem bei wesentlichen Teilen der Ärzteschaft und der politischen Linken umstritten ist. Nach Auffassung des Presserates wäre es dabei unverhältnismässig, bereits zu einem Zeitpunkt, in dem erst die Unterschriftensammlung für ein Referendum läuft und die Referendumsabstimmung mithin noch Monate entfernt ist, von den Medien zu verlangen, dass sie im Hinblick auf die Information der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger die verschiedenen Argumente der Befürworterinnen und Gegner vertieft darlegen.

Eine berufsethische Pflicht des «Tages-Anzeiger», die «Tribüne» von Daniel Bracher abzudrucken, lässt sich insbesondere auch nicht aus der Veröffentlichung des beanstandeten Berichts vom 17. November 2011 zum Thema «Finanzkraft von Befürwortern und Gegnern der Vorlage im Referendumskampf» ableiten. Geht doch der vom Beschwerdeführer in der Beschwerde als «Replik» bezeichnete Text mit keinem Wort auf die Finanzierungsfrage ein und beschränkt sich stattdessen darauf, seine Argumente gegen die Vorlage ausführlich darzulegen. Unter diesen Umständen lag es im freien, redaktionellen Ermessen des «Tages-Anzeiger», anders als der «Bund» auf den Abdruck des Textes des Beschwerdeführers zu verzichten.

III. Feststellung

Der Presserat tritt nicht auf die Beschwerde ein.

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Reaktion von Daniel Bracher zur Stellungnahme 65/2011