I. Sachverhalt
A. Am 30. November 2012 veröffentlichte «Blick am Abend» einen Artikel von Karin Müller mit dem Titel «60 Prozent der Asylbewerber sind HIV-positiv». Die Situation sei paradox. Zwar müssten alle Asylbewerber einen medizinischen Check machen – einen generellen HIV-Test gebe es aber nicht. Auf HIV werde nur in Einzelfällen bei Verdacht auf eine mögliche Tuberkulose getestet: «Dies, obwohl viele mit dem HI-Virus infiziert sind.» Statt einen Test durchzuführen, werde den Asylbewerbern ein Aids-Präventionsfilm in 16 Sprachen gezeigt. Für die Aids-Hilfe Schweiz sei dies ein untragbarer Zustand. «‹Mit Blick auf Personen aus der Subsahara zeigen die epidemiologischen Daten, dass sich über 60 Prozent der betroffenen Personen bereits in ihren Herkunftsländern mit HIV infiziert haben›, sagt Harry Witzthum von der Aids-Hilfe.» Der Film sei zwar nicht schlecht, «aber ein Angebot für HIV-Tests mit Einwilligung der Person würde gewährleisten, dass Personen, die HIV-positiv sind, Zugang zu einer HIV-Therapie erhalten. (…) Pikant: Die Kosten einer lebenslangen Aids-Therapie können schnell 500’000 bis eine Million Franken betragen. Als Kompromiss fordert Witzthum nun, dass wenigstens alle Menschen, die mit TB oder TB-Verdacht einreisen, auf HIV gestetet werden.»
B. Am 4. Dezember 2012 gelangten Manuel C. Widmer Bern, sowie Michèle Meyer und Mic Rasmussen Meyer, Hölstein, mit drei ähnlich lautenden Beschwerden gegen den obengeannnten Artikel an den Schweizer Presserat.
Die Beschwerdeführer sehen durch den Titel «60 Prozent der Asylbewerber sind HIV-positiv» die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Entstellung von Tatsachen), 5 (Berichtigung) und 8 (Diskriminierung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt. Der im Artikel zitierte Harry Witzthum habe nachträglich auf Anfrage von Bildblog.de klargestellt, dass seine «Aussage nichts mit der Überschrift» zu tun habe: «Meine Aussage, die im Text richtig zitiert wird, lautet, dass mehr als 60% der in der Schweiz diagnostizierten HIV-positiven Migranten sich bereits im Herkunftsland mit HIV infiziert haben. Die Aussage, dass 60% der Asylbewerber HIV-positiv sind, ist vollkommen falsch. Der Titel wurde nicht von der Journalistin gesetzt.» Trotz grosser Resonanz auf die Falschmeldung in den sozialen Medien habe «Blick am Abend» keine Berichtigung veröffentlicht. Und die falsche Schlagzeile wirke insofern diskriminierend, als dadurch eine abgrenzbare Gruppe von Personen in Misskredit gebracht werde.
C. Am 5. Dezember 2012 veröffentlichte «Blick» folgende Berichtigung: «Titel war falsch. ‹Blick am Abend› vom Freitag, 30. November, Seiten 4/5: Der Artikel mit dem Titel ‹60 Prozent der Asylbewerber sind HIV-positiv› ist inhaltlich richtig. Leider stimmt aber der Titel zum Artikel nicht. Nicht 60 Prozent der Asylbewerber sind HIV-positiv, sondern 60 Prozent der Asylbewerber aus der Subsahara-Region, die HIV-positiv sind, haben sich in ihrem Herkunftsland infiziert. Wir entschuldigen uns für diese Unsorgfältigkeit.»
D. Am 6. und 12. Dezember 2012 beschwerte sich auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe über den Artikel von «Blick am Abend» und rügte insbesondere eine Verletzung der Ziffern 3 und 8 der «Erklärung». Die von «Blick am Abend» veröffentlichte Berichtigung verschlimmere die Aussage des ganzen Artikels, «weil nun namentlich explizit eine Anspielung auf die ethnische oder nationale Zugehörigkeit in den Vordergrund gestellt wird». Damit werde die Menschenwürde der inkriminierten Asylsuchenden aus «Nigeria, Eritrea oder dem Kongo» in schwer wiegender Weise verletzt. «Dies deshalb, weil der behauptete Sachverhalt in keiner Weise weder durch Fakten, noch durch ein Zitat gestützt wird.»
E. In seiner Beschwerdeantwort vom 7. Januar 2013 räumte Peter Röthlisberger, Chefredaktor von «Blick am Abend», namens der Redaktion ein: «Die Sachlage ist klar und von uns unbestritten: Schlagzeile und Text des Artikels in der Ausgabe vom 30. November 2012 gehören nicht zusammen. Der Titel ist falsch formuliert und stimmt nicht (…) Wir haben in der Hitze des Blattabschlusses einen sehr ärgerlichen journalistischen Fehler begangen, für den ich mich in meiner Funktion erst via Tweet und dann auch noch in der ‹Blick am Abend›-Ausgabe vom 5. Dezember 2012 (…) entschuldigt habe.»
F. Am 8. Januar 2013 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.
G. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 21. Juni 2013 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. «Blick am Abend» räumt vorbehaltlos ein, dass der Titel «60 Prozent der Asylbewerber sind HIV-positiv» falsch ist und durch den nachfolgenden Lauftext nicht gedeckt wird. Mithin hat die Gratiszeitung mit der Veröffentlichung dieses Titels die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Entstellung von Tatsachen) der «Erklärung» verletzt.
2. Nicht verletzt sieht der Presserat hingegen die Berichtigungspflicht (Ziffer 5 der «Erklärung»). Mit der am 5. Dezember veröffentlichten Berichtigung ist die Redaktion ihrer Pflicht nachgekommen, hat eingestanden, dass der ursprüngliche Titel falsch ist und sich dafür entschuldigt.
3. a) Der Beschwerdeführer Manuel C. Widmer sieht die Ziffer 8 der «Erklärung» (Menschenwürde, Diskriminierung) dadurch verletzt, dass «Blick am Abend» mit dem falschen Titel eine «klar abgrenzbare Gruppe in Misskredit» bringe. Die ohnehin schon schwierige Annäherung und Kontaktnahme zwischen Asylbewerber/innen und Schweizer/innen «wird durch die unkorrigierte Verbreitung solch falscher Tatsachen sicher nicht einfacher – von den Auswirkungen auf die Integration (Wohnungs- und Arbeitssuche) ganz zu schweigen». Derartige falsche Gerüchte führten zudem auch zu Ressentiments gegen die Betroffenen. Für die Beschwerdeführer Michèle Meyer und Mic Rasmussen Meyer setzt der verallgemeinernde Titel alle Asylsuchenden gleich und diskriminiert eine bereits in der Öffentlichkeit mit starken Vorurteilen belastete Minderheit zusätzlich mit einer falschen Behauptung. Zudem würden HIV-positive Asylsuchende im Text auf ihre Kosten für die Gesellschaft reduziert. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe wiederum beanstandet, die veröffentlichte Berichtung verschlimmere die Aussage des ganzen Artikels, «weil nun nämlich explizit eine Anspielung auf die ethnische oder nationale Zugehörigkeit in den Vordergrund gestellt wird und so die Menschenwürde der inkriminierten Asylsuchenden aus ‹Nigeria, Eritrea oder dem Kongo› in schwer wiegender Weise verletzt wird.» Zumal der behauptete Sachverhalt weder durch Fakten noch durch ein Zitat belegt sei.
b) Auch wenn der Redaktion von «Blick am Abend» mit dem falschen Titel eine krasse Fehlleistung unterlaufen ist, kann daraus nicht abgeleitet werden, dass damit auch die Ziffer 8 der «Erklärung» (Diskriminierungsverbot; Menschenwürde) verletzt ist. Denn der falsche Titel suggeriert für sich allein betrachtet nach Auffassung des Presserats keine dahingehende Verallgemeinerung, wonach der angeblich hohe Anteil HIV-positiver Asylbewerber mit dieser Eigenschaft oder allein mit ihrer Nationalität zu tun hat. Und wer den ganzen Artikel liest, merkt erst recht, dass es der Autorin des beanstandeten Artikels nicht darum geht, die «Asylbewerber» als Gruppe oder die Angehörigen bestimmter Staaten herabzusetzen und mit dem Merkmal «HIV-positiv» zu stigmatisieren. Vielmehr thematisiert «
Blick am Abend» den «Protest» der Aids-Hilfe Schweiz gegen den Verzicht des Bundes auf generelle Aids-Tests in den Empfangszentren sowie die (theoretisch) möglichen hohen Kosten, die entstehen könnten, wenn HIV-positive Asylbewerber vermehrt Zugang zu einer HIV-Therapie erhalten.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerden werden teilweise gutgeheissen.
2. «Blick am Abend» hat mit der Veröffentlichung des Artikels «60 Prozent der Asylbewerber sind HIV-positiv» vom 30. November 2012 die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Entstellung von Informationen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.
3. Darüber hinausgehend werden die Beschwerden abgewiesen.
4. «Blick am Abend» hat die Ziffern 5 (Berichtigung) und 8 (Diskriminierung) der «Erklärung» nicht verletzt.