Nr. 27/2015
Wahrheitspflicht / Unterschlagung wichtiger Informationen / Berichtigung / Diskriminierung

(X./Y. c. «Blick am Abend») Stellungnahme des Schweizer Presserats vom 26. Juni 2015

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I. Sachverhalt

A. «Blick am Abend» veröffentlichte in seiner Ausgabe vom 8. Oktober 2014 einen Artikel mit dem Titel «Die Probleme mit den Eritreern». Der Untertitel lautet: «Asylbewerber. Flüchtlinge aus Eritrea bereiten unseren Behörden besonders viel Schwierigkeiten. Fast alle leben von der Sozialhilfe.» Im Artikel selbst wird festgehalten, in den ersten acht Monaten des laufenden Jahres stammten fast die Hälfte aller Asylgesuche von Eritreern. Diese würden in der Regel relativ rasch vorläufig aufgenommen, was bedeute, dass sie eine eigene Wohnung beziehen und arbeiten könnten. Doch über 80 Prozent lebten von der Sozialhilfe. Sobald sie vorläufig aufgenommen seien, könnten sie ihre Familie nachziehen. Sie hätten häufig viele Kinder, was sich auch positiv auf ihr Einkommen auswirke. Die Kinder aus Eritrea hätten in der Schule oft grosse Mühe und sie seien betreuungsintensiv. Die Behörden hofften, die Eritreer, die zu Ghetto-Bildung neigten, über kirchliche Strukturen besser erreichen zu können. In der Rubrik «Nachgefragt» kommt auf der gleichen Seite unter dem Titel «Die Eritreer müssen verstehen, wie die Schweiz funktioniert» der Mediensprecher der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zu Wort.

B. Am 28. Oktober 2014 beschwerte sich X. beim Schweizer Presserat über diesen Artikel. Die Gratiszeitung habe die Wahrheitspflicht gemäss Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») verletzt, indem sie behauptet habe, Eritreer könnten ihre Familie nachziehen, sobald sie vorläufig aufgenommen seien. Zudem enthalte der Artikel diskriminierende Aussagen. X. sieht insbesondere in der Aussage, «die Eritreer» neigten zu Ghetto-Bildung, eine Diskriminierung und damit Ziffer 8 der «Erklärung» verletzt. Diese Darstellung sei unzutreffend, da in der Schweiz keine Ghettos von Eritreern existierten. Durch die Formulierung «die Eritreer» sei das Element der kollektiven Herabwürdigung einer Gruppe gegeben. Der Satz sei dazu geeignet, Vorurteile über Personen eritreischer Abstammung zu erzeugen, zu fördern und zu verstärken, indem er sie pauschalisiert als Tatsache darstelle. Zudem würden wichtige Informationen unterschlagen. Die Zeitung habe es ausserdem unterlassen, eine von ihm eingebrachte Richtigstellung zu publizieren; hiermit sei Ziffer 5 verletzt.

C. Am 18. November 2014 gelangte Y. in der gleichen Angelegenheit an den Presserat. Er monierte, rassistische Aussagen würden in den Printmedien immer mehr verbreitet. Dahinter stecke wohl weniger böse Absicht als Unwissenheit. Er sieht in der Aussage, Eritreer würden zur Ghetto-Bildung neigen, eine diskriminierende Anspielung, die rassistisch sei. Auch die Aussage, Kinder aus Eritrea seien betreuungsintensiv, sei diskriminierend und verletze ebenfalls Ziffer 8 der «Erklärung». Das Interview «Die Eritreer müssen verstehen, wie die Schweiz funktioniert» verstärke letztlich die diskriminierenden Aussagen des Artikels. Zudem sei es sowohl formal als auch grafisch bedeutungsniedriger dargestellt. Bei der Aussage, eine sechsköpfige Familie komme auf ein monatliches Einkommen von 6011 Franken seien zusätzlich wichtige Informationen unterschlagen worden, worin Y. eine Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung» erblickt.

D. Am 22. Dezember 2015 teilte Chefredaktor Peter Röthlisberger dem Presserat mit, «Blick am Abend» verzichte bei beiden Beschwerden auf eine Stellungnahme.

E. Das Präsidium des Presserates beschloss, beide Beschwerden zu vereinigen und der 3. Kammer zur Behandlung zuzuweisen.

F. Die 3. Kammer, bestehend aus Max Trossmann (Kammerpräsident), Marianne Biber, Jan Grüebler, Matthias Halbeis, Peter Liatowitsch, Markus Locher und Franca Siegfried behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 11. März 2015 sowie auf dem Korrespondenzweg. Matthias Halbeis und Franca Siegfried, beide Mitarbeitende der «Blick»-Gruppe, traten von sich aus in den Ausstand.

II. Erwägungen

1. Journalistinnen und Journalisten sind zur Wahrheit verpflichtet und lassen sich «vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren» (Ziffer 1 der «Erklärung»). Die zur «Erklärung» gehörende Richtlinie 1.1 präzisiert, dass die Wahrheitssuche die Beachtung verfügbarer und zugänglicher Daten, die Achtung der Integrität von Dokumenten, die Überprüfung und die allfällige Berichtigung voraussetzt. Dazu gehört auch die Pflicht zu mindestens minimalen Recherchen, Informationen sind mit verhältnismässigem Aufwand zu überprüfen.

Im vorliegenden Fall geht es um die Aussage, Flüchtlinge (aus Eritrea) dürften ihre Familie nachziehen, sobald sie «vorläufig aufgenommen» sind. Die Beschwerdeführer machen geltend, dies widerspreche den Bestimmungen des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer (Ausländergesetz). In Art. 85 Abs. 7 des Ausländergesetzes heisst es dazu, Ausländer mit einem Ausweis F könnten frühestens drei Jahre nach Anordnung der provisorischen Aufnahme ein Gesuch um Familiennachzug stellen. Dabei müssen sie u.a. über eine genügend grosse Wohnung verfügen und dürften nicht auf Sozialhilfe angewiesen sein. Die Behauptung, es bestehe das Recht auf Familiennachzug, sobald Flüchtlinge vorläufig aufgenommen sind, ist demnach offensichtlich falsch. Damit ist Ziffer 1 der «Erklärung» verletzt.

2. a) Weiter ist zu untersuchen, ob der beanstandete Artikel Ziffer 8 der «Erklärung» verletzt. Danach haben Medienschaffende die Pflicht, auf diskriminierende Anspielungen zu verzichten. In Stellungnahme 61/2013 präzisierte der Presserat: «Eine Anspielung (ist) diskriminierend, wenn durch eine unzutreffende Darstellung das Ansehen einer Gruppe beeinträchtigt und/oder eine Gruppe kollektiv herabgewürdigt wird. Das Diskriminierungs-verbot verbietet dabei nicht die Kritik an Einzelpersonen, sondern soll Verallgemeinerungen verhindern» (mit Verweisen auf die Stellungnahmen 65/2009 und 7/2010).

Der Artikel «Probleme mit den Eritreern» ist kurz, er gibt aber all jene Themen wieder, wie sie überall zu hören und zu lesen sind. Beide Beschwerdeführer empfinden insbesondere die Aussage, Eritreer neigten zur «Ghetto-Bildung», als diskriminierend. Dieser Begriff sei eindeutig negativ besetzt. Er erhalte noch mehr Gewicht durch die grafische Hervorhebung. Y. empfindet diesen Satz als rassistisch. Auch die Aussage, die Kinder seien «betreuungsintensiv», stelle eine diskriminierende Anspielung dar, deren negativer Beigeschmack noch dadurch verstärkt werde, dass sie mit weiteren Attributen versehen werde («Mühe in der Schule», schlecht vertraut mit unseren Verhältnissen).

b) Der Presserat hat die Frage, ob das Diskriminierungsverbot verletzt sei, kontrovers diskutiert. Unbestritten ist, dass Journalisten über Probleme und Schwierigkeiten bei der Migration von Eritreern in der Schweiz berichten dürfen und sollen. Selbst politische Unkorrektheit muss bei der Berichterstattung möglich sein. Vorliegend machen beide Beschwerdeführer nicht geltend, die aufgelisteten Probleme träfen nicht zu. Es fällt jedoch auf, dass der Artikel in allgemeiner Art und Weise problematische Tatsachen aneinanderreiht. Diese Häufung von Clichés ist geeignet, bei einem Teil der Leserschaft Vorurteile zu verstärken und ist somit durchaus problematisch. «Blick am Abend» ist zugute zu halten, dass unter der Rubrik «Nachgefragt» auf der gleichen Seite der Sprecher der Schweizerischen Flüchtlingshilfe mit entlastenden Aussagen zu Wort kommt. Der Presserat ist deshalb der Ansicht, dass keine Verletzung von Ziffer 8 der «Erklärung» vorliegt. Dies gilt auch für die Verwendung des Begriffs «Ghetto». Es trifft nicht
zu, dass dieser Begriff aus der Zeit des Nationalsozialismus stammt, wie Beschwerdeführer Y. geltend macht. Ghettos gab es während des ganzen Mittelalters, damals waren es jüdische. Im modernen Sprachgebrauch bezeichnet Ghetto allgemein einen sozialen Brennpunkt. Mittlerweile hat gar eine Art Ikonisierung des Begriffs stattgefunden, man spricht von Ghettoblaster, Schwarzenghetto etc. Letztlich handelt es sich jedoch auch hier um ein Cliché, das verbreitet wird und dessen Verwendung von wenig differenzierter Berichterstattung zeugt.

3. Beschwerdeführer X. beklagt weiter eine Verletzung von Ziffer 5 der «Erklärung» (Berichtigungspflicht). Danach berichtigen Medienschaffende jede von ihnen veröffentlichte Meldung, deren materieller Inhalt sich ganz oder teilweise als falsch erweist. X. macht geltend, «Blick am Abend» habe es trotz seines Hinweises, die Aussage, der Familiennachzug sei möglich, sobald Eritreer vorläufig aufgenommen seien, sei falsch, unterlassen, zu antworten bzw. eine Berichtigung zu veröffentlichen.

Der Beschwerdeführer erhob erst zwölf Tage nach der Publikation des beanstandeten Artikels Einspruch, führte in seinem Mail aber nicht näher aus, worauf er sich bei der Geltendmachung des Fehlers stützt. Stattdessen hielt er fest, «Blick am Abend» hätte dies durch eine einfache Google-Recherche verifizieren können. Er hat es damit unterlassen, klar und deutlich zu begründen, worin der Fehler lag. Andererseits wäre es «Blick am Abend» gut angestanden, vorerst bei X. nachzufragen und allenfalls gestützt auf die nachgereichte Begründung eine Berichtigung zu veröffentlichen. Der Presserat kommt zum Schluss, dass letztlich im Zweifel Ziffer 5 nicht verletzt wurde.

4. a) Schliesslich machen die Beschwerdeführer auch eine Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung» geltend, weil im Artikel wichtige Informationen unterschlagen worden seien. Beschwerdeführer Y. kritisiert insbesondere die Aussage, eine sechsköpfige Familie erhalte ein Einkommen von 6011 Franken. Für ihn hätte hier die Information dazugehört, dass diese Summe nicht als Bargeld der Familie zukomme, sondern auch «für Dienstleistungen im Sinne der Integration der betroffenen Familie» bestimmt sei.

b) Der genaue Passus lautet wie folgt: «Nimmt man die Stadt Dietikon ZH zum Massstab, so kommt eine sechsköpfige Familie auf ein monatliches Einkommen von 6011 Franken (Blick am Abend berichtete)». So wie diese Zahl daherkommt, ist sie durchaus geeignet, bei Leserinnen und Lesern den Eindruck zu erwecken oder zu verstärken, Sozialempfänger würden überaus grosszügig behandelt. Auch wenn es wünschenswert gewesen wäre, dass die Leserschaft mehr über die Zusammensetzung dieser Summe erfährt (Anteil Miete, Krankenkasse etc.), handelt es sich vorliegend eher um eine verkürzte Darstellung der Tatsachen als um eine Unterschlagung wichtiger Informationen. Ziffer 3 der «Erklärung» ist demnach nicht verletzt. 

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. «Blick am Abend» hat Ziffer 1 der «Erklärung der Rechte und Pflichten der Journalistinnen und Journalisten» (Wahrheitspflicht) dadurch verletzt, dass er fälschlicherweise schrieb, es bestehe für (eritreische) Flüchtlinge ein Recht auf Familiennachzug, sobald sie vorläufig aufgenommen sind. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.