Nr. 35/2016
Schutz der Privatsphäre / Respektieren der Menschenwürde

(X. c. «Blick am Abend») Stellungnahme des Schweizer Presserats vom 28. Oktober 2016

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Zusammenfassung

«Blick am Abend» hat mit dem Foto einer bei den Brüsseler Terroranschlägen verletzten Frau deren Privatsphäre und Menschenwürde nicht verletzt. Dies entschied der Schweizer Presserat. Er weist eine entsprechende Beschwerde ab.

Am 22. März 2016 veröffentlichte «Blick am Abend» unter dem Titel «Bomben im Herzen der EU» mehrere Bilder über die Terroranschläge vom Morgen in Brüssel, Darunter war das Bild einer sitzenden Frau in gelber Jacke, leicht verletzt, gut identifizierbar und mit halb entkleidetem Oberkörper. Eine zufällig am Flughafen Zaventem anwesende georgische Fotografin hatte die Frau fotografiert, «Blick am Abend» das Bild von der Nachrichtenagentur Associated Press übernommen.

Der Presserat betont, wie wichtig es ist, dass Journalisten über Terrorakte rapportieren und auch dokumentierende Bilder veröffentlichen können. Für den Presserat geht es um den Kern der Reportagefotografie. Die Fotografin zeigt der Öffentlichkeit die menschliche Tragödie hinter dem Terrorakt. Auch wenn die abgebildete Frau klar identifizierbar ist – wie auch die zweite Frau auf dem Bild –, so sieht der Presserat ihre Privatsphäre nicht als verletzt an. Denn hier ist das öffentliche Interesse an einer Publikation klar der Privatsphäre der Abgebildeten überzuordnen. Die Frau ist auch nicht in einer entwürdigenden Situation abgebildet, ihre Menschenwürde war gewahrt.

Résumé

Le «Blick am Abend» n’a pas violé la sphère privée ni la dignité d’une femme blessée dans les attentats de Bruxelles en publiant sa photo. Telle est la décision du Conseil suisse de la presse, qui rejette sa plainte.

Le 22 mars 2016, le «Blick am Abend» a publié plusieurs photos des attentats terroristes commis le matin même à Bruxelles, sous le titre «Bomben im Herzen der EU» (des bombes au cœur de l’UE). Parmi elles, la photo d’une femme assise portant une veste jaune, légèrement blessée et facilement identifiable, le haut du corps à moitié dévêtu. Une photographe géorgienne présente par hasard à l’aéroport de Zaventem avait pris cette femme en photo, le «Blick am Abend» avait repris la photo de l’agence Associated Press.

Le Conseil de la presse souligne qu’il est important que les journalistes puissent rendre compte des actes terroristes et aussi publier des images documentaires. A ses yeux, c’est là l’essence même du photoreportage. La photographe montre au public la tragédie humaine que constitue un acte terroriste. Même si la femme sur la photo est clairement identifiable – comme l’autre femme figurant d’ailleurs sur l’image –, le Conseil de la presse ne considère pas que sa sphère privée est violée. Car l’intérêt public à la publication prime clairement la sphère privée de la personne photographiée. Cette femme n’est pas montrée dans une situation indigne, sa dignité est préservée.

Riassunto

Non c’è stata violazione della sfera privata e della dignità umana nella pubblicazione, da parte di «Blick am Abend», della foto di una donna ferita durante un attentato terroristico a Bruxelles. In questo senso si è pronunciato il Consiglio della stampa, respingendo un reclamo.  

La foto era stata pubblicata, tra molte altre, il 22 marzo 2016, sotto il titolo “Bombe nel cuore dell’UE”. Il servizio di “Blick am Abend” riferiva degli attacchi terroristici operati la mattina di quel giorno nella capitale belga. Oggetto del reclamo era la foto di una donna seduta, vestita con una giacca gialla ma con la parte superiore del corpo semiscoperta, ferita leggermente e comunque chiaramente identificabile. Scattata da una fotografa georgiana che si trovava per caso all’aeroporto di Zaventem, era stata diffusa dall’Associated Press.

Il Consiglio della stampa rileva quanto sia importante che i media riferiscano sugli atti di terrorismo anche pubblicando le foto relative. È in gioco un diritto primario del giornalismo fotografico, in quanto al pubblico viene documentata la tragedia che sempre costituisce l’umano risvolto degli attentati. Nel caso (che vede implicata anche una seconda donna ferita, visibile sulla foto) si trattava della necessaria documentazione di un dramma e l’identificazione possibile non viola pertanto il diritto delle vittime al rispetto della propria immagine. Sulla protezione della sfera privata prevale in questo caso l’interesse pubblico. La foto in questione, del resto, non si può dire che violasse la dignità della persona ritratta.

I. Sachverhalt

A. Am 22. März 2016 veröffentlichte «Blick am Abend» unter dem Titel «Bomben im Herzen der EU» mehrere Bilder über die Terroranschläge in Brüssel, die am Morgen dieses Tages verübt worden waren. Auf der Titelseite findet sich u.a. das Bild einer sitzenden Frau in gelber Jacke. Diese ist gut identifizierbar, offensichtlich verletzt durch eines der Attentate und mit halb entkleidetem Oberkörper abgebildet. Neben ihr sitzt eine zweite, auch identifizierbare Frau, welche mit blutverschmierter Hand telefoniert.

B. X. argumentiert in seiner Beschwerde an den Schweizer Presserat vom 25. März 2016, dieses Bild verletze Ziffer 7 (Schutz der Privatsphäre) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»). Laut X. stellt das Bild eine krasse Verletzung der Privatsphäre der sitzenden Frau dar. Dessen Veröffentlichung verletze zudem die Würde dieser Frau in eklatanter Weise. X. weist darauf hin, dass zumindest das Gesicht der Frau umfassend hätte verdeckt werden sollen.

C. Als Antwort auf die Aufforderung des Presserats, Stellung zur Beschwerde zu nehmen, beantragte Iris Mayer, Co-Chefredaktorin der «Blick»-Gruppe (zu der «Blick am Abend» zählt), am 13. Mai 2016, die Beschwerde von X. sei auf all jene Medien auszuweiten, welche das oben erwähnte Bild in einem Printprodukt oder digitalen Medium publizierten. Unzählige Zeitungen und Online-Medien nicht nur in der Schweiz, sondern auf der ganzen Welt hätten das Foto publiziert. Hinzu komme, dass auch andere Bilder publiziert wurden, auf denen Opfer der Anschläge relativ klar zu sehen waren. Daher wäre es fairer und zielführender, die medienethische Überprüfung durch den Presserat auf eine generelle Ebene zu erweitern.

D. Der Presserat teilte «Blick am Abend» am 15. Juni 2016 mit, dass er dem Antrag nicht stattgibt. Beschwerden an den Presserat seien gestützt auf das Geschäftsreglement zu begründen. Die Beschwerdebegründung umreisse den massgeblichen Sachverhalt, insofern bestimme der Beschwerdeführer den Beschwerdegegenstand – vorliegend die Verwendung des Bildes durch «Blick am Abend». «Blick am Abend» wurde eine Fristerstreckung zur Einreichung einer ausführlichen Stellungnahme gewährt.

E. Am 5. Juli 2016 nahm «Blick am Abend», anwaltlich vertreten, zur Beschwerde inhaltlich Stellung. Die Redaktion verzichte auf eine ausführliche Stellungnahme, es sei ziemlich abwegig, ein Bild, das «um die Welt ging», aus der Froschperspektive des schweizerischen Pressekodex beurteilen zu wollen, weshalb die anderen inländischen Medien, welche dieses Bild publiziert haben, in dieses Beschwerdeverfahren integriert werden sollten. Dieses sei von anderen Medien als «ikonografisch» bzw. «sinnbildlich» bezeichnet worden. Die abgebildete Frau Nidhi Shaphekar habe sich in der Folge ausdrücklich positiv zur Veröffentlichung dieses Bildes geäussert. Auch zeige das Foto Frau Shaphekar nicht in einer besonders «invasiven» Art bzw. in einer «Hilflosigkeit», die die Intimität verletze. Ihre Lage könne zu dies
em Zeitpunkt nicht (mehr) unmittelbar lebensbedrohend gewesen sein, denn neben ihr telefoniere auf dem Bild eine andere Frau. Aus diesen Gründen halte die Beschwerdegegnerin das von ihr publizierte Bild nicht für pressekodexwidrig.  

F. Der Presserat wies die Beschwerde der 3. Kammer zu, der Max Trossmann (Kammerpräsident), Marianne Biber, Jan Grüebler, Matthias Halbeis, Barbara Hintermann, Markus Locher und Franca Siegfried angehören. Matthias Halbeis und Franca Siegfried traten gestützt auf Artikel 14 Absatz 2 des Geschäftsreglements des Presserats von sich aus in den Ausstand.

G. Die 3. Kammer des Presserates behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 14. September 2016 sowie auf dem Korrespondenzweg.


II. Erwägungen

1. Ziffer 7 der «Erklärung» erwartet von Journalisten und Journalistinnen, dass sie die Privatsphäre der einzelnen Personen respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Richtlinie 7.8 präzisiert, dass sich Journalisten besonders zurückhaltend gegenüber Personen zeigen, die sich in einer Notlage befinden oder die unter dem Schock eines Ereignisses stehen sowie bei Trauernden. Bilder von Kriegen, Terrorakten etc. dokumentieren historische Momente. Das öffentliche Interesse an ihrer Publikation muss jedoch gegen die Gefahr abgewogen werden, die Privatsphäre der abgebildeten Person und/oder die Sensibilität der Betrachter zu verletzen.

Im vorliegenden Fall wurde die verletzte Frau von der per Zufall am Flughafen Zaventem anwesenden georgischen Fotografin Ketevan Kardava fotografiert. «Blick am Abend» hat das Bild von der Nachrichtenagentur Associated Press übernommen, es ist oben links mit AP (u.a.) gekennzeichnet. Der Presserat anerkennt in Richtlinie 7.8 und in seiner diesbezüglichen Praxis die Wichtigkeit, dass Journalistinnen und Journalisten über Terrorakte rapportieren und auch dokumentierende Bilder veröffentlichen können. Es geht hier um den Kern der Reportagefotografie. Das Bild der georgischen Fotografin zeigt der Öffentlichkeit die menschliche Tragödie hinter dem Terrorakt am Brüsseler Flughafen Zaventem. Auch wenn die abgebildete Frau klar identifizierbar ist – wie auch die zweite Frau auf dem Bild –, so sieht der Presserat Ziffer 7 der «Erklärung» nicht als verletzt an, da hier das öffentliche Interesse an einer Publikation klar der Privatsphäre der abgebildeten Frau überzuordnen ist. In solchen Notsituationen ist es nicht praktikabel, die betroffenen Personen zu fragen, ob sie in die Veröffentlichung ihres Bildes einwilligen. Die Fotografin erzählte denn auch später, dies sei ihr erstes Foto unmittelbar nach der Explosion gewesen, die Fotografierte unter Schock und sprachlos. Dass das Bild in der Folge um die Welt ging, ist für den Presserat unbestritten. Für dessen Beurteilung des Fotos der Frau in gelber Jacke kann dieser Umstand nicht massgebend sein, ist jedoch für solche ikonografischen Bilder und deren dokumentarischen Wert typisch. Dennoch muss eine Redaktion vor der Veröffentlichung eines solchen Bildes in jedem Einzelfall abschätzen, ob das öffentliche Interesse an der Publikation tatsächlich vorgeht. Dies war vorliegend der Fall.

2. Ziffer 8 der «Erklärung» verpflichtet Journalisten, die Menschenwürde zu respektieren. Die Grenzen der Berichterstattung in Text, Bild und Ton über Kriege, terroristische Akte, Unglücksfälle und Katastrophen liegen dort, wo das Leid der Betroffenen und die Gefühle ihrer Angehörigen nicht respektiert werden. Richtlinie 8.1 fordert, dass die Informationstätigkeit sich an der Achtung der Menschenwürde zu orientieren hat. Sie ist ständig gegen das Recht der Öffentlichkeit auf Information abzuwägen.

Journalisten sind sensationelle Darstellungen untersagt, welche Menschen zu blossen Objekten degradieren. Die verletzte Frau auf dem Bild befindet sich wohl unter Schock, auch wenn dies nicht offensichtlich sein mag. Jedoch zeigt das Bild keine schweren Verletzungen der Frau. Sie sitzt auf einem Stuhl – offensichtlich ausserhalb der unmittelbaren Gefahrenzone – und schaut in Richtung der Kamera. Auch wenn die Frau mit teilweise entkleidetem Oberkörper (es werden keine Intimbereiche gezeigt) abgebildet wird, kann man hier nicht von einer entwürdigenden Situation sprechen. Auch Ziffer 8 der «Erklärung» ist somit nicht verletzt.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. «Blick am Abend» hat mit der Publizierung des Bildes einer bei den Brüsseler Attentaten verletzten Frau Ziffer 7 (Schutz der Privatsphäre) und Ziffer 8 (Schutz der Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.