Nr. 13/2025
Wahrheit / Unschuldsvermutung

(X. c. Keystone-SDA)

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I. Sachverhalt

A. Am 25. Oktober 2023 veröffentlichte «blue News» unter dem Titel: «Polizei verhaftet Absender der Bombendrohung» einen kurzen Text. Am Ende stehen die Kürzel «fn, sda». Im Lead heisst es: «Die Zürcher Kantonspolizei hat den Absender der Bombendrohung vom Dienstag am Obergericht ermittelt: Es handelt sich um einen 44-jährigen Schweizer. Er wurde verhaftet.» Tags zuvor hätten mehrere Medien einen anonymen Hinweis erhalten, wonach im Gerichtsgebäude am Nachmittag Sprengstoff zur Explosion gebracht werde. In die Betreffzeile habe der Täter «Allahu Akbar» geschrieben. Aufgrund dessen sei das Obergericht evakuiert und danach ergebnislos durchsucht worden.

B. Am 5. Januar 2024 erhob X. Beschwerde gegen die Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Als Beleg legt er die von «Blue News» bearbeitete und verbreitete Keystone-SDA-Meldung vom 25. Oktober 2023 bei. Er macht geltend, die Pflicht zur Wahrheit (Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten», nachfolgend «Erklärung») sei verletzt, weil geschrieben werde, die Polizei habe den Absender der Bombendrohung verhaftet. Im Artikel stehe: «Die Zürcher Kantonspolizei hat den Absender der Bombendrohung vom Dienstag am Obergericht ermittelt: Es handelt sich um einen 44-jährigen Schweizer.» Damit sei er gemeint, weil er in diesem Zusammenhang verhaftet worden sei. Er habe aber mit der Sache nichts zu tun. Die Zürcher Kantonspolizei habe den Absender nicht ermittelt, vielmehr habe sie willkürlich einen Bürger verhaftet, um der Öffentlichkeit einen Täter präsentieren zu können. Zudem gebe es kein in Rechtskraft erwachsenes Urteil, er sei somit unschuldig (Art. 32 Abs. 1 Bundesverfassung).

C. Am 14. Mai 2024 antwortete die Chefredaktorin Deutsch von Keystone-SDA, Nicole Meier, auf die Beschwerde. Sie weist darauf hin, dass die Beschwerde an die falsche Adressatin gerichtet sei. Keystone-SDA habe das Agenturmaterial zum Artikel geliefert, dieses sei aber von «blue News» bearbeitet worden. In solchen Fällen sei das veröffentlichende Medium für den Inhalt verantwortlich. Deswegen sei auf die Beschwerde nicht einzutreten.
Diese sei aber auch aus inhaltlichen Gründen abzuweisen. Der Text der Meldung verletze nicht die Wahrheitspflicht, er spiegle den damaligen Stand der Erkenntnis. Es sei klar, dass anlässlich einer Verhaftung weder der Tatbestand noch die Schuldfrage abschliessend gerichtlich geklärt seien. Dass dies nicht noch explizit erklärt werde, könne jedenfalls nicht als Verstoss gegen die Wahrheitspflicht gewertet werden. Der Beschwerdeführer bestreite ja auch nicht, dass die Verhaftung erfolgt sei und dass sie im Zusammenhang mit der Bombendrohung gestanden habe. Im Übrigen betreffe die Kritik vor allem die Unschuldsvermutung. Diese beziehe sich in der Richtlinie 7.4 zur «Erklärung» vor allem auf die Identifizierung. Eine Identifizierung sei aber nicht erfolgt. Zweifellos hätte man, so Keystone-SDA, von einem «mutmasslichen» Absender der Drohung sprechen können, aber das falle nicht ins Gewicht, da ja keine Hinweise zur Person publiziert worden seien, die auf seine Identität hätten schliessen lassen. «44-jähriger Schweizer» reiche dazu nicht aus.

D.
Am 6. Februar 2025 teilte der Presserat den Parteien gestützt auf Art. 10 Abs. 2 des Geschäftsreglements mit, die Beschwerde würde vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.

E.
Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 27. April 2025 verabschiedet.


II. Erwägungen

1. Zur Unschuldsvermutung: Der Beschwerdeführer macht in seiner Beschwerde eine Verletzung der Unschuldsvermutung geltend (Art. 32 BV). Der Presserat prüft diesen Punkt unter Richtlinie 7.4 (Gerichtsberichterstattung; Unschuldsvermutung und Resozialisierung). Richtlinie 7.4 verlangt von JournalistInnen, dass sie der Unschuldsvermutung Rechnung tragen.
In der Beschwerdeantwort von Keystone-SDA wird argumentiert: «Die Agenturmeldung wurde aber redaktionell bearbeitet. In solchen Fällen ist in erster Linie die Redaktion bzw. das veröffentlichende Medium, welches basierend auf Agenturmaterial eigene Artikel publiziert, für deren Inhalt verantwortlich. Keystone-SDA kann dafür im Rahmen eines Presseratsverfahrens nicht belangt werden.» Der Presserat hält zu dieser letzten Formulierung im Sinne einer Klarstellung fest, dass die Nachrichtenagenturen – wie von Keystone-SDA festgestellt – natürlich nicht verantwortlich gemacht werden können für neue oder veränderte Elemente in übernommenen Agenturtexten. Für die von Agenturen selber verfassten Elemente sind diese aber ebenso verantwortlich wie die Medien für die ihren (vergleiche Stellungnahme 6/2016). Dies muss umso mehr gelten, als Agenturtexte von Redaktionen ohne Nachrecherche übernommen werden dürfen (Leitentscheid 3/1992, 60/2018). Im vorliegenden Fall stammen die monierten Stellen im «blue News»-Beitrag vollumfänglich aus der SDA-Meldung. Für diese ist die Agentur verantwortlich.
Titel und Lead der Meldung lauten: «Zürcher Polizei verhaftet Absender der Bombendrohung: Die Zürcher Kantonspolizei hat den Absender der Bombendrohung vom Dienstag am Obergericht ermittelt: Es handelt sich um einen 44-jährigen Schweizer. Er wurde verhaftet.» Titel und Lead sind im Indikativ formuliert, der Beschwerdeführer als Absender der Bombendrohung dargestellt. Der Presserat hat wiederholt darauf hingewiesen, dass bei Titeln besonders streng darauf zu achten ist, der Unschuldsvermutung Rechnung zu tragen (vgl. Stellungnahme 17/2017). Dies ist vorliegend nicht geschehen, damit hat die Keystone-SDA die Unschuldsvermutung (Richtlinie 7.4) verletzt. In diesem Fall zeigt sich exemplarisch, wie wichtig die Unschuldsvermutung ist. Die Behauptung, der Beschwerdeführer sei der Täter, hat sich später nachweislich als falsch herausgestellt.


2.
Weiter stellt sich die Frage, ob der Indikativ in der damaligen SDA-Meldung («Die Zürcher Kantonspolizei hat den Absender der Bombendrohung vom Dienstag am Obergericht ermittelt: Es handelt sich um einen 44-jährigen Schweizer. Er wurde verhaftet.») korrekt war. Ziffer 1 der «Erklärung» verlangt von Journalistinnen und Journalisten, dass sie sich an die Wahrheit halten und sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten lassen, die Wahrheit zu erfahren. Bei einer Verhaftung geht es praktisch immer nur um tatverdächtige Personen, um mutmassliche Täterschaft. Der vorliegende Fall zeigt exemplarisch, wie wichtig diese vorsichtigen Formulierungen sind: Einen Monat später stellte sich heraus, dass der Beschwerdeführer in diesem Fall effektiv nicht der Gesuchte, wohl aber der Verhaftete war. Ziffer 1 der «Erklärung» ist somit verletzt.


III. Feststellungen

1. Die Beschwerde gegen die Keystone-SDA wird gutgeheissen.

2. Keystone-SDA hat mit der Meldung vom 25. Oktober 2023 die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht) und 7 (Unschuldsvermutung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.