Nr. 8/2025
Wahrheit / Unterschlagen wichtiger Informationen / Berichtigung

(X. c. «Der Bund»/«Tages-Anzeiger»)

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I. Sachverhalt


A.
Am 4. Dezember 2023 veröffentlichten «Der Bund» beziehungsweise der «Tages-Anzeiger» einen Kommentar von Michèle Binswanger mit dem Titel «Zu Tode vergewaltigt – und alleingelassen». Die Journalistin führt darin aus, der grosse Aufschrei prominenter Feministinnen und internationaler feministischer Organisationen zu den sexuellen Gräueltaten der Hamas sei ausgeblieben. Und zwar deshalb, weil diese Taten nicht in ihr progressives Narrativ passen würden. Wochenlang habe die grösste Frauenorganisation der Welt, UN Women, kein Wort zu den Taten verloren. Nach zwei Monaten habe sie ein Statement veröffentlicht, in welchem sie die brutalen Attacken der Hamas verurteilte. Dieses habe sie dann wieder gelöscht und durch ein Statement ersetzt, das die Hamas nicht mehr explizit verurteile, aber eine gründliche Untersuchung der Anschuldigungen forderte. Gleichzeitig habe das Statement auf das Leid von Palästinenserinnen hingewiesen. Daraus schliesst Binswanger, dass der Slogan der MeToo-Bewegung «Believe all women» für israelische Frauen nicht gelte. Der progressive Feminismus, fest in linker Hand, richte den Fokus lieber auf intersektionale Diskriminierungen. Weisse, als privilegiert empfundene Frauen wie Israelinnen würden zur Unterdrückerklasse gezählt. Für Palästina würden junge Frauen hingegen Woche für Woche demonstrieren und sich auf Tik Tok für Osama Bin Laden und den Koran begeistern. Binswanger schliesst mit der Folgerung, diese Art von Feminismus gehöre abgeschafft.

B. Am 20. Dezember 2023 reichte X. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den Artikel in «Bund»/«Tages-Anzeiger» ein. X. macht einen Verstoss gegen die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Unterschlagung wichtiger Informationen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») geltend. Der monierte Beitrag sei als Kommentar gekennzeichnet, gemäss Praxis des Presserats seien aber auch Kommentare an das Wahrheitsgebot gebunden. Der vorliegende Beitrag halte dieses Gebot nicht ein: Michèle Binswanger behaupte, UN Women habe ein Statement, in welchem es die Taten der Hamas verurteile, gelöscht und die explizite Verurteilung in einem neuen Statement zurückgenommen. Das sei nicht wahr: Die Mitteilung, die am 1. Dezember 2023 veröffentlicht wurde, stehe weiterhin online und laute: «We unequivocally condemn the brutal attacks by Hamas on Israel on 7 October. We are alarmed by the numerous accounts of gender-based atrocities and sexual violence during those attacks. This is why we have called for all accounts of gender-based violence to be duly investigated and prosecuted, with the rights of the victims at the core.» (https://www.unwomen.org/en/news-stories/statement/2023/12/un-women-statement-on-the-situation-in-israel-and-gaza). Die Behauptung, UN Women habe «bis vor kurzem» kein Wort über die Gräueltaten verloren, sei ebenfalls unwahr. Deren Direktorin habe sich am 25. Oktober 2023 sowie am 22. November 2023 öffentlich dazu geäussert, und auch diese Aussagen seien auf der Webseite der Organisation abrufbar. UN Women sei zudem keine Massen- oder Mitgliederorganisation, wie die Autorin mit der Bezeichnung «grösste Frauenorganisation der Welt» suggeriere, sondern eine Institution der Vereinten Nationen. Der Vorwurf, die Organisation würde lieber Vergewaltiger verteidigen, als das Leiden missbrauchter Frauen anzuerkennen, sei haltlos. Diese Passagen würden auch gegen Ziffer 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen) der «Erklärung» verstossen.

Ziffer 5 der «Erklärung» sei ebenfalls verletzt: Auf ein E-Mail des Beschwerdeführers habe ihm Michèle Binswanger zurückgeschrieben, es sei ihr bewusst, dass «das Statement von UN Women (…) nicht von ihrer Hauptpage, sondern von ihrer Instagram-Page» gelöscht worden sei. Diese Korrektur sei im Artikel nicht nachgeführt worden.

Der Beschwerdeführer ist zudem der Ansicht, der Presserat müsse Ziffer 8 (Menschenwürde) der «Erklärung» prüfen: Eine durch das Geschlecht gekennzeichnete Personengruppe der «progressiven Feministinnen» werde pauschal diffamiert.

C.
Am 9. April 2024 nahm der Rechtsdienst der TX Group im Namen der Redaktion von «Bund»/«Tages-Anzeiger» (Tamedia) Stellung zur Beschwerde und beantragte deren Abweisung. Es handle sich beim kritisierten Kommentar um einen als solchen gekennzeichneten Meinungsbeitrag. Diesem könnten Lesende zustimmen oder nicht, er verletze aber nicht die «Erklärung». Das gelöschte Statement, das darin erwähnt werde, beziehe sich auf Instagram. Dort treffe die Aussage zu, dass es ersetzt worden sei. Es liege daher weder eine Verletzung von Ziffer 1 (Wahrheit) noch von Ziffer 5 (Berichtigung) der «Erklärung» vor. Was den Vorwurf angehe, UN Women habe kein Wort zu diesen Taten verloren, so bedeute dies in diesem Zusammenhang, dass die Stellungnahme gemessen am Ausmass der Taten und dem gezielten Angriff auf Frauen und Kinder ziemlich dürftig gewesen sei. Die Direktorin habe sich drei Wochen Zeit gelassen für deren Verurteilung. Das sei der Grund für die These, israelischen Frauen werde weniger geglaubt. UN Women sei zudem die grösste Organisation für Frauen, auch wenn der Beschwerdeführer dies anders einschätze. Dass der Text von «Koranverehrerinnen an den Unis schreibe, beziehe sich einerseits auf Pro-Palästina-Demos auf den Strassen und an Universitäten, andererseits auf ein Social-Media-Phänomen nach dem 7. Oktober, wo sich zahlreiche junge Frauen auf ihre Koranlektüre bezogen hätten. Die Autorin rufe nicht zum Boykott oder zur Agitation auf, wenn sie fordere, der intersektionale Feminismus gehöre abgeschafft, das sei nur ihre Meinung. Die Kritik an westlichen Feministinnen müsse im Rahmen eines Kommentars als Gefäss der persönlichen Einschätzung möglich sein.

D. Am 14. Januar 2025 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde gemäss Artikel 13 Abs. 1 seines Geschäftsreglements vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.

E.
Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am Februar 2024 verabschiedet.

II. Erwägungen

1. a) Gemäss Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung» halten sich JournalistInnen an die Wahrheit, ohne Rücksicht auf die sich daraus für sie ergebenden Folgen und lassen sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren. Ziffer 2 der «Erklärung» gewährleistet die Kommentarfreiheit. Diese entbindet aber auch bei diesem Format nicht von der Pflicht zur Wahrheit (vgl. Stellungnahme 48/2022). Der Beschwerdeführer ist der Ansicht, es verstosse gegen die «Erklärung», wenn die Autorin schreibe, «Bis vor kurzem hat auch die grösste Frauenorganisation der Welt, die UN Women, kein Wort zu diesen Taten verloren. Vergangenen Freitag [d. h. am 1. Dezember 2023] veröffentlichte sie nun ein Statement, in dem ‹die brutalen Attacken der Hamas› verurteilt wurden». Es entspreche nicht der Wahrheit, dass sich UN Women «bis vor kurzem», also zwei Monate lang, nicht dazu geäussert habe.

Tatsache ist, dass Sima Bahous, Direktorin von UN Women, bereits sechs Wochen vor Erscheinen des Kommentars, nämlich am 25. Oktober und noch einmal drei Wochen später, am 22. November 2023, auf den terroristischen Angriff der Hamas eingegangen ist. Beide Reden, die sie vor dem Uno-Sicherheitsrat gehalten hat, sind vollständig online abrufbar. Es handelt sich hierbei um den Kernvorwurf im Kommentar der Autorin. Die Redaktion Tamedia erklärt dazu, die Aussage «UN Women habe kein Wort zu den Taten verloren» bedeute in diesem Zusammenhang, die Stellungnahme sei gemessen am Ausmass der Attacken und dem gezielten Angriff auf Frauen und Kinder dürftig und nach drei Wochen spät erfolgt. Der Presserat kann diese Argumentation nicht nachvollziehen. «Bis vor kurzem» wird von DurchschnittsleserInnen so verstanden, dass UN Women sehr lange geschwiegen und nur wenige Tage vor Veröffentlichen des Kommentars ein Statement veröffentlicht hat. Dies gilt umso mehr, als dieser Satz ergänzt wird durch die Aussage, ein Statement sei am Freitag (also vier Tage vor dem Artikel) erschienen. Damit wird der Eindruck erweckt, es handle sich um die erste Wortmeldung von UN Women zum Thema. Das entspricht aber nicht der Wahrheit. Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung» ist verletzt.

b) Weiter verstösst nach Ansicht des Beschwerdeführers auch folgende Passage gegen die Wahrheitspflicht: «Vergangenen Freitag veröffentlichte sie nun ein Statement, in dem ‹die brutalen Attacken der Hamas› verurteilt wurden. Dann löschte die Organisation das Statement wieder und ersetzte es durch eines, in dem die Hamas nicht explizit verurteilt, dafür eine ‹gründliche Untersuchung› der Anschuldigungen gefordert wurde.» Das angeblich gelöschte Statement sei weiterhin auf der offiziellen Webseite von UN Women abrufbar. Darin würden die «brutalen Angriffe» klar verurteilt, UN Women zeige sich «alarmiert über die zahlreichen Berichte geschlechtsspezifischer Gräueltaten und sexueller Gewalt».

Gemäss den Ausführungen von Tamedia bezog sich die Autorin in ihrem Kommentar auf den Instagram-Kanal von UN Women: «Dort wurde – wie im Artikel erwähnt – eine erste Wortmeldung zurückgezogen und durch eine zweite Wortmeldung ersetzt. Genau so wurde dies im Kommentar dargestellt.»
Im Kommentar von Tamedia fehlt der Hinweis, dass es sich nur um die Kommunikation auf Instagram handelte. Die Autorin präzisierte dies auf Nachfrage des Beschwerdeführers in einem Mail an diesen. Die Information bezüglich Löschung des Statements war somit nicht falsch, sondern insofern unvollständig, als dass sie sich lediglich auf Instagram bezog. Die Einordnung dieser Information war unpräzise, es handelt sich um eine journalistische Ungenauigkeit. Diese vermag jedoch noch keine Verletzung der Wahrheitspflicht zu begründen. Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung» ist damit nicht verletzt.

2. Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, der Beitrag verletze auch Ziffer 3 (Unterschlagung wichtiger Informationen) der «Erklärung». Tatsächlich fehlte im Kommentar die Präzisierung, bei dieser Aussage werde nur auf den Instagram-Kanal verwiesen. Damit wurde ein für das Verständnis der Leserschaft grundlegendes Informationselement unterschlagen. Dasselbe gilt für die Stellungnahme der Direktorin von UN Women: Dass nicht erwähnt wurde, dass sie sich bereits Wochen zuvor (und zwar zeitlich näher an den Taten als am Erscheinen des Kommentars) zweimal klar zu den Gewalttaten geäussert hatte, kann im Zusammenhang mit der Bewertung, die Organisation habe «kein Wort verloren» als Unterschlagen von wichtigen Informationen gewertet werden. Ziffer 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen) der «Erklärung» ist damit verletzt.

3.
Der Beschwerdeführer moniert weiter, die oben erwähnten Passagen verletzten auch «Punkt 5 (Vollständigkeitsgebot)». Einen solchen Punkt bzw. ein solches Gebot gibt es in der «Erklärung» nicht. Zudem ist es auch nicht am Presserat, zu beurteilen, ob UN Women die grösste Frauenorganisation der Welt ist oder als Institution der Uno nicht dazu gezählt werden kann, wie der Beschwerdeführer geltend macht. Dessen Begründung, es handle sich nicht um eine Massen- oder Mitgliederorganisation, reicht nicht aus, um eine Verletzung der Wahrheitspflicht zu begründen.

Der im Kommentar geäusserte Vorwurf, UN Women wende bei der Verurteilung sexueller Gewalt je nach Opfer einen Doppelstandard an, ist zudem von der Kommentarfreiheit gedeckt. Dasselbe gilt für den Vorwurf, es würden lieber Vergewaltiger verteidigt, als das Leiden missbrauchter Frauen anzuerkennen. Dieser richtet sich an keine spezifisch genannte Person oder Personengruppe, es heisst im Text: «Wer (…) lieber Vergewaltiger verteidigt, (…) sollte einen Realitätscheck machen.» Diese Passagen verletzen die «Erklärung» nicht.

4.
Der Beschwerdeführer macht auch eine Verletzung von Ziffer 5 (Berichtigung) geltend. Nachdem er die Autorin per E-Mail auf die falsche Behauptung des gelöschten Statements aufmerksam gemacht hatte, hat sie ihm in ihrer Mailantwort vom 5. Dezember 2023 Recht gegeben: «Das Statement der UN Women wurde nicht von ihrer Hauptpage gelöscht, sondern von ihrer Instagram-Page.» Weder online noch im Print wurde dieser Fehler korrigiert. Ziffer 5 (Berichtigung) der «Erklärung» ist damit verletzt.

5. Abschliessend macht der Beschwerdeführer eine Verletzung der Menschenwürde geltend: Politisch Andersdenkende, die als «progressive Frauen» und «intersektionale Feministinnen» umschrieben würden, würden von der Autorin diffamiert und verächtlich gemacht. Ziffer 8 der «Erklärung» verlangt den Respekt der Menschenwürde sowie den Verzicht auf diskriminierende Anspielungen, welche unter anderem das Geschlecht zum Gegenstand haben. Im vorliegenden Fall kritisiert die Journalistin die politische Haltung einer politisch aktiven Gruppe. Kritik an deren Verhalten, welcher Art auch immer, muss möglich sein, solange es um dieses Verhalten und nicht um suggerierte Eigenschaften der ganzen Gruppe gleichen Geschlechts geht. Der Presserat sieht hier entsprechend keinen Verstoss gegen die Ziffer 8 (Menschenwürde) der «Erklärung».

III. Feststellungen

1. Der Presserat heisst die Beschwerde in der Hauptsache gut.

2.
«Der Bund» und der «Tages-Anzeiger» haben mit dem Beitrag «Zu Tode vergewaltigt – und alleingelassen» vom 4. Dezember 2023 die Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) sowie die Ziffern 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen) und 5 (Berichtigung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

3.
Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.