Zusammenfassung
Der Presserat hat sich noch nie zur Frage geäussert, ob eine Sperrfrist auch ein Recherchierverbot beinhalten kann. Dieser Ansicht war die Stadt Luzern. Das Onlinemagazin Zentralplus.ch wandte sich an den Presserat und bat um Klärung dieser Frage. Der Presserat hat in seiner heute veröffentlichten Stellungnahme festgehalten, dass Sperrfristen dazu dienen, zu klären, wann eine Information der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll und darf. Sie hindern Medien jedoch nicht daran, zu einem mit einer Sperrfrist belegten Thema zu recherchieren. Der Presserat hat klar festgehalten, dass ein Recherchierverbot mit der verfassungsrechtlich geschützten Informationsfreiheit nicht vereinbar ist.
Résumé
Le Conseil suisse de la presse ne s’était jamais prononcé sur la question suivante : un embargo peut-il inclure une interdiction de faire des recherches ? La ville de Lucerne était de cet avis. Le magazine en ligne Zentralplus.ch a demandé au Conseil suisse de la presse de clarifier la question. Dans la prise de position publiée aujourd’hui, le Conseil suisse de la presse a noté qu’un embargo indiquait à quel moment une information peut et doit être communiquée au public ; l’embargo n’empêche toutefois pas les médias de faire des recherches sur le sujet. Le Conseil suisse de la presse est catégorique : une interdiction de faire des recherches n’est pas compatible avec la liberté d’information garantie par la Constitution.
Riassunto
Un periodo di embargo include anche il divieto di effettuare ricerche? La città di Lucerna è di questo parere. Di contro, il Consiglio della stampa non si era finora mai pronunciato al riguardo. La rivista online Zentralplus.ch si è rivolta al Consiglio della stampa chiedendo delucidazioni sulla questione. Nella sua dichiarazione di oggi, il Consiglio della stampa ha affermato che i periodi di embargo hanno lo scopo di chiarificare quando un’informazione deve e può essere resa accessibile al pubblico. Non impediscono tuttavia ai media di effettuare delle ricerche su di un argomento soggetto a un periodo di embargo. Il Consiglio della stampa ha sottolineato che un divieto di ricerca non è compatibile con la libertà d’informazione, protetta dalla costituzione.
I. Sachverhalt
A. Ende Dezember 2022 verschickte die Stadtverwaltung Luzern im Auftrag des Stadtrats einen Bericht samt Antrag über eine geplante Leistungsvereinbarung im Bereich Frühförderung mit der Caritas Luzern. In der dazugehörigen Mail schreibt die Kommunikationsabteilung: «Wir bitten Sie, die Dokumente bis zum Ablauf der Mediensperrfrist vertraulich zu behandeln und nicht an Dritte weiterzuleiten. Die Sperrfrist wird auf den 10. Januar 2023, 11 Uhr, angesetzt.» Am 6. Januar 2023 fasst eine Mitarbeiterin des Zentralschweizer Newsportals «Zentralplus» den Auftrag, einen Bericht über die neue Leistungsvereinbarung zu schreiben. Die Mitarbeiterin schickt deshalb schriftlich Fragen an den Mediensprecher von Caritas Luzern und den Bericht samt Antrag im Mail gleich mit.
B. Kurz nachdem die Anfrage bei der Caritas Luzern eingegangen war, rief laut «Zentralplus» ein Mitarbeiter der Kommunikationsabteilung der Stadt Luzern bei der Redaktion an. Er habe der Redaktion vorgeworfen, die Sperrfrist unterlaufen zu haben. Es sei nicht erlaubt, im Vorfeld Erkundigungen bei Dritten, Direktbetroffenen, Parteien oder Experten einzuholen. Dies verletze die Informationshoheit des Stadtrats.
C. Am 18. Januar 2023 wandte sich die Redaktionsleiterin von «Zentralplus», Lena Berger, an den Presserat. Sie macht geltend, dass die Mitarbeiterin die Caritas in der festen Überzeugung kontaktiert habe, dass die Organisation als Beteiligte bereits über den Inhalt der Vereinbarung informiert sei (was auch der Fall war). Berger argumentiert, das von der Luzerner Verwaltung eingeforderte Rechercheverbot sei medienrechtlich problematisch. In der Praxis bedeute es, dass die Erstberichterstattung immer nur die Haltung des Stadtrats wiedergeben könne – «ohne kritische Nachfragen, Reaktionen der Parteien oder Einordnungen beispielsweise durch Experten». Auch werde die Sperrfrist nicht von allen gleichermassen beachtet: Die Redaktion erhalte von den politischen Parteien regelmässig Stellungnahmen zu Vorlagen, die einer vom Stadtrat gesetzten Sperrfrist unterlägen. Dass die Redaktion umgekehrt nicht nachfragen dürfe, sei absurd.
D. Das Präsidium unterbreitete diesen Themenkomplex gestützt auf Art. 8 des Geschäftsreglements dem Plenum des Presserats. Dieses beschloss an seiner Sitzung vom 23. Mai 2023, dass der Presserat das Thema von sich aus aufgreift.
E. Am 26. Juni 2023 beantwortete Simon Rimle, der Leiter der Kommunikationsabteilung der Stadt Luzern, das Schreiben des Presserats vom 23. Mai 2023. Er macht geltend, die Stadt Luzern habe eine langjährige Praxis bei der Festsetzung von Sperrfristen. Sie werde an meist jährlich durchgeführten Treffen mit Vertreterinnen und Vertretern der regionalen Medien regelmässig abgesprochen und in der Regel gut befolgt. Die Stadt Luzern setze Sperrfristen, damit sie direkt betroffene oder involvierte Personen sowie Organisationen vorinformieren könne. Sie würden vor allem bei politisch relevanten Geschäften gesetzt. In erster Linie seien dies Berichte und Anträge des Stadtrates an den Grossen Stadtrat sowie Antworten des Stadtrates auf politische Vorstösse. Diese würden nach dem Entscheid des Stadtrates und der Ausfertigung den Parlamentarierinnen und Parlamentariern zugestellt. Die Sperrfrist diene auch dazu, dass sich die Politikerinnen und Politiker auf allfällige Medienanfragen vorbereiten und sich gegebenenfalls innerhalb ihrer Partei abstimmen könnten. Auch andere direkt betroffene oder involvierte Personen und Organisationen erhielten die Dokumente vorab mit Sperrfrist. Auch hier sei der Grund, dass sie die Informationen als erstes erhielten und sich auf Medienanfragen vorbereiten könnten. Seit Jahren würden die Dokumente auch den Medien vorab zugestellt. Dadurch erhielten auch sie die Möglichkeit, sich vorgängig mit der Materie auseinanderzusetzen. Dies sei ganz im Sinne der Stadt Luzern und ermögliche eine fundierte Berichterstattung, sei aber nicht der Grund für die Festsetzung der Sperrfristen. Dank der Vorinformation könnten sich Medienschaffende einlesen, den Umfang der Berichterstattung einschätzen und Vorbereitungen treffen. Die Medien dürften sich aber nicht bereits vor der Sperrfrist mit Dritten über die Inhalte austauschen. Grund dafür sei, dass dann zwangsläufig Inhalte ausgetauscht werden würden, die der Sperrfrist unterlägen. Lange Zeit habe man die Möglichkeit, dass die Radios in ihrer Mittagssendung, das Lokalfernsehen am Abend und die Zeitungen am Tag danach berichten könnten, als Gleichbehandlung angesehen. Heute seien aber alle Medien gezwungen, direkt nach Ablauf der Mediensperrfrist zumindest online zu berichten. Für die Online-Berichterstattung sei deshalb eine unmittelbare Erstberichterstattung, bei der die Informationen bereits mit Reaktionen Dritter oder Expertisen von Fachleuten angereichert seien, nicht möglich. Mit einer Sperrfrist werde der Zeitpunkt bestimmt, ab dem eine Information veröffentlicht werden dürfe. Die Medienschaffenden dürften ab dann die Information veröffentlichen, Meinungen dazu einholen, direkt Betroffene befragen und die Informationen kommentieren. Eine Kontaktaufnahme mit Dritten für die Vereinbarung eines Termins für eine Befragung oder ein Interview unmittelbar nach Ablauf der Sperrfrist sei durchaus möglich. Man sei deshalb überzeugt, dass die Sperrfristenregelung der Stadt Luzern gut begründet sei und dafür sorge, dass alle Medien gleichbehandelt würden.
F. Das Präsidium des Presserats wies das Thema der 3. Kammer zur Behandlung zu. Ihr gehören Jan Grüebler (Kammerpräsident), Annika Bangerter, Monika Dommann, Christina Neuhaus, Simone Rau, Pascal Tischhauser und Hilary von Arx an.
G. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 4. Oktober 2023 und auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. Gemäss Art. 2 des Geschäftsreglements erstreckt sich die Zuständigkeit des Schweizer Presserats – ungeachtet der Verbreitungsart – auf den redaktionellen Teil der öffentlichen, auf die Aktualität bezogenen Medien sowie auf die journalistischen Inhalte, die individuell publiziert werden. Die Beschwerden an den Presserat richten sich zwar in der Regel gegen eine oder mehrere Medienredaktionen. Sofern ein unmittelbarer Bezug zwischen dem Beschwerdegegenstand und der publizistischen Tätigkeit der Journalistinnen und Journalisten besteht, kann der Presserat aber ausnahmsweise auch auf Beschwerden eintreten, welche das Verhalten von Verlagen (Stellungnahme 16/2004) oder Behörden (Stellungnahme 60/2002) zur Diskussion stellen. Vorliegend ist dieser Zusammenhang offensichtlich gegeben (Stellungnahme 52/2010).
2. Sperrfristen gehören zum journalistischen Alltag. Sie beruhen auf einer meist expliziten Vereinbarung zwischen der informierenden Organisation (Behörde, Gericht, Unternehmen) und den Redaktionen. Die zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» gehörende Richtlinie 4.4 (Sperrfristen) hält fest:
«Wenn eine Information oder ein Dokument mit einer gerechtfertigten Sperrfrist (Abgabe von Texten noch nicht gehaltener Reden; Beeinträchtigung wichtiger Interessen bei einer verfrühten Publikation usw.) an ein oder mehrere Medien übergeben wird, ist diese Sperrfrist zu respektieren. Sperrfristen dürfen nicht Werbezwecken dienen. Hält eine Redaktion eine Sperrfrist nicht für gerechtfertigt, hat sie die Quelle über ihre Absicht, umgehend an die Öffentlichkeit zu gehen, zu informieren, damit die Quelle die übrigen Medien benachrichtigen kann.»
Der Presserat hat sich in seiner Praxis mehrfach mit dem Thema Sperrfristen auseinandergesetzt:
Bereits im Jahr 1983 hielt er in einer grundsätzlichen Stellungnahme fest, dass Sperrfristen immer eine Ausnahme darstellen sollten. Sie gelten nur dann als zumutbar, wenn überwiegende Interessen gegen eine umgehende Publikation sprechen. Die Ansetzung einer Sperrfrist sei insbesondere dann gerechtfertigt, wenn den Medienschaffenden vor einer Pressekonferenz Unterlagen zur Vorbereitung zugestellt werden oder wenn ein Unternehmen ohne eigenes Verschulden noch nicht dazu gekommen sei, sein Personal über eine geplante Massnahme zu orientieren. Dagegen gälten Sperrfristen nicht als zumutbar, wenn sie bezweckten, ein Medium einseitig zu bevorteilen, oder wenn mit der Sperrfrist versucht werde, die Veröffentlichung einer Information hinauszuzögern.
Sperrfristen, die den Wettbewerb zwischen Medien beeinflussen
Im Jahr 2010 hatte sich der Presserat bereits einmal zur Sperrfristenregelung durch die Luzerner Behörden bei regierungsrätlichen Medieninformationen zu wichtigen Projekten geäussert. In seiner Stellungnahme hielt er fest, Sperrfristen seien ausnahmsweise gerechtfertigt, wenn sie sachlich an das Ende einer Veranstaltung oder Pressekonferenz gebunden seien oder wenn ein überwiegendes Interesse den Anspruch der Öffentlichkeit auf Information kurzfristig überwiege. Nicht gerechtfertigt seien sie, wenn sie bezweckten, den Wettbewerb unter konkurrierenden Medien zu steuern (52/2010).
Kurzfristig gerechtfertigte Sperrfrist bei überwiegendem Interesse
Aus der Verpflichtung der Medienschaffenden, sich bei der Beschaffung von Informationen keiner unlauteren Methoden zu bedienen, ist abzuleiten, dass Sperrfristen zu respektieren sind, sofern diese nicht überwiegend bezwecken, den freien Informationsfluss zu behindern. Eine Sperrfrist ist insbesondere dann gerechtfertigt, wenn sie die Vororientierung des Personals einer Firma über geplante Entlassungen ermöglichen soll. Je kürzer eine Sperrfrist angesetzt ist und je gewichtiger die Gründe sind, die dafür geltend gemacht werden, umso eher ist sie als gerechtfertigt zu respektieren (41/2001).
Benachrichtigung, falls man eine Sperrfrist nicht einhalten will
Fühlt sich eine Zeitung nicht an eine Sperrfrist gebunden, muss sie die betroffene Institution zumindest sofort benachrichtigen. Diese hat so die Möglichkeit, die anderen Medien und eigenen Organe vor der Veröffentlichung zu informieren (56/2012; 57/2007).
In seiner Stellungnahme 39/2009 hielt der Presserat zudem fest, es sei mit der Informationsfreiheit nicht vereinbar, durch die Festlegung einer Sperrfrist die Recherche zu einem Thema während fast eines Monats zu verhindern. Zudem seien Sperrfristen mit gesundem Menschenverstand auszulegen (39/2009).
3. Zur Frage eines eigentlichen Recherchierverbots hat sich der Presserat in seiner Praxis bisher noch nie geäussert. Sowohl der Wortlaut von Richtlinie 4.4 zu Sperrfristen als auch die Praxis des Presserats zu dieser Richtlinie zeigen klar, dass es bei Festlegung bzw. Respektierung von Sperrfristen um die Frage geht, wann eine Information der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll und darf. Nicht abgedeckt wird durch diese Bestimmung ein allfälliges Recherchierverbot. Ein solches ist grundsätzlich nicht vereinbar mit der verfassungsrechtlich geschützten Informationsfreiheit. Die Informationsfreiheit als Bestandteil der Meinungsäusserungsfreiheit und der Pressefreiheit gewährleistet das Recht, Nachrichten und Meinungen ohne Eingriffe der Behörden zu empfangen und sich aus allgemein zugänglichen Quellen zu unterrichten.
In der journalistischen Praxis wird eine Sperrfrist denn auch nicht als Recherchierverbot aufgefasst. In der Bundesgerichtsberichterstattung beispielsweise ist es üblich, Expertinnen und Experten bereits vor Ablauf einer Sperrfrist zu kontaktieren. In der Regel erfolgt diese Kontaktaufnahme zeitnah zum Ablaufdatum der Sperrfrist. Sperrfristen sind somit klar als Publikationssperrfristen zu verstehen. Es handelt sich keinesfalls um Recherchierverbote. Dass Journalistinnen und Journalisten mit ihrem Vorwissen gewissenhaft umgehen sollten, wenn sie Betroffene oder Fachleute kontaktieren, versteht sich dabei von selbst.
Die Stadt Luzern begründet Sperrfristen unter anderem damit, dass sich Medienschaffende einlesen, den Umfang der Berichterstattung einschätzen und Vorbereitungen treffen können. Medien sollen sich nach Ansicht der Stadt Luzern aber nicht schon vor Ablauf der Sperrfrist mit Dritten über die Inhalte austauschen, weil sonst zwangsläufig Inhalte ausgetauscht würden, die der Sperrfrist unterliegen. Die Stadt Luzern geht nicht darauf ein, dass im vorliegenden Fall Caritas als betroffene Dritte ebenfalls vorinformiert war. Es geht der Stadt offenbar grundsätzlich darum, dass Medien vor Ablauf der Sperrfrist keine Recherche betreiben.
Im Fall der Vereinbarung zwischen der Stadt Luzern und der Caritas dient die Sperrfrist zur Sicherung der Informationshoheit des Stadtrats und zur Gleichbehandlung der Medien. Das ist grundsätzlich nicht zu beanstanden. Hingegen kann eine Sperrfrist niemals ein Recherchierverbot begründen. Medien sind frei, über Themen, die einer Sperrfrist unterliegen, zu recherchieren. Eine Sperrfrist bezieht sich immer auf den Publikationszeitpunkt.
III. Feststellungen
1. Sperrfristen sind nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt und enthalten nie ein Recherchierverbot.
2. Der Stadt Luzern wird empfohlen, Sperrfristen künftig als Publikationssperrfristen zu verstehen und die Informationsfreiheit von Journalistinnen und Journalisten zu respektieren.