Nr. 25/2024
Wahrheit / Trennung von Fakten und Kommentar / Menschenwürde / Unabhängigkeit

(X c. «Zeitpunkt»)

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I. Sachverhalt

A. Am 21. Juni 2023 veröffentlichte das Online-Portal «zeitpunkt.ch» unter dem Titel «Die ‹Bürgerrechtsbewegung› ist im Trotzalter steckengeblieben» einen Beitrag von Christoph Pfluger. Der Artikel wurde auch über den «Zeitpunkt»-Newsletter verbreitet. Der Untertitel des Beitrags lautete: «Wann wird sie aus ihren Niederlagen lernen?» Der Autor zeichnete darin die Aktivitäten und Initiativen der Gegner der Coronamassnahmen des Bundes nach und kommentierte sie kritisch, ausgehend vom Entscheid des Bundesrates im April 2020, die Notverordnungen in ein dringliches Bundesgesetz (Covid-19-Gesetz) zu überführen, über das erste Referendum gegen das vorgeschlagene Gesetz, das Christoph Pfluger selbst ergriffen hatte, über die Gründung der «Freunde der Verfassung» bis hin zur Volksabstimmung vom 18. Juni 2023, bei der das Referendum gegen das Covid-19-Gesetz zum dritten Mal scheiterte. Der Autor kritisierte insbesondere die Entscheidung des Vorstandes der Verfassungsfreunde, sich von den politischen Institutionen fernzuhalten und nicht mit eigenen Kandidaten zu Wahlen anzutreten. Er warf der Bewegung auch vor, es sei ihr nicht gelungen, die Kräfte zu vereinen und die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen. Schliesslich fragte sich der Autor, welche Lehren die Befürworter des Referendums aus der erneuten Abstimmungsniederlage ziehen könnten und warum die Bewegung als Kollektiv, zu dem der Autor Christoph Pfluger sich selbst auch zählt, nicht in der Lage sei, aus ihren Fehlern zu lernen.

B. Am 2. Juli 2023 reichte X. beim Schweizer Presserat eine Beschwerde gegen «zeitpunkt.ch» ein. Nach Ansicht des Beschwerdeführers hat die Redaktion mit dem fraglichen Beitrag gegen Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche), Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar), Richtlinie 8.1 (Achtung der Menschenwürde), Richtlinie 9.1 (Unabhängigkeit) in Verbindung mit Richtlinie 2.4 (Öffentliche Funktionen) sowie Richtlinie 9.2 (Interessenbindungen) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (im Folgenden: «Erklärung») verstossen. Insbesondere habe der Autor des monierten Beitrags es versäumt, den Leser darüber zu informieren, dass Volksabstimmungen auf dem Schriftweg nicht sicher und zuverlässig seien. Ausserdem befände er sich in einem Interessenkonflikt, da er an vorderster Stelle an der Gründung der Verfassungsfreunde beteiligt gewesen sei und die Statuten der Bewegung geliefert habe. Darüber hinaus habe er von der Leitung der Verfassungsfreunde Mandate als Verlag und Werbebüro erhalten.

C. Vom Presserat zu einer Stellungnahme aufgefordert, teilte Christoph Pfluger, Herausgeber des «Zeitpunkt», am 14. Februar 2024 per E-Mail mit, dass er auf die Beschwerde (die er für eine böswillige Racheaktion halte) nicht eintreten werde.

D. Am 15. März 2024 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde von der 1. Kammer behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Luca Allidi, Dennis Bühler, Ursin Cadisch, Michael Herzka, Francesca Luvini und Casper Selg.

E. Die 1. Kammer des Presserats hat die vorliegende Beschwerde an ihrer Sitzung vom 29. April 2024 sowie auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Der Beschwerdeführer äussert selbst – wenn auch im Rahmen eines Schreibens (25. März 2024) im Anschluss an die Bekanntgabe des Abschlusses des Schriftenwechsels (15. März 2023) – Zweifel an der Zuständigkeit des Presserats für seine Beschwerde. Es genügt, hier zu erwähnen, dass sich die Zuständigkeit des Schweizer Presserats – ungeachtet der Verbreitungsart – auf den redaktionellen Teil der öffentlichen, auf die Aktualität bezogenen Medien sowie auf die journalistischen Inhalte, die individuell publiziert werden, erstreckt (Art. 2 des Geschäftsreglements). Das Online-Portal «zeitpunkt.ch» verfügt über ein Impressum und veröffentlicht mit gewisser Regelmässigkeit journalistische Inhalte. Der Presserat ist der Ansicht, dass die vorliegende Beschwerde in seine Zuständigkeit fällt und tritt daher auf die Beschwerde ein.

2. Der Presserat beurteilt lediglich, ob in einem Beitrag die in der «Erklärung» und den dazugehörenden Richtlinien Berufsregeln eingehalten wurden oder nicht. Die Auswahl der zu veröffentlichenden Informationen und Themen sowie deren Gewichtung obliegt hingegen einzig und allein den Redaktionen. Der Presserat kann (und darf) nicht entscheiden, ob die Auswahl der Themen «richtig», «angemessen» oder «zweckmässig» ist. Insbesondere im Rahmen eines Kommentars, wie im vorliegenden Fall, ist die Tatsache, dass der Autor Themen auslässt, die er nicht für relevant hält (laut dem Beschwerdeführer zum Beispiel der Umstand, dass Volksabstimmungen in schriftlicher Form nicht sicher und zuverlässig seien), nicht geeignet, einen Verstoss gegen das Wahrheitsgebot (Richtlinie 1.1 zur «Erklärung») oder eine Unterschlagung wichtiger Informationen (Ziffer 3 der «Erklärung») oder gar eine Verletzung der Pflicht zur Trennung von Fakten und Kommentar (Richtlinie 2.3 zur «Erklärung») zu begründen.

3. Nach Ansicht des Beschwerdeführers befindet sich der Autor des Beitrags in einem Interessenkonflikt, er habe gegen die Richtlinien 9.1 (Unabhängigkeit) sowie 2.4 (Öffentliche Funktionen) verstossen, da er an der Gründung der Verfassungsfreunde beteiligt gewesen sei und die Statuten der Bewegung geliefert habe.

Gemäss Richtlinie 9.1 ist die Wahrung der Unabhängigkeit der Journalistinnen und Journalisten für die Verteidigung der Pressefreiheit unabdingbar und erfordert ständige Wachsamkeit. Gemäss Richtlinie 2.4 ist die Ausübung des Berufs der Journalistin, des Journalisten grundsätzlich nicht mit der Ausübung einer öffentlichen Funktion vereinbar. Wird eine politische Tätigkeit aufgrund besonderer Umstände ausnahmsweise wahrgenommen, ist auf eine strikte Trennung der Funktionen zu achten. Zudem muss die politische Funktion dem Publikum zur Kenntnis gebracht werden. Interessenkonflikte schaden dem Ansehen der Medien und der Würde des Berufs. Dieselben Regeln gelten auch für private Tätigkeiten, die sich mit der Informationstätigkeit überschneiden könnten.

Nach Auffassung des Presserats hat Christoph Pfluger hinreichend deutlich und transparent zum Ausdruck gebracht, dass er selbst in die Ereignisse, die Gegenstand des Artikels sind (die Aktivitäten und Initiativen der Gegner der behördlichen Coronamassnahmen), politisch involviert war (wörtlich schrieb er im Artikel: «Ende Juni kündigte ich als Einzelperson das Referendum gegen das geplante dringliche Bundesgesetz an (…) Mir war bewusst, dass noch nie ein dringliches Bundesgesetz oder ein dringlicher Bundesbeschluss durch Referendum zu Fall gebracht werden konnte. Aber was hätten wir sonst unternehmen sollen, um den Widerstand gegen die Corona-Politik von der Strasse in die Politik und damit in Reichweite der direktdemokratischen Instrumente zu bringen? (…) Warum sind wir als Kollektiv nicht in der Lage, aus Fehlern zu lernen? Vermutlich sind wir immer noch geblendet von der Kraft des Widerstandes, der sich in den ersten Phasen der Pandemie entwickelte.»). Ein Verstoss gegen die Richtlinien 2.4 und 9.1 zur «Erklärung» ist daher nicht ersichtlich.

4. Nach Ansicht des Beschwerdeführers hat der Autor des Beitrages gegen Richtlinie 9.2 (Interessenbindungen) verstossen, weil er – nach Angaben des Beschwerdeführers – von der Leitung der Verfassungsfreunde Mandate für Verlag und Werbebüro erhalten habe. Ein Umstand, für den der Beschwerdeführer jedoch keinen Beleg vorbringt. Der «Zeitpunkt»-Herausgeber hat auch zu diesem Vorwurf nicht Stellung genommen.

Da der Presserat allein auf der Grundlage der Beschwerde und der ihr beigefügten Unterlagen entscheidet, muss die Frage, ob die erwähnten Mandate tatsächlich bestanden haben, offen bleiben. Daher kann sich der Presserat nicht dazu äussern, ob allenfalls ein Verstoss gegen Richtlinie 9.2 (Interessenbindungen) vorliegen könnte.

5. Der Beschwerdeführer beruft sich auch auf eine angebliche Verletzung der Richtlinie 8.1 (Achtung der Menschenwürde), ohne jedoch zu substantiieren, geschweige denn zu begründen, wo (in welcher Passage des Beitrags) er eine solche Verletzung erkennen will (siehe Art. 9 Abs. 2 des Geschäftsreglements). Mangels Substantiierung tritt der Presserat auf diesen Punkt nicht ein.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird.

2. In seinem am 21. Juni 2023 veröffentlichten (und durch einen Newsletter an die Abonnenten verschickten) Beitrag von Christoph Pfluger mit dem Titel «Die ‹Bürgerrechtsbewegung› ist im Trotzalter steckengeblieben» hat das Online-Portal «zeitpunkt.ch» die «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.