I. Sachverhalt
A. Am 22. Juni 2023 veröffentlichte die «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ) einen Artikel, gezeichnet von Beatrice Achterberg, mit dem Titel «An die Gewalt in deutschen Freibädern sollte sich niemand gewöhnen müssen». Der Text ist ein Auszug aus dem Deutschland-Newsletter «Der andere Blick». Die Journalistin beschreibt darin den Wandel einiger Freibäder von einer Erholungsoase zur Arena der Halbstarken, die im Zweifel Messer und Fäuste einsetzen. Es gebe zwar wenig repräsentative Zahlen zur mutmasslich zunehmenden Gewalt in deutschen Freibädern, aber anekdotische Evidenz, Berichte von Bademeistern und in sozialen Medien. Es seien junge Männer mit Migrationshintergrund, welche Brachialgewalt und ein archaisches Frauenbild in die Bäder trügen. Es folgt eine Liste mit fünf Vorfällen innerhalb von drei Wochen in Stuttgart, Berlin und Mannheim. Währenddessen äusserten sich PolitikerInnen kaum zu den Vorfällen. Eine bestimmte Bevölkerungsgruppe sei bei den Überfällen sichtbar überrepräsentiert, während andere sich mit der Selbsteinschränkung arrangierten. Es brauche Hausverbote, aber auch PolitikerInnen, welche die Verantwortung für die Gewährleistung der Sicherheit im öffentlichen Raum übernähmen.
B. Am 29. Juni 2023 reichte X. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den Artikel in der NZZ ein. Sie macht einen Verstoss gegen die Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») geltend. Der Artikel verletze zudem die Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) sowie die Richtlinien 8.1 (Menschenwürde) und 8.2 (Diskriminierungsverbot). Den Verstoss gegen die Wahrheitssuche begründet die Beschwerdeführerin damit, dass die NZZ Quellen nutze, die sich weder für einen fundierten Artikel noch für einen Meinungskommentar eignen würden. Sie berufe sich auf Erzählungen von Personen, über die in Kurzmeldungen berichtet wurde, auf Fotos und Videos in sozialen Medien, ohne Präzisierung, um welche Personengruppen es sich handelt. Es fehlten einerseits Belege und anderseits die Stellungnahme von Fachpersonen.
Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) zur «Erklärung» sei verletzt, weil zwar keine konkreten Namen genannt würden, aber die Vorwürfe derart schwer seien, dass VertreterInnen sprachlicher Minderheiten um eine Stellungnahme hätten angefragt werden müssen. Der Artikel sei rassistisch und verletze Richtlinie 8.2 (Diskriminierungsverbot), indem willkürlich und anekdotisch wenige Geschichten pauschal beschrieben würden und daraus ein grundsätzliches Scheitern der Integration jünger Männer abgeleitet werde. Diese seien gewaltbereit, respektlos und hätten ein archaisches Geschlechterbild. Schliesslich sei die Richtlinie 8.1 (Achtung der Menschenwürde) verletzt, indem grosse Bevölkerungsgruppen rassistisch herabgewürdigt würden.
C. Am 29. September 2023 nahm der NZZ-Rechtsdienst für die Redaktion zur Beschwerde Stellung und beantragte deren Abweisung. Beatrice Achterberg zeige in ihrer Kolumne die zunehmende Gewaltbereitschaft in deutschen Freibädern anhand der jüngsten Vorfälle auf und gebe dazu ihre persönliche Meinung ab. Es handle sich beim Text nicht um einen Fachartikel, sondern um einen Meinungsbeitrag, der auf Tatsachen beruhe, über die mehrere Medien berichtet hätten. Es gebe gemäss Praxis des Presserats keine Pflicht zur Quellenbenennung, und die Pflicht, sich als Journalistin nur auf Primärquellen beziehen zu dürfen, sei eine unüberlegte Behauptung. Wie die Beschwerdeführerin ausführe, gebe es keine repräsentative Studie zur Gewalt in Freibädern. Dass es im Text aber um persönliche Eindrücke und die fünf erwähnten Vorfälle gehe, mache die Autorin auch transparent.
Die Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) könne nicht verletzt sein, bei Meinungen gebe es keine Wahrheit. Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) sei ebenfalls nicht tangiert: Betroffen könne nur sein, wer genannt sei, die entsprechenden «Vertreter sprachlicher Minderheiten» würden nicht einmal präzisiert, es sei unmöglich festzulegen, wer damit überhaupt zur Stellungnahme legitimiert sei. Weiter seien die Richtlinien 8.1 und 8.2 nicht berührt: Nicht jede Erwähnung einer ethnischen, nationalen oder anderen Gruppenidentität sei eine unzulässige Diskriminierung. Die Mindestintensität sei in keiner der aufgeführten Passagen erreicht.
D. Am 1. März 2024 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde gemäss Artikel 13 Abs. 1 seines Geschäftsreglements vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.
E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 16. Juni 2024 verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Die Ziffer 1 der «Erklärung» und die zugehörige Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) verpflichten Journalistinnen und Journalisten, nach der Wahrheit zu suchen und sich an diese zu halten. Die Beschwerdeführerin macht geltend, die NZZ nutze unzureichende Quellen für einen Meinungskommentar, was einen Verstoss gegen die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung» darstelle. Tatsächlich haben Berliner Freibäder Ausweiskontrollen eingeführt, ein Bad wurde für eine Weile komplett geschlossen. Ob sich die fünf geschilderten Vorfälle tatsächlich genau so zugetragen haben, wie von der Journalistin geschildert, bleibt offen. Was aber klar ist: Über alle fünf Fälle wurde in anderen Medien so oder ähnlich berichtet, zum Teil sind sogar die entsprechenden Polizeimeldungen auffindbar. Einen Nachweis, dass die erwähnten Vorfälle im Artikel nicht der Wahrheit entsprechen beziehungsweise die Quellen unzureichend sind, erbringt die Beschwerdeführerin nicht. Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) ist nicht verletzt.
2. Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) besagt, es gehöre zum Fairnessprinzip des journalistischen Handwerks, sich über die verschiedenen Standpunkte von Beteiligten zu informieren: Werden schwere Vorwürfe erhoben, ist es Pflicht, den Betroffenen die Möglichkeit zu geben, Stellung zu nehmen. Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, die NZZ hätte eine Stellungnahme zu den Vorwürfen einholen müssen. Weder aber sind die von der NZZ gemachten Vorwürfe spezifisch («eine bestimmte Bevölkerungsgruppe») zuzuordnen noch gibt es eine zuständige Stelle, die hätte Stellung nehmen können. Im Ergebnis ist eine Verletzung der Anhörungspflicht für den Presserat nicht erkennbar.
3. Ziffer 8 der «Erklärung» verlangt den Respekt der Menschenwürde sowie den Verzicht auf diskriminierende Anspielungen in der Berichterstattung. Richtlinie 8.2 präzisiert dies: «Die Nennung der ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit, der Herkunft, der Religion, der sexuellen Orientierung und/oder der Hautfarbe kann diskriminierend wirken, insbesondere wenn sie negative Werturteile verallgemeinert und damit Vorurteile gegenüber Minderheiten verstärkt. Journalistinnen und Journalisten wägen deshalb den Informationswert gegen die Gefahr einer Diskriminierung ab und wahren die Verhältnismässigkeit.» Im vorliegenden Fall kritisiert die Journalistin das ihrer Ansicht nach drohende oder gewalttätige Verhalten einer bestimmten Gruppe von Menschen, nämlich junger Männer mit Migrationshintergrund. Kritik am Verhalten von Gruppen, welcher Art auch immer, muss möglich sein, solange es um dieses Verhalten und nicht um suggerierte Eigenschaften der ganzen Ethnie geht. Der Presserat sieht im Beitrag entsprechend keinen Verstoss gegen die Richtlinien 8.1 (Achtung der Menschenwürde) und 8.2 (Diskriminierungsverbot).
III. Feststellungen
1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.
2. Die NZZ hat mit dem Beitrag «An die Gewalt in deutschen Freibädern sollte sich niemand gewöhnen müssen» vom 22. Juni 2023 die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) und 8 (Menschenwürde / Diskriminierungsverbot) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.