I. Sachverhalt
A. Am 19. Oktober 2022 erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ) ein Text in der Rubrik «Kurzmeldungen» mit dem Titel: «Schweiz: Mehr Asylsuchende als im Vormonat und Vorjahr – hauptsächlich aus Afghanistan und der Türkei». Im Text wird erläutert, dass im September 2022 insgesamt 635 Asylgesuche mehr gestellt worden seien als im Vormonat. Im Vergleich zum September 2021 sei die Zahl um 1138 Gesuche gestiegen. Die Mehrzahl der Flüchtlinge komme derzeit aus Afghanistan und der Türkei.
Illustriert wird der kurze Text gleich unter dem Titel mit einem Foto, welches zwei Polizisten und einen Mann zeigt. Der Mann steht an einer Wand, die erhobenen Hände gegen die Wand gestützt. Der eine Polizist tastet seinen Körper ab, der andere beobachtet die Szene. An der Wand ein kleines Plakat mit der Überschrift «Ecstasy im Spielzeug», mehr lässt sich auf dem Bild nicht entziffern. Die Bildlegende lautet: «Die Zahl der Asylgesuche hat im Vergleich zum August zugenommen. Aber auch im Vergleich zum Vorjahr sind mehr Personen als Flüchtlinge in die Schweiz gekommen.»
B. Am 19. Oktober 2022 reichten X. und Y. Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Sie machen geltend, das Bild mit seiner Legende verletze die Richtlinie 8.2 (Diskriminierung) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»).
Zur Begründung führen sie an, der Text berichte von einem kürzlichen Anstieg von Asylgesuchen von Menschen, die vor Krieg und Diktatur flüchteten. Demgegenüber suggeriere das Foto etwas ganz anderes, nämlich das Bild des mutmasslich kriminellen Migranten, der kontrolliert werde. Die Illustration befeuere das Bild der kriminellen Asylsuchenden, während Flüchtlinge umgekehrt Menschen seien, die Schutz und Zuflucht vor grauenhaften Zuständen suchten. Es werde eine Text-Bild-Schere erstellt, welche asylsuchende Menschen in «ein rassistisches und xenophobes Framing» stelle.
C. Mit Beschwerdeantwort vom 6. Dezember 2022 beantragte der Rechtsdienst der «Neuen Zürcher Zeitung», auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, weil sie mangelhaft begründet sei. Es werde nicht ausreichend erklärt, worin eine Verletzung der Menschenwürde von Flüchtlingen bestehen soll, respektive inwiefern die Kombination von Text und Foto ein diskriminierendes Bild ergäbe. Eventualiter sei die Beschwerde abzuweisen.
Zur Begründung des Antrags auf Ablehnung führt die NZZ aus, das Bild sei im Februar 2022 von einer NZZ-Fotografin am Grenzübergang im Basler Bahnhof SNCF/SBB geschossen worden. Der Kontext sei «die verstärkten Kontrollen des BAZG [Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit, Anm. Presserat] am Bahnhof Basel und in den Zügen ab/bis Basel» gewesen. Das Bild zeige die Kontrolle eines ohne Papiere eingereisten, in Frankreich registrierten Flüchtlings afghanischer Herkunft, der versucht habe, sich bei der Einreise aus Frankreich an den Zollbehörden vorbei zu schleichen. Es falle schwer, auf die Beschwerde einzugehen, da dort nicht genügend begründet werde, worin angesichts dieses Bildes ein Verstoss bestehen soll. Die Verwendung von Symbolbildern sei vom Presserat und von der Bundesverfassung geschützt. Die Verwendung eines Symbolfotos im Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Zunahme von Flüchtlingen sei demgemäss erlaubt. Sie biete dem Leser ein besseres Erlebnis. Bei einer nicht auf identifizierbare Personen gerichteten Berichterstattung wähle man sehr bewusst Bilder von Personen aus, welche eben nicht identifiziert werden könnten. Man habe auch bewusst nicht ein Bild von Flüchtlingen gewählt, die im Wald oder auf dem Seeweg Grenzen passierten, sondern man habe sich für ein realitätsnahes Bild entschieden. Flüchtlinge reisten in ihrer Mehrheit per Bahn in die Schweiz. Das so darzustellen diskriminiere niemanden. Man frage sich, was für ein Bild denn angebracht wäre, wenn dieses nicht zulässig sei.
D. Am 31. Januar 2023 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.
E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 6. November 2023 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Der Presserat tritt auf die Beschwerde ein. Entgegen der Meinung der Redaktion NZZ beurteilt der Presserat das Anliegen der Beschwerdeführerinnen als ausreichend und verständlich begründet.
2. Die Beschwerdeführerinnen sehen in der Illustration der beiden Polizisten mit dem Mann an der Wand den Tatbestand einer Diskriminierung von Flüchtlingen erfüllt. Dem stimmt der Presserat nach ausführlicher Diskussion so nicht zu. Die Abbildung zeigt im Kontext einer Zunahme von Asylgesuchen von Flüchtlingen die polizeiliche Kontrolle eines Mannes an der Schweizer Grenze. Dies illustriert zwar nicht genau den in der Meldung beschriebenen Sachverhalt «Flüchtlinge» oder «Zahl der Flüchtlinge», es erfüllt aber umgekehrt auch nicht den Tatbestand einer Diskriminierung laut Richtlinie 8.2, welche sich speziell nach den Kriterien der «ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit, der Herkunft, der Religion, der sexuellen Orientierung und/oder der Hautfarbe» richtet. Die Richtlinie 8.2 und damit die Ziffer 8 der «Erklärung» ist nicht verletzt, auch wenn das Bild im vorliegenden Kontext ein falsches Cliché wecken mag, nämlich das des verdächtigen Migranten.
3. Es stellt sich für den Presserat deshalb vielmehr die Frage, ob die Darstellung im angegebenen Kontext gegen die Richtlinie 3.4 (Illustrationen) verstosse. Die Beschwerdeführerinnen führen diesen Punkt selber nicht an, das muss den Presserat aber nicht daran hindern, sich die Frage zu stellen, insbesondere wenn die Beschwerde nicht von JuristInnen verfasst wurde. Die Richtlinie 3.4 (Illustrationen) besagt: «Bilder oder Filmsequenzen mit Illustrationsfunktion, die ein Thema, Personen oder einen Kontext ins Bild rücken, die keinen direkten Zusammenhang mit dem Textinhalt haben (Symbolbilder), sollen als solche erkennbar sein. Sie sind klar von Bildern mit Dokumentations- und Informationsgehalt unterscheidbar zu machen, die zum Gegenstand der Berichterstattung einen direkten Bezug herstellen.» Das von der NZZ gewählte Bild zeigt einen in Frankreich registrierten afghanischen Flüchtling, der in die Schweiz einreisen wollte, sich entsprechend verdächtig verhielt und deswegen kontrolliert wurde. Thema des Beitrags war die Zahl der Flüchtlinge, die hier Asyl suchen und sich damit weder verdächtig noch illegal verhalten. Insofern ist kein direkter Zusammenhang zwischen dem Inhalt des Textes und dem Bild gegeben, das Bild hätte entsprechend mindestens als Symbolbild gekennzeichnet sein sollen, besser wäre – um nicht irreführend zu wirken – eine andere Illustration gewesen. Etwa ein Symbolbild aus einem Aufnahmezentrum oder von einem Aufnahmeverfahren.
Da das Bild doch im Kontext verstärkter Grenzkontrollen von einreisenden Flüchtlingen entstanden ist und die Beschwerdeführerinnen diesen Punkt gar nicht moniert haben, sieht der Presserat knapp von einer Rüge ab. Er weist aber darauf hin, dass die Wahl des Bildes im vorliegenden Kontext aus den erwähnten Gründen problematisch war und dass es mindestens als Symbolbild hätte gekennzeichnet werden müssen.
III. Feststellungen
1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.
2. Die «Neue Zürcher Zeitung» hat mit dem Artikel «Schweiz: Mehr Asylsuchende als im Vormonat und Vorjahr – hauptsächlich aus Afghanistan und der Türkei» vom 19. Oktober 2022 und der dazugehörigen Illustration die Ziffer 8 (Wahrung der Menschenwürde) und 3 (Quellenbearbeitung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.