I. Sachverhalt
A. Am 27. Juli 2022 veröffentlichte das «Tagblatt der Stadt Zürich» auf Seite drei einen Artikel mit dem Titel «Wieder besser verstehen mit der Gehörtherapie». Darüber steht im Seitenkopf gross «Verlagsreportage», in gleicher Schriftart, Schriftgrösse und Farbe wie Seitentitel von redaktionellen Seiten. Der vierspaltige Text beschreibt ein Therapieangebot eines «KOJ-Instituts» mit welchem das Gehör trainiert und verbessert werden könne. Der Therapiekurs koste 250 Franken, zum Jubiläum des Instituts könnten aber die ersten 200 Personen, die sich meldeten, das Training gratis besuchen.
B. Am 29. Juli 2022 reichte X. Beschwerde gegen den Artikel beim Schweizer Presserat ein. Der Beschwerdeführer macht einen Verstoss gegen die Richtlinie 10.1 (Trennungsgebot von Werbung und redaktionellem Inhalt) der Ziffer 10 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») geltend. Er begründet dies damit, die von der «Erklärung» geforderte klare Trennung zwischen redaktionellen Beiträgen und Werbung sei bei diesem Artikel nicht gegeben. Zum einen sei die Deklaration «Verlagsreportage» irreführend, sie mache nicht auf den ersten Blick verständlich, worum es sich hier handle, der Begriff «Reportage» sei positiv konnotiert, er verschleiere den Fakt, dass es sich hier um Werbung handle.
Zudem wäre der Artikel selbst dann zu kritisieren, so der Beschwerdeführer, wenn er mit «Werbung» überschrieben wäre, weil er sich in seiner Aufmachung praktisch nicht von den redaktionellen Inhalten absetze. Deswegen sei die Vermittlung dieser Werbung speziell für die vermutlich eher ältere Leserschaft des «Tagblatt», die sich mit diesen neuen Methoden nicht auskenne, noch immer problematisch.
C. Am 24. Oktober 2022 nahm Chefredaktorin Lucia Eppmann für das «Tagblatt der Stadt Zürich» zur Beschwerde Stellung. Sie stellt dabei fest, dass das «Tagblatt» mit dem Ausdruck «Verlagsreportage» klar mache, dass Geld geflossen sei. Die entsprechenden Tarife seien in der Tarifliste des «Tagblatt» transparent publiziert. Inserate, Verlagsreportagen und Publireportagen seien heute gängige, überlebensnotwendige Finanzierungsmodelle. Wenn bei Kultur-Vorschauen, politischen oder kommerziellen Texten Geld fliesse, werde auch dies direkt mit «Paid Post» bezeichnet. All dies sei in grossen Medienhäusern üblich. Andere Finanzierungsmodelle gebe es in einer Gratis-Zeitung nicht, das «Tagblatt» lebe nur von diesen Einkünften, es verfüge über keine Abo-Erträge. Die Deklarierung von kommerziellen Beiträgen, bei denen Geld fliesse, werde im «Tagblatt» in diesem Sinne stets ersichtlich gemacht, womit die Trennung zu den redaktionellen Beiträgen gewährleistet sei. Die Chefredaktorin legt ihrer Antwort die Tarifliste des «Tagblatt» für Werbung, Verlagsreportage und Publireportage bei. Daraus ergibt sich, dass eine ganzseitige «Verlagsreportage», wie der vorliegende Text 9187 Franken kostet und im «Tagblatt-Layout erscheint», womit man eine «noch bessere Wirkung» erzielt (gemeint: als mit reiner Werbung).
D. Am 31. Januar 2023 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde gemäss Artikel 13 Abs. 1 vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.
E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 3. April 2023 verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Zwischen den Parteien ist unbestritten, dass es sich bei einer «Verlagsreportage» um einen Text handelt, der im Wesentlichen von einem Auftraggeber bereitgestellt und gegen Bezahlung von der Zeitung abgedruckt wird, also um Werbung. Strittig ist, ob die Bezeichnung «Verlagsreportage» den Charakter eines Textes als Werbung unmissverständlich klar macht, wie Richtlinie 10.1 dies verlangt. Der Beschwerdeführer argumentiert, das Gegenteil sei der Fall, dieser Ausdruck verschleiere den Charakter des Textes. Um den wahren Inhalt des Wortes zu verstehen werde Wissen vorausgesetzt, das nicht bei allen Lesenden vorhanden sei. Zudem sei «Reportage» als journalistischer Begriff positiv konnotiert. Das «Tagblatt» erwidert, «Verlagsreportagen» und «Publireportagen» seien in der Branche übliche Begriffe und damit mache das «Tagblatt» klar ersichtlich, wo Geld geflossen sei.
2. Es trifft zu, dass Ausdrücke wie «Publireportage» und «Verlagsreportage» Begriffe sind, die in der Branche immer mehr verwendet werden. Das sagt aber wenig darüber aus, wie die Begriffe von der durchschnittlichen Leserin, dem durchschnittlichen Leser verstanden werden. Zum einen ist die Reportage eine «aktuelle Berichterstattung mit Interviews, Kommentaren o. Ä. in der Presse, im Film, Rundfunk oder Fernsehen» (Duden), welche sich von anderen Formen der Berichterstattung insbesondere auch dadurch unterscheidet, dass sie nicht am Schreibtisch entsteht, sondern vom Brennpunkt des Geschehens her berichtet. All das ist mit dem vorliegenden Text nicht gegeben. Der Vorsatz «Verlags-» signalisiert zum anderen, dass der Verlag in der Berichterstattung eine entscheidende Rolle spielt. Auch dies trifft nicht zu, der Verlag überlässt die Information im Gegenteil ganz dem Werbetreibenden. «Verlagsreportage» – so gängig der Ausdruck in den Verlagen auch geworden sein mag – signalisiert dem Publikum etwas anderes, als was man ihm anbietet. Das «Tagblatt» weist in seiner Tarifübersicht denn auch auf die entsprechende Wirkung hin, wenn es den Vergleich zur Werbung macht: «Ihre Verlagsreportage erscheint im Tagblatt-Layout. Sie bezahlen dafür einen Zuschlag von 20 Prozent, profitieren aber von einer noch besseren Wirkung.»
Diese «bessere Wirkung» kann nur darin bestehen, dass die Leserschaft nicht wie bei der klar erkennbaren Werbung gleich weiterblättert, sondern im vermeintlich redaktionellen Text eher zu lesen beginnt. Die klare Trennung von Berichterstattung und Werbung ist nicht gegeben, die Richtlinie 10.1 ist mit dieser Deklarierung verletzt.
3. Diese Schlussfolgerung gilt umso mehr, als eine Untersuchung der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW ergeben hat, dass der Grossteil der Leserschaft auch Texte nicht als Werbung erkennt, welche deutlicher als Werbung gekennzeichnet sind, etwa mit Umschreibungen wie «Paid Post», «Paid Content», «Sponsored Content», «native advertising» und dergleichen. Deswegen fordert der Presserat in konstanter Praxis (zuletzt Stellungnahmen 4/2019, 67/2019, 17/2020, 28/2021), dass derartige Inhalte transparent als das bezeichnet werden, was sie sind, nämlich als Werbung.
4. Der Presserat ist sich bewusst, dass insbesondere Gratismedien unter der gegenwärtigen Entwicklung in der Branche zu leiden haben, dass sie auf Werbegelder angewiesen sind. Das ist unbestritten, der Presserat bemüht sich denn auch, diesem Umstand Rechnung zu tragen. Wo es aber darum geht, die Grenze zwischen Journalismus und PR bewusst zu verwischen, leidet letztlich ein zu hohes Gut, nämlich die Glaubwürdigkeit journalistischer Arbeit. Insgesamt ist die Richtlinie 10.1 und damit die Ziffer 10 der «Erklärung» verletzt.
III. Feststellungen
1. Der Presserat heisst die Beschwerde gut.
2. Das «Tagblatt der Stadt Zürich» verletzte mit dem Text «Wieder besser verstehen mit der Gehörtherapie» vom 27. Juli 2022 die Ziffer 10 (Trennung von redaktionellem Teil und Werbung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten».