I. Sachverhalt
A. Am 16. März 2022 erschien auf der Frontseite von «20 Minuten» ein Bildanriss mit dem Titel «Model kritisierte Putin – ihr Freund tötete sie». Es ist ein Hinweis auf einen Text von Lara Hofer auf Seite 10 derselben Ausgabe, mit dem Titel «Putinkritisches Model liegt tot im Koffer – Freund gesteht».
Im Text auf Seite 10 wird über den Femizid an Gretta Vedler berichtet. Das russische Model wurde bereits ein Jahr vermisst, als ihre Leiche im Kofferraum eines Autos gefunden wurde. Ihr Ex-Freund hat die Tat zugegeben. Die junge Frau habe auf Social Media mehrfach Wladimir Putin kritisiert. Sie nannte den russischen Präsidenten unter anderem einen Psychopathen oder Soziopathen.
Im erwähnten Artikel heisst es: «Der Tod des Models wird gemäss den russischen Behörden jedoch nicht in direkten Zusammenhang mit ihrer Kritik an Putin gebracht, denn ihr Ex-Freund hat offenbar bereits gestanden (…).» Er habe sie wegen Geldproblemen umgebracht. Der Artikel endet mit dem Satz: «Der Mord habe demnach nichts mit Vedlers politischen Ansichten zu tun gehabt.»
B. Am 13. Juni 2022 reichte X. eine Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er macht geltend, die Schlagzeile auf der Frontseite von «20 Minuten» verletze die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»). «20 Minuten» stelle mit dem Titel einen Zusammenhang her, den es gar nicht gebe. Inhaltlich stimme nur die zeitliche Abfolge: Zuerst kam die Kritik, dann der Femizid. Doch der Gedankenstrich zwischen den beiden Titelteilen erstelle einen Konnex zwischen den beiden Aussagen. Dieser Zusammenhang bleibe nicht nur unbelegt, er werde sogar gegen Ende des Artikels widerlegt.
C. Mit Beschwerdeantwort vom 30. August 2022 beantragte der Rechtsdienst der TX Group, zu welcher «20 Minuten» gehört, die Beschwerde abzuweisen.
Die Wahrheitspflicht, Ziffer 1 der «Erklärung», sei mit der Schlagzeile «Model kritisierte Putin – ihr Freund tötete sie» nicht verletzt worden. Der Gedankenstrich könne gemäss Duden etwas Unerwartetes ankündigen, zwischen Sätzen aber auch einen Wechsel des Themas markieren. Dass zwischen den beiden Aussagen im Titel eine Kausalität bestehe, sei eine Interpretation des BF, die sich aus Sicht der Redaktion nicht aufdränge. Diese werde noch nicht einmal nahegelegt, da kausale Konjunktionen fehlen würden.
Die Beschwerdegegnerin macht weiter geltend, im Text werde keinerlei Zusammenhang hergestellt. Der Text gebe vielmehr eine Reihung der interessantesten Aspekte des Falls wieder und zwar auf beschränktem Platz. Dass sich das Model kurz nach Beginn der russischen Invasion der Ukraine kritisch über Putin geäussert habe, sei bemerkenswert, umso mehr, als dies just die Zeit gewesen sei, in der kriegskritische Kundgebungen in Russland brutal niedergeschlagen worden seien.
Laut «20 Minuten» werde die behauptete Kausalität nirgends erwähnt. Sie sei deshalb auch nicht zu belegen oder zu korrigieren.
D. Am 20. September 2022 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Präsidium behandelt, bestehend aus Susan Boos, Präsidentin, Annik Dubied, Vizepräsidentin, Jan Grüebler, Vizepräsident, und Ursina Wey, Geschäftsführerin.
E. Das Präsidium des Presserats hat die vorliegende Stellungnahme am 9. Dezember 2022 verabschiedet.
II. Erwägung
Ziffer 1 der «Erklärung» und die zugehörige Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) verpflichten Journalisten und Journalistinnen auf die Wahrheit.
Der Titel des Bildanrisses «Model kritisierte Putin – ihr Freund tötete sie» ist irreführend und falsch. Die durchschnittlichen LeserInnen erkennen darin einen kausalen Zusammenhang, der eben nicht gegeben ist. Um eine derartige Verbindung anzunehmen, braucht es in einem Satz keine Konnektoren wie «weil» oder «da». Das ist vor allem dann nicht notwendig, wenn es sich ohnehin um keinen vollständigen Satz, sondern um eine Schlagzeile handelt, die immer eine Verkürzung darstellt.
Die Beschwerdegegnerin argumentiert, der Text gebe eine Reihung der interessantesten Aspekte des Falles wieder und zwar auf beschränktem Platz. Es sei bemerkenswert, dass sich das Model kurz nach Beginn der russischen Invasion der Ukraine kritisch über Putin geäussert habe, also zu einer Zeit, in der kriegskritische Kundgebungen in Russland brutal niedergeschlagen worden seien. Daraus lässt sich nichts zu Gunsten der Argumentation der TX Group ableiten. Bevor sie gefunden wurde, galt Gretta Vedler ein Jahr lang als vermisst. Die im Artikel erwähnten Äusserungen auf Social Media machte sie im Januar 2021. Das heisst, der im Titel suggerierte Zusammenhang zwischen der Kritik an Putin und dem Tod des Models entspricht nicht den Tatsachen. Ziffer 1 der «Erklärung» ist somit verletzt.
III. Feststellungen
1. Der Presserat heisst die Beschwerde gut.
2. «20 Minuten» hat mit der Schlagzeile «Model kritisierte Putin – ihr Freund tötete sie» vom 16. März 2022 die Ziffer 1 (Wahrheit) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.