I. Sachverhalt
A. Am 24. März 2021 veröffentlichte das Nachrichtenportal «nau.ch» einen Artikel, gezeichnet von Matthias Bärlocher, mit dem Titel «Juso legt sich mit ‹Mass-Voll›-Demonstranten an». Im Text wird berichtet, die JungsozialistInnen erhöben im Zusammenhang mit Manifestationen gegen die Maskenpflicht schwere Vorwürfe an die Adresse von Organisationen wie «Mass-Voll». So bezeichne Juso-Chefin Ronja Jansen diese Gruppierung als «höchst gefährlich». Sie habe zwar Verständnis für Menschen, die nicht mehr wüssten, wie sie ihre Rechnungen bezahlen sollten und in der Not überstürzten Öffnungen zustimmten. Aber nicht für «Mass-Voll»: Diese Organisation gebe Unabhängigkeit vor, akzeptiere aber Rechtsextreme in ihren Reihen. «Mass-Voll»-Gründer Nicolas Rimoldi wird zitiert mit der Bemerkung, «Mass-Voll» sei eine existenzielle Bedrohung für die Juso, deshalb reagiere diese «hysterisch und mit wilden Verschwörungstheorien». Er bezeichne die Jusos als «Elite», deren Existenzgrundlage die Ausbeutung, das Leben auf Kosten anderer, sei. Es sei nicht sozial, wenn «Mass-Voll»-Mitglieder Opfer von Hass und Gewalt von Juso-Mitgliedern würden. Rimoldi sagt in diesem Zusammenhang: «Juso-Mitglieder haben in Wohlen wie auch in Liestal vermummt ältere Menschen hinterrücks angegriffen.»
In der am 24. März um 07.00 Uhr aufgeschalteten Version des Artikels nimmt die Juso-Chefin nicht Stellung zum Vorwurf, vermummte Jusos hätten ältere Menschen hinterrücks angegriffen. Es wird nur gesagt, das sei ein Satz, den Juso-Chefin Jansen mit umgekehrten Vorzeichen auch hätte sagen können. In einer zeitlich mit 08.00 gekennzeichneten Version ist nach dem Vorwurf von Juso-Gewalt eine Ergänzung eingefügt: Die Juso-Chefin Jansen wolle die Andeutung, Mitglieder ihrer Partei könnten gewalttätig geworden sein, so nicht stehen lassen. Solange keine Anklage erhoben worden sei, sei es unhaltbar, so etwas zu behaupten. Wenn schon, dann sei es umgekehrt gewesen: «Ich weiss nur, dass Juso-Mitglieder von Rechtsradikalen verfolgt wurden und in ein Haus flüchten mussten.»
B. Gleichentags reichte X. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den Artikel ein. Er macht einen Verstoss gegen die zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend: «Erklärung») gehörende Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) geltend. Zur Begründung führt er aus, der Vorwurf, «Mass-Voll»-Mitglieder seien Opfer von Hass und Gewalt geworden, Juso-Mitglieder hätten vermummt und hinterrücks ältere Menschen angegriffen, erfülle den Tatbestand von «schweren Vorwürfen», wie ihn die Richtlinie 3.8 voraussetze. Entsprechend hätte dazu eine Stellungnahme der Juso-Seite publiziert werden müssen. Als «schwerer Vorwurf» gelte nach presserätlicher Praxis die Behauptung eines illegalen oder vergleichbaren Verhaltens, das sei im vorliegenden Fall sicher gegeben, entsprechend sei eine Verletzung von Richtlinie 3.8 zu rügen.
C. Am 11. Mai 2021 nahm der stellvertretende Chefredaktor von «nau.ch», Christof Vuille, zur Beschwerde Stellung. Die Redaktion beantragt, es sei auf die Beschwerde nicht einzutreten, falls doch, sei diese abzuweisen. Nichteintreten begründet «nau.ch» damit, dass der Text kurz nach der Publikation durch eine Stellungnahme der Juso-Chefin ergänzt, also eine Korrekturmassnahme ergriffen worden sei.
Der Antrag auf Ablehnung wird damit begründet, dass der Vorwurf einer fehlenden Stellungnahme der Juso-Seite falsch sei. Ronja Jansen habe zu Nicolas Rimoldis Vorwürfen ausführlich Stellung nehmen können. Diese Stellungnahme sei «umgehend nach Publikation ergänzt» worden. Damit stehe Aussage gegen Aussage. Zudem lasse Rimoldis Formulierung («vermummt ältere Menschen hinterrücks angegriffen») viel Interpretationsspielraum offen.
D. Am 18. Mai 2021 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde gemäss Artikel 13 Abs. 1 des Geschäftsreglements von der Geschäftsführerin Ursina Wey behandelt.
E. Die Geschäftsführerin hat am 24. August 2021 in Absprache mit dem Präsidium des Presserats folgendermassen Stellung genommen:
II. Erwägungen
1. Der Presserat tritt auf die Beschwerde ein. Die Redaktion führt zwar an, sie habe eine Korrekturmassnahme getroffen und impliziert damit, sie habe so die Anforderung von Art. 11 Absatz 1 des Geschäftsreglements (Korrekturmassnahme als Voraussetzung für ein Nichteintreten) erfüllt. Das ist aber nicht der Fall: Art. 11 Abs. 1 legt fest, dass die Korrekturmassnahme eine solche Wirkung nur zeigt, wenn es um eine Angelegenheit von geringer Bedeutung geht. Das ist beim Vorwurf von Gewaltanwendung hinterrücks gegen ältere Menschen nicht der Fall.
2. Die Richtlinie 3.8 (Anhören bei schweren Vorwürfen) legt fest, dass eine Partei angehört werden und Stellung nehmen können muss, wenn ihr «schwere» Vorwürfe gemacht werden. Der Beschwerdeführer stellt zu Recht fest, dass der Vorwurf, Jusos hätten «vermummt ältere Menschen hinterrücks angegriffen», ein schwerer Vorwurf im Sinne der presserätlichen Praxis sei, welche darauf abstellt, ob es sich beim vorgeworfenen Verhalten um ein «illegales oder vergleichbares Verhalten» handle. Der Einwand von «nau.ch», wonach die fragliche Formulierung viel Interpretationsspielraum zulasse, trifft nicht zu. Schon die Formulierung selber impliziert illegales und verwerfliches Handeln. Hinzu kommt aber der Satz gleich davor, wonach «‹Mass-Voll›-Mitglieder Opfer von Hass und Gewalt von Juso-Mitgliedern würden». Die beiden Sätze zusammengenommen (Hass, Gewalt, vermummt ältere Menschen hinterrücks angegriffen) lassen hinsichtlich eines «illegalen oder vergleichbaren Verhaltens» keinen Spielraum offen. Der beschuldigten Partei musste Raum für eine Stellungnahme zu diesem Vorwurf gewährt werden.
3. Demnach ist noch die Frage zu prüfen, ob die Stellungnahme im Artikel in genügender Weise erfolgt ist. Gemäss den vom Beschwerdeführer eingereichten beiden Versionen des Artikels, auf welche auch «nau.ch» verweist, ist der Text um 07.00 Uhr ohne die Stellungnahme der Juso-Seite publiziert worden. In der um 08.00 ergänzt erscheinenden Version ist eine Stellungnahme von Juso-Chefin Jansen enthalten. Diese Stellungnahme ist ausführlich, inhaltlich sicherlich genügend. Der Presserat begrüsst die Bereitschaft von «nau.ch», den Mangel auf diese Weise schnell zu beheben.
Allerdings ist hinsichtlich der Anforderung von Richtlinie 3.8 entscheidend, was in der ursprünglichen Version zu lesen war (vgl. dazu Stellungnahme 37/2016). Nach dem Stand der Dinge, wie ihn der Presserat den Akten entnimmt, war der Text eine Stunde lang («nau.ch» bleibt in dieser Hinsicht vage: Ergänzung «umgehend» nach der Publikation) ohne die Juso-Stellungnahme online. Das heisst, ein erheblicher Teil der Leserschaft hat den Artikel in der Morgenlektüre ohne die Stellungnahme der beschuldigten Seite zu lesen bekommen. Damit ist Richtlinie 3.8 verletzt worden, die Stellungnahme hätte von Beginn an im Artikel enthalten sein müssen.
III. Feststellungen
1. Der Presserat heisst die Beschwerde gut.
2. «nau.ch» hat mit dem Artikel «Juso legt sich mit ‹Mass-Voll›-Demonstranten an» vom 24. März 2021 die Ziffer 3 (Anhören bei schweren Vorwürfen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.