Nr. 70/2020
Quellenbearbeitung / Umgang mit Zitaten

(X. c. «Tages-Anzeiger» online)

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Zusammenfassung

Der Schweizer Presserat heisst eine Beschwerde gegen die Redaktion von Tamedia teilweise gut, weil sie einem von ihr Porträtierten ein Zitat unterschob, das dieser so nie gesagt hatte. Konkret handelt es sich um Ken Jebsen, der als einer der Drahtzieher hinter den im Frühjahr 2020 unter anderem in Berlin stattfindenden Demonstrationen gegen die Corona-Massnahmen der deutschen Regierung präsentiert wird.

Jebsen «bediene antisemitische Ressentiments gegen den angeblichen ‹Juden-Kapitalismus›», heisst es im sowohl online als auch im Print publizierten Artikel. Der Begriff Juden-Kapitalismus ist in Anführungszeichen gesetzt, obgleich kein Beleg präsentiert wird, dass Jebsen ihn je verwendet hat. Tatsächlich attestiert Tamedia in ihrer Antwort auf die Beschwerde einer Schweizer Privatperson, Jebsen verwende diesen Begriff so wohl tatsächlich nicht. «Juden-Kapitalismus» habe allerdings gar nicht als Zitat Jebsens, sondern bloss als Beispiel für die von Jebsen bedienten antisemitischen Ressentiments dienen sollen.

Dazu hält der Presserat fest: Wer einen Begriff in einem Satz, der die Denkweise einer Person beschreibt, in Anführungszeichen setzt, schreibt ihn dieser Person zu; dies gilt umso mehr, wenn die betreffende Person im Satz grammatikalisch betrachtet Subjekt ist. Mit der Zuschreibung des Zitats hat Tamedia die von Jebsen geäusserte Meinung entstellt und somit gegen Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen.

Nicht verletzt hat Tamedia die Standesregeln hingegen mit der Aussage, auf Jebsens Onlineplattform KenFM sei im Vorfeld einer Demonstration in Berlin «kaum verhüllt zu Gewalt gegen ein TV-Team der satirischen ‹heute-show› aufgerufen» worden.

Résumé

Le Conseil suisse de la presse accepte partiellement une plainte contre la rédaction de Tamedia: celle-ci avait faussement attribué une citation à une personne dont elle avait dressé le portrait. Concrètement, il en allait de Ken Jebsen, présenté comme un des instigateurs des manifestations qui se sont déroulées au printemps 2020, notamment à Berlin, contre les mesures prises par le gouvernement allemand pour lutter contre le Covid-19.

Jebsen exploitait le ressentiment antisémite contre le prétendu ‹capitalisme juif› («bediene antisemitische Ressentiments gegen den angeblichen ‹Juden-Kapitalismus›»), était-il écrit dans l’article publié aussi bien en ligne que dans le journal imprimé. Le terme de capitalisme juif était placé entre guillemets sans qu’aucun élément ne soit fourni pour étayer son utilisation par Jebsen. Tamedia a effectivement déclaré dans sa réponse à la plainte d’un particulier suisse que Jebsen n’avait pas vraiment utilisé ce terme. «Capitalisme juif» n’était toutefois pas destiné à citer Jebsen, mais seulement à servir d’exemple du ressentiment antisémite exploité par Jebsen.

L’avis du Conseil de la presse est le suivant: qui place un terme entre guillemets dans une phrase décrivant la pensée d’une personne l’attribue à cette personne et ce, d’autant plus que ladite personne est le sujet de la phrase au plan grammatical. En attribuant cette citation à Jebsen, Tamedia a dénaturé l’opinion exprimée par Jebsen et par conséquent violé le chiffre 3 de la «Déclaration des devoirs et des droits du/de la journaliste».

Tamedia n’a en revanche pas contrevenu aux règles déontologiques en écrivant que la plateforme en ligne de Jebsen, KenFM, avait de manière à peine voilée incité à la violence contre une équipe télé du satiriste ‹heute-show›, avant la manifestation de Berlin («kaum verhüllt zu Gewalt gegen ein TV-Team der satirischen ‹heute-show› aufgerufen»).

Riassunto

Il Consiglio della stampa ha accolto parzialmente un reclamo contro la redazione del gruppo Tamedia per aver attribuito a una persona di cui era fatto il ritratto un’affermazione che non risultava espressa nei termini riferiti. La persona in oggetto è Ken Jebsen, citato come ispiratore di manifestazioni svoltesi in varie città, tra cui Berlino, nella primavera del 2020, contro le misure precauzionali decise dal governo tedesco per arginare la pandemia di corona-virus.

Secondo l’articolo, pubblicato sia nella versione a stampa sia online, Jebsen «si serve di pregiudizi correnti contro il cosiddetto capitalismo giudaico». Il termine «capitalismo giudaico» è messo tra virgolette, ma il giornale omette di precisare quando Jebsen lo abbia utilizzato. Riferendosi al reclamo, Tamedia riconosce come in effetti in termini così precisi Jebsen non si sia mai espresso: il termine «capitalismo giudaico» era usato come esempio di risentimento antisemita tipico del suo modo di esprimersi.

Il Consiglio della stampa osserva che un concetto citato tra virgolette rappresenta un’attribuzione precisa alla persona citata, tanto più se la persona è l’oggetto della frase. L’attribuzione errata rappresenta perciò una violazione della Cifra 3 della «Dichiarazione dei doveri e dei diritti dei giornalisti».

Non costituisce violazione della deontologia, invece, l’affermazione che il sito online KenFM di Jebsen, in un articolo di annuncio di una manifestazione che avrebbe avuto luogo a Berlino, «non nasconde neppure di istigare alla violenza contro una squadra dell’emittente satirica «heute-show».

I. Sachverhalt

A. Am 14. Mai 2020 publizierte das Tamedia-Newsnetz einen Onlineartikel mit dem Titel «Das sind die Köpfe hinter den Corona-Protesten». Autor ist der Berlin-Korrespondent Dominique Eigenmann. Tags darauf erscheint sein Artikel unter dem Titel «Ihr Virus heisst Verschwörung» auch in der Printausgabe der Tamedia-Zeitungen.

Der Artikel besteht aus fünf Kurzporträts von Personen, die bei den im Frühjahr 2020 in vielen deutschen Städten zu beobachtenden Demonstrationen gegen die Corona-Politik der Regierung eine bedeutende Rolle einnehmen. Bei den Demonstrationen träfen sich besorgte Bürger, Verschwörungstheoretiker, Esoteriker, Impfgegner sowie Rechts- und Linksextreme, schreibt Eigenmann. Zwar sei diese «Querfront» nicht zentral gesteuert, doch gebe es Mobilisierer und Anheizer. Hierbei handle es sich unter anderem um den Radiomoderator Ken Jebsen, den Koch Attila Hildmann, den Sänger Xavier Naidoo, den Theatermacher Anselm Lenz und den Arzt Bodo Schiffmann. Noch sei der «Widerstand» der «Corona-Rebellen» primär verbal, bereits sei aber auch zu Notwehr oder Selbstjustiz aufgerufen worden. In der Folge sei es zu gewalttätigen Übergriffen gekommen.

Der als Radiomoderator bekannt gewordene Ken Jebsen sei 2011 wegen antisemitischer Äusserungen von der Berliner Landesanstalt der ARD entlassen worden, heisst es in Eigenmanns erstem Kurzporträt. Seither sende Jebsen mit einem eigenen Radio im Internet, das quasi als offizieller Medienpartner der Corona-Proteste fungiere. Seit Jahren bestehe Jebsens Geschäftsmodell aus alternativen Wahrheiten und Verschwörungserzählungen, meist hetze er gegen die USA und «Zionisten», gegen Medien und Eliten. Eine Woche zuvor habe er ein halbstündiges Video mit dem Titel «Gates kapert Deutschland» veröffentlicht, das in dieser kurzen Zeit mehr als drei Millionen Mal aufgerufen worden sei. Darin behaupte Jebsen, Gates habe mit seinen Spenden die Weltgesundheitsorganisation und die deutsche Regierung gekauft und dazu gebracht, eine Hygiene-Diktatur zu errichten; sein Ziel sei eine globale Impfpflicht samt Chipzwang, um Geld zu scheffeln und die Weltherrschaft zu übernehmen.

Jebsen, schreibt Eigenmann, bediene alte antisemitische Ressentiments gegen den angeblichen «Juden-Kapitalismus». Wie andere Rebellen berufe er sich auf das Widerstandsrecht im deutschen Grundgesetz, um gegen die aus seiner Sicht illegitime Regierung vorzugehen. Vor der Berliner Demo am 1. Mai sei auf Jebsens Plattform «kaum verhüllt zu Gewalt gegen ein TV-Team der satirischen ‹heute-show› aufgerufen» worden, das die Demonstranten lächerlich machen wolle. Prompt seien die ZDF-Mitarbeiter von Personen, die die Polizei linksextremen Kreisen zurechne, mit Eisenstangen angegriffen worden.

Da sich die vorliegende Presseratsbeschwerde einzig gegen die Darstellung Ken Jebsens richtet, werden die übrigen vier Kurzporträts auch in diesem Sachverhalt ausgespart.

B. Am 15. Mai 2020 erhob X. beim Presserat Beschwerde. Geltend macht er eine Verletzung von Ziffer 3 und Richtlinie 3.1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten». Im Artikel werde Jebsen des Antisemitismus bezichtigt und behauptet, der Radiomoderator habe zu Gewalt aufgerufen, schreibt der Beschwerdeführer. Beides seien schwerwiegende Vorwürfe, die Jebsen als Journalisten sowie sein Portal diskreditierten. Doch seien beide Vorwürfe unbelegt. Konkret stört sich der Beschwerdeführer an zwei Aussagen Eigenmanns. Erstens: «Vor der Berliner Demo am 1. Mai wurde auf seiner [Jebsens] Plattform kaum verhüllt zu Gewalt gegen ein TV-Team der satirischen ‹heute-show› aufgerufen, das die Demonstranten lächerlich zu machen suche.» Zweitens: «Zugleich bedient er [Jebsen] alte antisemitische Ressentiments gegen den angeblichen ‹Juden-Kapitalismus›.»

Die erste Einschätzung beruhe wohl auf einem Kommentar, den Bernhard Loyen geschrieben habe, ein anderer regelmässiger Autor der Plattform KenFM. Zwar werde in dessen Kommentar tatsächlich zu Widerstand aufgerufen, doch beziehe sich dieser eindeutig auf die Corona-Massnahmen der deutschen Bundesregierung und nicht auf die Heute-Show. Ein Aufruf zu Gewalt gegen das ZDF-Kamerateam lasse sich nicht herauslesen. Da sich KenFM als «freies Presseportal» verstehe, würden dort auch Kommentare publiziert, die nicht die Meinung Jebsens widergäben. Im Kontext dessen, dass in anderen Beiträgen auf der Plattform betont werde, dass jeglicher Widerstand friedlich und gewaltfrei zu erfolgen habe, sei der Vorwurf, KenFM rufe zu Gewalt auf, einseitig und im Widerspruch zur Stossrichtung des Portals.

Zur zweiten Aussage im Tamedia-Artikel schreibt der Beschwerdeführer, Jebsen äussere zwar tatsächlich regelmässig Kritik am Zionismus und an Israel. Insofern sei die Aussage vertretbar, der Radiomoderator bediene antisemitische Ressentiments. Nicht angehen könne aber, dass Jebsen der Begriff «Juden-Kapitalismus» in den Mund gelegt werde. Die Verwendung von Anführungszeichen kennzeichne diesen Begriff eindeutig als Zitat, genauso wie die anderen verwendeten Begriffe als Zitate aufzufassen seien (z.B. «Rebellen», «Widerstandsrecht», «illegitime Regierung»). Der Begriff «Juden-Kapitalismus» sei eindeutig und für jeden Leser als antisemitisch erkennbar, ganz unabhängig vom Kontext, in dem er geäussert werde. «Wenn man davon ausgeht, dass dieses Zitat tatsächlich stimmt, ist Ken Jebsens Antisemitismus nicht mehr die Meinung des Journalisten des beanstandeten Beitrags, sondern eine Tatsache, sodass es sich erübrigt, sich weiter mit den inhaltlichen Positionen von Ken Jebsen auseinanderzusetzen. Sollte hingegen Ken Jebsen diesen Begriff niemals selber geäussert haben, so ist die Zuschreibung eines solchen Begriffs ein grober Verstoss gegen die journalistische Sorgfaltspflicht, man könnte gar von Hetzkampagne sprechen.»

Im Internet seien keine Belege oder Quellen dafür zu finden, dass Jebsen jemals von «Juden-Kapitalismus» gesprochen habe, so der Beschwerdeführer abschliessend. In Kenntnis seiner Publikationen halte er dies für sehr unwahrscheinlich.

C. Am 10. Juli 2020 antwortete die durch die Tamedia-Konzernanwältin vertretene «Tages-Anzeiger»-Redaktion auf die Beschwerde und beantragte, diese abzuweisen.

Tatsächlich beziehe man sich bei der ersten vom Beschwerdeführer gerügten Aussage auf den von diesem erwähnten, auf KenFM publizierten Kommentar von Bernhard Loyen. Anders als dargestellt, sei jedoch keineswegs eindeutig, auf was sich Loyens Aufruf zu Widerstand beziehe. Kurz vor der entscheidenden Passage habe der Autor Begriffe wie «Wut» und «Faust in der Tasche» platziert, bevor er unmittelbar danach konkret auf vier anstehende Demonstrationen in Berlin Bezug nehme – mit dem Vermerk, dass die Teilnehmer dieser Demonstrationen eine «stetig wachsende Diskreditierung durch die Medien» erführen. In der Folge weise er darauf hin, dass ein TV-Team der «heute-show» an der nächsten Demonstration dabei sein und gezielt Verpeilte und Verstrahlte herauspicken werde, um sie dem ZDF-Publikum vorzuführen; nach diesem Hinweis folge im nächsten Abschnitt die unmittelbare Aufforderung: «Widerstand. Der Widerstand muss wachsen. Jetzt.»

Durch den Aufbau des Artikels, das Vokabular und die Symbolik könne aus objektiver Betrachtungsweise durchaus ein Konnex zwischen Widerstand und dem Hinweis zum Kamerateam der «heute-show» hergestellt werden, schreibt die Redaktion. Diese Darstellung werde dadurch unterstützt, dass viele andere Medien im Nachhinein ebenfalls einen Zusammenhang zwischen dem fraglichen Kommentar und der Gewalthandlung hergestellt hätten, darunter die «taz» und «Der Spiegel».

Aus der Forschung sei bekannt, dass Kommentare, die im Internet zu «Widerstand» aufrufen, Extremisten latent ermunterten, den Worten Taten folgen zu lassen und zu Gewalt zu greifen. Dazu würden rhetorisch bewusst Feindbilder konstruiert und Feinde wie etwa die «Lügenpresse» bezeichnet. Stilmittel, wie sie auch hier verwendet worden seien. Dass die Klientel von KenFM nicht gut auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu sprechen sei, sei kein Geheimnis. Deshalb sei der Hinweis auf das Kamerateam und dessen unterstellte Vorgehensweise in Verbindung mit dem Schaffen eines Feindbildes eine klare Beeinflussung des wohl ohnehin schon aufgebrachten Zielpublikums. Fazit: Die Ansicht, dass in Loyens Kommentar «kaum verhüllt» zu Gewalt aufgerufen werde, lasse sich aus diversen Blickwinkeln vertreten. Hinzu komme, dass in (Leser-)-Kommentaren auf KenFM verschiedentlich Schlachtrufe publiziert worden seien; auch diese Kommentare gehörten zur Plattform. Nie sei im Tamedia-Artikel behauptet worden, die Aussage komme von Ken Jebsen selbst. Vielmehr schreibe Autor Eigenmann klar und deutlich, die Aufrufe hätten «auf seiner Plattform» stattgefunden.

Somit sei weder Ziffer 3 noch Richtlinie 3.1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt worden. Vielmehr sei die Quellenbearbeitung unter Einhaltung aller journalistischen Sorgfaltspflichten vorgenommen worden.

Auch den zweiten Vorwurf des Beschwerdeführers – Ken Jebsen sei der Begriff «Juden-Kapitalismus» in den Mund gelegt worden – weist die Redaktion zurück. Der beanstandete Satz behaupte gar nicht, dass es Jebsen sei, der diesen Begriff verwende. Zwar fungiere der Radiomoderator in diesem Satz als Subjekt, doch rücke der Satz die Aussage in entscheidende Ferne. Die Aussage sei nämlich, dass Jebsen «alte antisemitische Ressentiments» bediene, was ja auch gemäss Beschwerdeführer eine vertretbare journalistische Meinung sei.

Tatsächlich treffe es zu, dass Jebsen den Begriff «Juden-Kapitalismus» in dieser Form wohl nicht verwenden würde, da er seinen Antisemitismus jeweils geschickt verschleiere. Die Verwendung des Begriffs zeige deshalb vielmehr, was Jebsen wohl verdeckt meine – «Juden-Kapitalismus» sei lediglich ein Beispiel eines antisemitischen Ressentiments und stelle kein Zitat dar.

Dazu sei zu erwähnen, dass sich auch die anderen in Eigenmanns Kurzporträt verwendeten Begriffe nicht auf Jebsen bezögen. So bezeichne er sich selbst wohl nicht als «Rebell». Das «Widerstandsrecht» sei angeführt, weil es sich um einen bestimmten verfassungsrechtlichen Begriff handle, und die Rede von einer «illegitimen Regierung» sei unter den «Corona-Rebellen» Allgemeingut und werde in der aktuellen Zeit inflationär verwendet. Ob auch Jebsen die deutsche Regierung als «illegitim» bezeichne, könne offenbleiben, da seine Behauptung im Youtube-Video, Bill Gates habe die Regierung quasi gekauft und dazu gebracht, eine Hygiene-Diktatur einzurichten, in jedem Fall dieselbe Sprache spreche.

Zusammenfassend lasse sich sagen, dass die beanstandete Passage Jebsen kein Zitat in den Mund lege, sondern lediglich die Rhetorik und verwendeten Stilmittel anhand eines nicht von ihm stammenden Beispiels verdeutliche. Weder werde eine geäusserte Meinung entstellt (Ziffer 3 der Erklärung) noch eine Quelle falsch überprüft oder bearbeitet (Richtlinie 3.1).

D. Der Presserat wies die Beschwerde seiner 1. Kammer zu, der Casper Selg (Kammerpräsident a.i.), Dennis Bühler, Ursin Cadisch, Michael Herzka und Francesca Luvini angehören.

E. Die 1. Kammer des Presserats beriet den Fall an ihrer Sitzung vom 31. August 2020 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Der Beschwerdeführer macht zwei Verstösse gegen Ziffer 3 geltend. Zum einen stellt er die Aussage im Tamedia-Artikel in Frage, auf Ken Jebsens Plattform sei im Vorfeld der Berliner Demo am 1. Mai «kaum verhüllt zu Gewalt gegen ein TV-Team der satirischen ‹heute-show› aufgerufen» worden. Zum anderen zieht er in Zweifel, dass Jebsen alte antisemitische Ressentiments gegen den angeblichen «Juden-Kapitalismus» bediene, respektive konkret: dass Jebsen eine solche Begrifflichkeit überhaupt verwenden würde. Der porträtierte Radio-Moderator sei falsch zitiert worden.

2. Zum ersten Teil der Beschwerde ist zunächst festzuhalten, dass «Tages-Anzeiger»-Korrespondent Dominique Eigenmann in seinem Porträt nicht behauptet, Jebsen habe zu Gewalt gegen das TV-Team aufgefordert. Dies sei – «kaum verhüllt» – (bloss) auf seiner Plattform geschehen. Die Beschwerdegegnerin bestätigt die Vermutung des Beschwerdeführers, dass damit ein Meinungsbeitrag des Autoren Bernhard Loyen gemeint ist. Die zu beantwortende Frage ist somit, ob in Loyens Kommentar tatsächlich «kaum verhüllt zu Gewalt gegen ein TV-Team der satirischen ‹heute-show› aufgerufen» wurde.

In Loyens Kommentar heisst es:
«Da kommt sie wieder. Diese Wut. Die Faust in der Tasche. Seit vier Samstagen wird in Berlin demonstriert. Die Teilnehmer erfahren eine stetig wachsende Diskreditierung in den Medien. Es wurden letzten Samstag mehrere bekannte Gesichter der sogenannten rechten Szene gesichtet. Zufall? Der Verfassungsschutz wird es besser wissen. Wer jetzt noch hingeht ist damit Corona-Nazi. Ken Jebsen wurde in der Postille Junge Welt umgehend als Naziflüsterer tituliert.
Diese Woche werden Freitag und Samstag Demonstrationen in Berlin stattfinden. Die Heute-Show vom ZDF wird extra ein Kamerateam hinschicken. Ich konnte durch Zufall in Erfahrung bringen, man möchte gezielt Verpeilte und Verstrahlte rauspicken, um sie für das dürstende ZDF-Publikum vorzuführen. Lächerlich machen. Wir lernen, wer auf die Straße geht, gilt in den öffentlich-rechtlichen Medien und bei entsprechenden Endkonsumenten entweder als Verschwörungstheoretiker, Verpeilter oder Nazi oder alles drei in individueller Mischung.
Widerstand. Der Widerstand muss wachsen. Jetzt. Dem Irrsinn dieser Maßnahmen ein Ende setzen. (…)»

Nach Ansicht des Presserats ist die Folgerung, auf Jebsens Plattform werde «kaum verhüllt» zu Gewalt gegen das TV-Team aufgerufen, knapp zulässig. Dies aufgrund des Kontexts, in dem der Demonstrationsbesuch des Kamerateams in Loyens Meinungsbeitrag angekündigt wird: Im Absatz davor ist von «Wut» und der «Faust in der Tasche» die Rede und davon, dass die Demonstrationsteilnehmer von den Medien immer stärker diskreditiert würden. Im Absatz danach heisst es: «Widerstand. Der Widerstand muss wachsen. Jetzt.» Der Absatz, der sich dem anstehenden Demonstrationsbesuch des ZDF-Teams widmet, wird somit von zwei Absätzen «umklammert», die an den Widerstandsgeist der Bevölkerung appellieren. Diese Darstellung zielt nach Ansicht des Presserats darauf ab, die bei der Leserschaft der Plattform KenFM ohnehin weitverbreitete Wut gegenüber Medien und Medienschaffenden weiter zu schüren und damit implizit auch die Bereitschaft zu steigern, aggressiv gegen diese vorzugehen.

Auch wenn Autor Loyen mit seinem Aufruf zum Widerstand womöglich gemeint hat, es gelte sich gegen die von der Regierung beschlossenen Massnahmen zu wehren («dem Irrsinn dieser Massnahmen ein Ende setzen»), so ist deshalb doch plausibel, dass die Durchschnittsleserin den Aufruf auch als gegen die Medien – und konkret das ZDF-Kamerateam – gerichtet verstehen kann.

Zudem: Wenn Tamedia-Redaktor Eigenmann schreibt, der Aufruf sei «kaum verhüllt» erfolgt, so weist er daraufhin, dass der Aufruf nicht konkret und unmissverständlich, sondern eben doch teilweise verhüllt formuliert worden ist. Dies trifft zu.

3. Anders fällt die Beurteilung beim zweiten Teil der Beschwerde aus. Wenn Tamedia-Journalist Eigenmann schreibt, Ken Jebsen «bediene antisemitische Ressentiments gegen den angeblichen ‹Juden-Kapitalismus›», und dabei den letzten Begriff in Anführungszeichen setzt, so wird ein Grossteil der Leserschaft «Juden-Kapitalismus» als Zitat auffassen.

Im Artikel wird kein Beleg dafür präsentiert, dass Jebsen diesen Begriff verwenden würde, und auch in ihrer Beschwerdeantwort bleibt die Redaktion diesen Nachweis schuldig. Stattdessen attestiert die Beschwerdegegnerin dem Beschwerdeführer gar, dass Jebsen den Begriff «Juden-Kapitalismus» in dieser Form wohl tatsächlich nicht verwenden würde. Der Begriff sei nicht als Zitat gemeint gewesen, sondern bloss als Beispiel für die von Jebsen bedienten antisemitischen Ressentiments.

Diese Argumentation überzeugt den Presserat nicht. Wer einen Begriff in einem Satz, der die Denkweise einer Person beschreibt, in Anführungszeichen setzt, schreibt ihn dieser Person zu. Dies gilt umso mehr, wenn die betreffende Person im Satz grammatikalisch betrachtet Subjekt ist. Damit hat der «Tages-Anzeiger» die von Jebsen geäusserte Meinung entstellt und somit gegen Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde gegen den «Tages-Anzeiger» und die Redaktion Tamedia wird teilweise gutgeheissen.

2. Die Redaktion hat mit der Publikation des Artikels «Das sind die Köpfe hinter den Corona-Protesten» vom 14. Mai 2020 die Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt, indem sie Ken Jebsen einen in Anführungszeichen gesetzten Begriff zuschrieb, obwohl sich ein derartiges Zitat von ihm nirgends findet.

3. Nicht gegen die «Erklärung» verstossen hat die Redaktion hingegen mit der Aussage, auf Jebsens Plattform sei «kaum verhüllt zu Gewalt gegen ein TV-Team der satirischen ‹heute-show› aufgerufen» worden.