I. Sachverhalt
A. Am 24. August 2019 erschien auf «20 Minuten» online ein Artikel mit dem Titel «Erster Toter nach E-Zigaretten-Gebrauch», gezeichnet mit «roy/sda». Darin wird berichtet, «nach der Häufung rätselhafter Lungenerkrankungen in Folge der Benutzung von E-Zigaretten gibt es in den USA nun auch den ersten Todesfall». Ein Mann sei nach dem Genuss einer E-Zigarette mit einer schweren, unerklärbaren Atemwegserkrankung in ein Spital eingeliefert worden und anschliessend gestorben. Die Gesundheitsbehörden von Illinois prüften einen allfälligen Zusammenhang dieses und anderer Fälle mit E-Zigaretten. Später wird erwähnt, dass in den USA insgesamt schon 193 Fälle von grösseren Problemen aufgetreten seien und dass die Behörden dabei auch einen Zusammenhang mit dem Konsum von THC (Cannabis)-Flüssigkeit in E-Zigaretten untersuchen wollten. Die Zahl dieser Fälle sei aber nicht bekannt.
Am 7. September 2019 berichtete «20 Minuten» über das gleiche Thema unter der Überschrift «Wohl schon der fünfte Tote wegen E-Zigaretten», gezeichnet von «fee/roy/sda». Dort wird festgestellt, dass mittlerweile der vierte und fünfte Todesfall nach E-Zigaretten-Konsum bekanntgeworden sei. Die Entwicklung gebe den Ermittlern Rätsel auf, doch es gebe jetzt Hoffnung auf einen Durchbruch. Untersuchungen an den gerauchten Flüssigkeiten hätten nämlich ergeben, dass verschiedentlich Vitamin-E-Öl nachgewiesen werden konnte, was wiederum auf THC-Produkte verweise, die in einigen Bundesstaaten erlaubt seien. Das E-Öl könne wegen seiner molekularen Struktur «beim Einatmen gefährlich werden». In der Schweiz seien allerdings Liquids mit mehr als einem Prozent THC verboten.
Am 13. September 2019 erschien in «20 Minuten» online ein weiterer Artikel mit dem Titel «Erst 18, aber schon eine Lunge wie ein 70-Jähriger», gezeichnet von «fee». Dort wird geschildert, «Adam Hergenreder aus den USA» gehe es nicht gut. «Vapen» habe ihn krank gemacht, er liege mit Sauerstoffschlauch in der Nase und EKG-Pads auf der Brust im Spital. «Schuld daran sein soll eine spezielle E-Zigarette: die Juul, die sich in den USA besonders bei Jugendlichen grosser Beliebtheit erfreut.» Adam habe mit 16 Jahren mit «juuling» angefangen, die in den USA erhältlichen Flüssigkeiten zum Verdampfen seien wesentlich stärker nikotinhaltig und damit süchtig machend als die in der Schweiz zulässigen. Adam brauche jetzt aufgrund der Schädigungen eine neue Lunge. Der Pressesprecher von Juul betone, vieles deute darauf hin, dass die Schädigungen vor allem von THC-haltigen Flüssigkeiten stammten, dass Juul aber keine THC-haltigen Produkte herstelle. Auffällig sei, so der Artikel zum Schluss, dass alle bekannten Probleme in den USA aufgetaucht seien, «in der Schweiz und Europa sind bisher keine solchen Fälle bekannt».
B. Am 13. September 2019 erhob die «Swiss Vape Trade Association, SVTA» Beschwerde gegen diese drei Artikel und macht eine Verletzung der Wahrheitspflicht geltend, also von Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»). Sie macht geltend, «20 Minuten» führe eine beispiellose Kampagne gegen E-Zigaretten, was der Branche erhebliche Umsatzausfälle beschere. Die schweren Erkrankungsfälle seien nicht auf den Konsum von E-Zigaretten zurückzuführen, sondern darauf, dass in den USA Dealer die zu rauchende Flüssigkeit mit Vitamin E-Acetat vermischten. Angesichts von 9 Millionen Konsumenten in den USA und 50 Millionen weltweit könne man angesichts von 400 schweren Fällen in den USA entsprechend nicht von einer Schädlichkeit ihrer Produkte sprechen.
Insbesondere wird an den fraglichen Artikeln kritisiert:
Im ersten Artikel («Erster Toter nach E-Zigaretten-Gebrauch») werde in Schlagzeile und Text der Eindruck vermittelt, dass der normale Gebrauch von E-Zigaretten zum Tode führe.
Im zweiten («Wohl schon der fünfte Tote wegen E-Zigaretten») vermittle der Titel ein falsches Bild, auch wenn der Artikel zum Teil auf das Problem der illegalen Substanzen eingehe.
Und im dritten Artikel («Erst 18, aber schon eine Lunge wie ein 70-Jähriger», Untertitel: «Vapen hat Adam Hergenreder krank gemacht») werde suggeriert, dass der Betroffene wegen des normalen Konsums von E-Zigaretten erkrankte, obwohl auch er, wie im Text später «irgendwo» gesagt werde, ausgesagt habe, Produkte mit illegalem THC verwendet zu haben.
C. Am 16. März 2020 beantragte die Rechtsabteilung der TX Group namens der Redaktion «20 Minuten» Abweisung der Beschwerde, soweit überhaupt darauf eingetreten werde. Zunächst wird die Behauptung der Beschwerdeführerin bestritten, wonach «20 Minuten» eine Kampagne gegen E-Zigaretten führe. Die Beschwerdegegnerin legt zum Beleg eine Liste von 57 Artikeln bei, welche über den Zeitraum von sechs Jahren zu den verschiedensten Aspekten dieses Themas publiziert worden seien. Die von der Swiss Vape Trade Association vorgelegten drei Artikel entsprächen einer willkürlichen Auswahl.
Zum ersten kritisierten Artikel weist «20 Minuten» darauf hin, dass der Titel «Erster Toter nach E-Zigaretten-Gebrauch» keine Kausalität von Vaping und Tod ersichtlich werden lasse. Vielmehr zeige schon der Untertitel, wonach mehrere Menschen mit ungeklärten Atemwegserkrankungen ins Spital eingeliefert worden seien, dass man die Todesursache eben noch nicht erklären könne. Auch der Artikel selber sei nicht unwahr, es werde dort von rätselhaften Lungenerkrankungen gesprochen. Auch werde gesagt, dass der Zusammenhang von E-Zigarette und Krankheit erst noch überprüft werde, damit sei klar, dass eine Kausalität gerade nicht behauptet worden sei.
Zum zweiten Artikel führt «20 Minuten» an, der kritisierte Titel («Wohl schon der fünfte Tote wegen E-Zigaretten») stelle keinen kausalen Zusammenhang zwischen E-Zigarette und fünf Toten her. Das vorangestellte «Wohl» signalisiere eindeutig, dass ein allfälliger Zusammenhang lediglich vermutet werde, aber nicht nachgewiesen sei. Im Übrigen weise der Artikel darauf hin, dass eine mögliche Erklärung bald gefunden werden könne, weil es Hinweise gebe, dass nicht der normale Konsum der E-Zigaretten für die Probleme ursächlich sei. Es werde auch hier kein falsches Bild vermittelt.
Und auch der dritte Artikel («Erst 18, aber schon eine Lunge wie ein 70-Jähriger», Obertitel: «Wegen E-Zigaretten») verletze die Wahrheitspflicht nicht. Der Titel mache klar, dass hier nur ein Einzelschicksal beschrieben werde. Der Presserat habe schon verschiedentlich darauf hingewiesen, dass Zuspitzungen in Titeln erlaubt seien, wenn sie durch Nuancierungen oder Präzisierungen in Untertitel und Text präzisiert würden. Genau dies sei hier der Fall, insbesondere weil die Möglichkeit erwähnt werde, dass nicht eine herkömmliche E-Zigarette für die Krankheit verantwortlich sei. Der Einfluss von THC-haltigen Flüssigkeiten werde ausdrücklich erwähnt und damit der aktuelle Wissensstand in dieser Problematik abgebildet. Von einer Verletzung der Wahrheitspflicht könne keine Rede sein.
D. Der Presserat teilte den Parteien am 27. März 2020 mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus Dominique von Burg, Präsident, Francesca Snider, Vizepräsidentin, und Max Trossmann, Vizepräsident.
E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 26. Juni 2020 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Bei der Frage, ob die Verpflichtung zur Wahrheit verletzt ist, stellt der Presserat in ständiger Praxis darauf ab, wie ein Text, eine Schlagzeile, eine Illustration von einer durchschnittlichen Leserin, einem durchschnittlichen Leser verstanden werden musste.
Im vorliegenden Fall steht unbestreitbar fest, dass zum einen gesundheitliche Probleme festgestellt wurden aufgrund des – egal wie gearteten – Gebrauchs von E-Zigaretten. Und dass – zum zweiten – die Erkenntnis wuchs, dass diese Probleme im Zusammenhang stehen könnten oder stehen dürften mit der unsachgemässen Anwendung dieser Geräte, indem Flüssigkeiten verwendet wurden, welche der Hersteller selber nicht anbietet. Insbesondere verdichtet sich der Verdacht, dass bestimmte Dosierungen von THC oder damit verbunden von Vitamin-E-Acetat für gravierende gesundheitliche Folgen ursächlich sein könnten.
Die Berichterstattung von «20 Minuten» hat diesen Tatsachen nach Auffassung des Presserates Genüge getan, wenn auch in bestimmten Passagen nur knapp.
2. Der erste Artikel spricht im Titel von einem ersten Toten nach E-Zigaretten-Gebrauch. Diese Aussage ist nicht falsch, aber nach Auffassung der Beschwerdeführerin entscheidend unvollständig, weil sie impliziere, dass der Gebrauch handelsüblicher E-Zigaretten zum Tode führen könne, was aber nicht der Fall sei.
Gemäss dem damaligen Wissensstand war diese Formulierung zwar pauschal, aber nicht falsch (diese Komplikationen waren damals neu, die Erkenntnis, dass möglicherweise THC-haltige Flüssigkeiten ursächlich sein könnten, war damals also eine neue Möglichkeit, aber offenbar noch nicht gesicherte Erkenntnis). Die Formulierung war gerade noch zulässig, insbesondere weil der Untertitel ausdrücklich von «unerklärten Atemwegserkrankungen» sprach und der Artikel selber die ungesicherte Faktenlage ausdrücklich thematisierte, sogar schon von der Möglichkeit eines Einflusses von THC-angereicherten Flüssigkeiten sprach. Wenn sogar das «Center for Disease Control» pauschal davon sprach, dass die E-Zigaretten nicht harmlos seien, weil sie potenziell schädliche Inhaltsstoffe enthalten können, erscheinen die Formulierungen im ersten Artikel nicht als wahrheitswidrig.
3. Dasselbe gilt für den zweiten Artikel (Titel: «Wohl schon der fünfte Tote wegen E-Zigaretten»). Wenn man davon ausgeht, dass die damaligen fünf Todesfälle auf den (wiewohl möglicherweise unsachgemässen) Konsum von E-Zigaretten zurückgehen, dass schon der Titel mit dem «Wohl» bereits eine Relativierung vornimmt, dass im Weiteren der Untertitel davon spricht, dass die Vorfälle den Ermittlern Rätsel aufgeben, dass es aber einen Durchbruch geben könnte, angesichts all dessen kann nicht von einer unwahren Titelsetzung gesprochen werden: Die Todesfälle stehen effektiv in Zusammenhang mit E-Zigaretten, der weitere, relativierende Erkenntnisstand wird schon in der Titelsetzung signalisiert und er wird im Artikel ausführlich ergänzt. Es wird dort von einem Stoff gesprochen, der als Ursache in den Vordergrund rücke, nämlich Vitamin-E-Öl. Dieses sei in Proben von Cannabisprodukten festgestellt worden, welche die Erkrankten konsumiert hätten, der Verkauf bestimmter derartiger THC-Produkte sei in den USA erlaubt. In der Schweiz hingegen seien Produkte mit mehr als einem Prozent THC verboten. Angesichts dieser Informationen kann nicht von einem Verstoss gegen die Wahrheitspflicht gesprochen werden.
4. Problematischer erscheint der dritte Artikel: Dort lautet der Übertitel «Wegen E-Zigaretten», der Haupttitel «Erst 18, aber schon eine Lunge wie ein 70-Jähriger», und der Untertitel «Vapen hat Adam Hergenreder krank gemacht: Seine Lunge ist so stark gealtert, dass ihm wohl nur eine Lungentransplantation helfen kann». All diese drei Titel sprechen nur von der E-Zigarette als Ursache für schwere Schäden. Und auch der Artikel selber relativiert diesen Umstand zunächst nicht, er schildert das Einzelschicksal des stark geschädigten Patienten. Im letzten Drittel hingegen wird auf die Zusammenhänge eingegangen, auf den Cannabis-Missbrauch, auf den Zusammenhang mit den Vitamin-E-Ölen, auf die sehr geringen Zahlen (450 Verdachtsfälle, sechs Tote), darauf, dass in der Schweiz bisher keine derartigen Probleme aufgetaucht seien und – auch – dass das US Center for Disease Control den Verzicht auf Dampfgeräte empfehle, solange die Ursachen nicht geklärt seien.
Gerade angesichts dieser zuletzt angesprochenen Tatsache, dass nämlich die Zusammenhänge noch nicht bis ins Letzte geklärt sind, erscheint es als legitimes Vorgehen einer Redaktion, grundsätzlich vor möglichen Problemen mit einem Produkt zu warnen. «20 Minuten» hat dabei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die angesprochenen Komplikationen in der Schweiz bisher nicht aufgetaucht seien. Man hat auch in allen drei Artikeln auf den vermuteten Zusammenhang mit dem Cannabis-Missbrauch hingewiesen und weitere ergänzende Informationen mitgeliefert. Angesichts all dessen sieht der Presserat die Ziffer 1 der «Erklärung» nicht als verletzt. Er fügt aber an, dass es besser gewesen wäre, wenn man den relativierenden Hintergrund im letzten Artikel früher hätte aufscheinen lassen und wenn der Titel etwas weniger absolut formuliert worden wäre. Aber einen Verstoss gegen die Wahrheitspflicht bilden die Informationen von «20 Minuten» insgesamt nicht.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. «20 Minuten» hat mit den Artikeln vom 24. August, 7. September und 13. September 2019 zur Thematik der Gefährdung durch E-Zigaretten die Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.