Nr. 60/2018
Wahrheitspflicht / Ansehen des Berufs / Unterschlagen wichtiger Informationselemente / Berichtigung / Sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen

(X. c. «Blick am Abend» und sda)

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I. Sachverhalt

A. Am 8. August 2017 veröffentlichte «Blick am Abend» den Artikel «Google feuert Frauenhasser». Die Spitzmarke lautet: «Sexistisches Manifest». Der Artikel berichtet über den Google-Entwickler James Damore, welcher für einen Shitstorm gesorgt habe, nachdem er tiefere Löhne für Frauen mit «biologischen» Unterschieden gerechtfertigt hätte. Jetzt sei er von Google gefeuert worden. In seinem Manifest hätte dieser beschrieben, warum Frauen in der Technologiebranche und in Führungspositionen unterrepräsentiert seien. Am Schluss des Artikels wird als Quelle die Nachrichtenagentur sda genannt, die Schweizerische Depeschenagentur. Der Artikel ist illustriert mit einem Porträtfoto des ehemaligen Google-Mitarbeiters sowie einem Foto des Hauptsitzes von Google. In der Bildlegende heisst es: «Entlassen. Google-Entwickler James Damore.»

B. Am 30. August 2017 reichte X. beim Schweizer Presserat Beschwerde gegen den Artikel vom 8. August 2017 ein. Die Beschwerde richtet sich gegen «Blick am Abend» und gegen die sda. Er macht einen Verstoss gegen die Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») dadurch geltend, dass der Inhalt des Shitstorms, welcher dem Bekanntwerden von Damores internem Memorandum gefolgt sei, unüberprüft übernommen worden sei. Dass Damore ein Frauenhasser sei, sei eine durch nichts belegte Behauptung. Auch die Behauptung, wonach er tiefere Löhne für Frauen mit «biologischen» Unterschieden gerechtfertigt hatte, sei falsch. Die Bezeichnung «Sexistisches Manifest» sei durch nichts belegt, und auch die Aussage, Männer verfügten über «natürliche Fähigkeiten», welche sie zu besseren Programmierern machten, sei falsch und komme im Memorandum nicht vor. Weiter sieht der Beschwerdeführer Ziffer 2 (Ansehen des Berufs) sowie Ziffer 3 (Unterschlagen von Tatsachen) dadurch verletzt, indem unterschlagen worden sei, dass die Behauptungen des Google-Mitarbeiters weitestgehend korrekt seien. Zudem sei eine Berichtigung unterblieben, was Ziffer 5 der «Erklärung» verletze. Die Privatsphäre Damores sei nicht gewahrt worden, die Bezeichnung als Frauenhasser und des Memorandums als sexistisch seien sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen (Ziffer 7). Ebenfalls als verletzt erachtet der Beschwerdeführer Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) sowie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen).

C. Am 12. September 2017 nahmen Bernard Maissen, Chefredaktor, und Winfried Kösters, stellvertretender Chefredaktor, für die sda Stellung. Sie führen aus, die sda habe die betreffende Meldung unverändert von der französischen Nachrichtenagentur Agence France Presse (AFP) übernommen. Diese sei in einem nüchternen Stil formuliert. Es tauche darin weder der Begriff «Frauenhasser» auf noch der Name des Google-Entwicklers. Auch die Behauptung, die Löhne der Frauen liessen sich mit biologischen Unterschieden erklären, sei in der Meldung der sda nicht zu finden. Vielmehr habe es da geheissen, dass der Entwickler den geringen Anteil von Frauen in der Technologiebranche mit biologischen Unterschieden erklärt habe. Die im «Blick am Abend» veröffentlichte Meldung sei zwar mit sda gezeichnet, habe mit der sda/AFP-Meldung jedoch nur noch sehr wenig gemein. Die Vorwürfe des Beschwerdeführers erachte die sda als unzutreffend.

D. Am 18. Oktober 2017 nahm der anwaltlich vertretene «Blick am Abend» Stellung. Zur Wahrheitspflicht führt er aus, es spiele keine Rolle, was Damore genau gesagt habe, es komme nur darauf an, wie seine Aussagen aufgenommen und bewertet worden seien. Sie seien als sexistisch und frauenfeindlich verstanden worden. Ob diese Bewertung gerechtfertigt sei oder nicht, spiele gerade keine Rolle. Zudem werde der Grund für den Shitstorm genannt, es komme jedoch nicht darauf an, ob der Grund als solcher stimme, ein Medienunternehmen müsse nur den Grund eines Vorganges zutreffend bezeichnen. «Frauenhasser» und «Sexist» bzw. «Sexismus» seien erkennbare Werturteile, die gar keinen Verstoss gegen die Wahrheitspflicht darstellen könnten. Wie die sda-Meldung belege, komme in deren Meldung tatsächlich die Aussage vor, wonach Männer über natürliche Fähigkeiten verfügen würden, die sie zu besseren Programmierern machten. Im AFP-Text sei von den «aptitudes naturelles» der Männer die Rede. Die Beschwerdegegnerin bestreitet auch eine Verletzung von Ziffer 2, 3 und 5 der «Erklärung». Es werde bloss behauptet, der «Blick am Abend» habe etwas unterschlagen und habe Unbestätigtes nicht als solches gekennzeichnet. Die beanstandeten Bezeichnungen hätten nichts mit der Privatsphäre von James Damore zu tun, sowenig wie die Beurteilung von dessen Memorandum. Eine Verletzung von Ziffer 7 der «Erklärung» liege nicht vor. Der Beschwerdeführer lege zudem nicht ansatzweise dar, warum gegen Richtlinie 2.3 verstossen worden sein soll. Damore habe auch nicht angehört werden müssen, wenn die Redaktion eine sda-Meldung verbreite bzw. zum wesentlichen Inhalt eines kurzen Artikels mache. Im Ergebnis schliesst die Beschwerdegegnerin auf Abweisung der Beschwerde.

E. Am 8. November 2017 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

F. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 31. Dezember 2018 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. a) Ziffer 1 der «Erklärung» hält Journalistinnen und Journalisten an, sich an die Wahrheit zu halten; sie lassen sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren. Der Beschwerdeführer rügt, der Inhalt des Shitstorms, welcher dem Öffentlichwerden der Denkschrift gefolgt sei, sei unüberprüft übernommen worden. Dass Damore ein Frauenhasser sei, sei eine durch nichts belegte Behauptung. Auch die Behauptung, wonach er tiefere Löhne für Frauen mit «biologischen» Unterschieden gerechtfertigt habe, sei falsch. Die Bezeichnung «Sexistisches Manifest» sei durch nichts belegt, und auch die Aussage, Männer verfügten über «natürliche Fähigkeiten», welche sie zu besseren Programmierern machten, sei falsch und komme in Damores Memorandum nicht vor. «Blick am Abend» macht demgegenüber geltend, massgebend sei allein, wie die Aussagen Damores aufgenommen und bewertet worden seien.

b) Zu fragen ist somit, ob die Meldung der sda vor dem Wahrheitsgebot standhält. Dazu ist festzuhalten, dass die sda-Meldung auf einer Agenturmeldung der AFP basiert. Diese hat die sda leicht gekürzt übernommen. Laut Praxis des Presserats dürfen sich Journalisten bei Meldungen anerkannter Nachrichtenagenturen auf die Richtigkeit des Inhalts verlassen. Sie müssen die Meldungen daher nur ausnahmsweise mit eigenen Recherchen überprüfen. Die Quelle ist zu nennen. Diese Praxis gilt auch für Nachrichtenagenturen, die Agenturmeldungen von anderen seriösen Agenturen übernehmen. Die sda-Meldung führt in der Überschrift die AFP als Quelle an. Wünschenswert wäre gewesen, dass sie dies auch im Bericht selbst tut. Daraus lässt sich jedoch kein Verstoss gegen die Wahrheitspflicht ableiten. Die sda-Meldung nennt weder den Namen des Google-Entwicklers noch enthält sie den Begriff «Frauenhasser». Auch die Aussage, die Löhne der Frauen liessen sich mit biologischen Unterschieden erklären, findet sich darin nicht. Demnach ist die Beschwerde abzuweisen, soweit sie sich gegen die sda richtet.

c) Weiter ist zu fragen, wie die Aussagen, welche zusätzlich in den Artikel des «Blick am Abend» aufgenommen wurden, zu werten sind. Dabei geht es um den Titel «Google feuert Frauenhasser», die Bezeichnung des Memorandums des Google-Mitarbeiters als «Sexistisches Manifest», die Nennung des Namens des Google-Mitarbeiters sowie um den letzten Satz «Männer hingegen verfügten über ‹natürliche Fähigkeiten›, die sie zu besseren Programmierern machten».

Bei der Bezeichnung «Sexistisches Manifest» übernimmt «Blick am Abend» die Einschätzung einer von AFP in ihrer Meldung genannten und zitierten Journalistin von «Recode.net», welche diese Äusserungen als «fadaises sexistes» bezeichnet. Dies geht aus dem (kurzen) Bericht von «Blick am Abend» nicht hervor. Es handelt sich dabei um ein Werturteil, welches nicht zutreffen muss, aber von «Blick am Abend» dem Artikel vorangestellt werden durfte. Dasselbe gilt für die Bezeichnung «Frauenhasser», als der der Google-Entwickler im Titel bezeichnet wird. Beide Bezeichnungen sind für die Leser als Werturteil erkennbar. Auch die Nennung des Namens des Entwicklers ist nicht zu beanstanden, gelangte dieser doch bei seiner Entlassung durch Google an die Öffentlichkeit. Im Ergebnis ist somit auch durch den Bericht des «Blick am Abend» keine Verletzung von Ziffer 1 (Wahrheit) gegeben.

2. Ziffer 3 der «Erklärung» verlangt von Journalisten u.a., dass sie keine wichtigen Elemente von Informationen unterschlagen. Der Beschwerdeführer moniert, es werde unterschlagen, dass die Behauptungen des Entwicklers weitestgehend korrekt seien. Auch hier macht der Beschwerdeführer (indirekt) eine Verletzung des Wahrheitsgebots geltend. Zu prüfen ist demnach, ob wichtige Informationen unterschlagen worden sind. Ausgangspunkt für die Beurteilung dieser vom Beschwerdeführer geltend gemachten Rüge ist wiederum die Agenturmeldung der AFP. Auf diese durfte sich – wie oben erwähnt – «Blick am Abend» verlassen. Bei AFP heisst es u.a.: «Les aptitudes naturelles des hommes les conduisent à devenir programmateurs en informatique, alors que les femmes sont, selon l’auteur, plus enclines aux sentiments et l’esthétique plutôt que vers les idées.» Dieser Satz findet sich so in der sda-Meldung wieder. Dort heisst es auch «Männer hingegen verfügten über ‹natürliche Fähigkeiten›, die sie zu besseren Programmierern machten». Der letzte Satz des Artikels des «Blick am Abend» heisst gleichlautend: «Männer hingegen verfügten über ‹natürliche Fähigkeiten›, die sie zu besseren Programmierern machten.» Dieser letzte Satz stimmt somit mit dem Inhalt der Quelle (sda) überein. Unabhängig von der Frage, ob diese Aussage zutrifft bzw. ob sie von Damore so geäussert wurde, durften sowohl die sda als auch «Blick am Abend» die Aussagen der Denkschrift so wiedergeben. Ein Verstoss gegen Ziffer 3 der «Erklärung» (Unterschlagen wichtiger Elemente von Informationen) liegt somit nicht vor.

3. Der Beschwerdeführer macht weiter eine Verletzung von Ziffer 2 (Ansehen des Berufs) geltend, begründet jedoch nicht weiter, worin diese Verletzung bestehen soll. Mangels Substantiierung ist auf diese Rüge deshalb nicht einzutreten.

4. Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung von Ziffer 5 (Berichtigung) der Erklärung geltend macht, ist diese Rüge abzuweisen. Liegt keine Verletzung der Wahrheitspflicht vor, kann auch keine Verletzung der Berichtigungspflicht vorliegen.

5. Der Beschwerdeführer sieht schliesslich die Privatsphäre Damores verletzt, die Bezeichnung als Frauenhasser und des Memorandums als sexistisch seien sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen (Ziffer 7). Wie oben ausgeführt sind die Bezeichnungen als Frauenhasser und die Beurteilung des Memorandums als sexistisch für den Leser als Werturteile erkennbar. Insofern ist hier nicht die Privatsphäre von Damore betroffen. Auch die Nennung des Namens des Entwicklers ist nicht zu beanstanden, war dieser doch beim Konflikt mit Google an die Öffentlichkeit gelangt. Eine Verletzung von Ziffer 7 der «Erklärung» liegt somit nicht vor.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Die sda und «Blick am Abend» haben mit der Agenturmeldung «Google-Entwickler sorgt mit sexistischem Schreiben für Aufregung» vom 7. August 2017 (sda) und mit dem Artikel «Google feuert Frauenhasser» vom 8. August 2017 («Blick am Abend») die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 2 (Ansehen des Berufs), Ziffer 3 (Unterschlagen wichtiger Elemente von Informationen) 5 (Berichtigung) und 7 (Sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.

Anmerkung Presserat:
In der ursprünglichen Version der Stellungnahme war von Manifest statt Memorandum die Rede. Zudem stand, dass James Damore das interne Memorandum von sich aus veröffentlicht habe. Diese beiden Ungenauigkeiten/Fehler wurden am 6. März 2019 korrigiert.