I. Sachverhalt
A. Anfang November 2009 berichteten zahlreiche Medien, Carl Hirschmann sei verhaftet worden. Der Millionenerbe und Betreiber des Zürcher Nachtclubs «Saint Germain», zu dessen Gästen Persönlichkeiten aus der nationalen und internationalen Unterhaltungsprominenz zählen, werde verdächtigt, in seinem Club Straftaten begangen zu haben. Die Rede war von Erpressung nach heimlichen Fotoaufnahmen von jungen Frauen und von Gewaltdelikten gegen Personen.
B. In der Folge überschlugen sich die Medienberichte zum «Fall Hirschmann». Allein für die Monate November und Dezember 2009 ergibt eine Suche mit dem Stichwort «Carl Hirschmann» in der Schweizerischen Mediendatenbank (SMD) mehr als 400 Treffer. Und auch im ersten Halbjahr 2010 finden sich immer noch über 300 Berichte.
C. Am 28. Dezember 2009 gelangte der anwaltlich vertretene Carl Hirschmann mit einer Beschwerde gegen die Redaktionen «Blick», «SonntagsBlick», «Blick am Abend» und «Blick.ch» an den Presserat. Der Beschwerdeführer bat den Presserat, sich anhand einer umfangreichen Zusammenstellung einschlägiger Zeitungsberichte generell zur «Intensität von Berichterstattungen» in der Phase von Ermittlungs- und Untersuchungsverfahren zu äussern. Die Beschwerde konzentriere sich auf die Ringier-Medien, weil diese «sowohl quantitativ als auch in der Deftigkeit die treibenden Kräfte in der medialen Exekution des Beschwerdeführers waren».
Die auf «Gerüchten und Hörensagen aufbauende» Berichterstattung über den Beschwerdeführer sei weder mit dessen Unschuldsvermutung noch mit dem Schutz der Privatsphäre noch mit der gebotenen Rücksichtnahme gegenüber den Angehörigen vereinbar. «Hier wird ein Mensch für ein ganzes Leben traumatisch geschädigt. Man muss von einer modernen Form der Steinigung sprechen.» Insbesondere die Ringier-Medien hätten mit ihrer Berichterstattung eine ganze Reihe von medienethischen Normen verletzt, so namentlich die Ziffern 1 und 3 (Wahrheit, Quellentransparenz und -überprüfung, Anhörungspflicht) und 7 (sachlich ungerechtfertigte und anonyme Anschuldigungen, Respektierung der Privatsphäre, Unschuldsvermutung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten».
D. In einer Beschwerdeergänzung vom 15. Januar 2010 führt der Beschwerdeführer aus, solange die Untersuchungsbehörden ihrer Aufgabe nachkommen, sei es nicht Sache der Medien, einen Beschuldigten wo immer möglich «‹fertig zu machen› (Medienbashing)». Auch Prominente hätten einen Anspruch auf minimalsten menschlichen Respekt und Schutz ihrer Persönlichkeit. Allein in den Ringier-Medien hätten in den vergangenen drei Monaten insgesamt 26 Journalist/innen über die Person von Carl W. Hirschmann berichtet. Dies zeuge von einem «eigentlichen redaktionellen Rausch». Dieser sei mittlerweile in «bedenklicher Art auch auf andere Redaktionen übergeschwappt». So baue Hildegard Schwaninger im «Tages-Anzeiger» vom 4. Januar 2010 nun auch den Vater und die Mutter Hirschmann in den «Hirschmann-Skandal» ein.
E. Am 5. Februar 2010 teilte der Presserat dem Beschwerdeführer mit, er trete nicht auf die Beschwerde ein, soweit sich diese gegen einzelne Medienberichte und/oder Redaktionen richte. Aus der Beschwerde gehe hervor, dass im Zusammenhang mit der Berichterstattung über den Beschwerdeführer rechtliche Verfahren bereits hängig oder in Aussicht gestellt seien. Gemäss Art. 10 Abs. 2 könne der Presserat zwar auch bei parallel hängigen Verfahren auf eine Beschwerde eintreten, sofern sich berufsethische Grundsatzfragen stellen. Die von der Beschwerde aufgeworfenen Grundsatzfragen könne der Presserat jedoch auch behandeln, ohne auf einzelne Medienberichte einzugehen. Letzteres erscheine angesichts der grossen Zahl der von der Beschwerde betroffenen Medienberichte ohnehin kaum verhältnismässig.
F. Gemäss der gleichen Mitteilung vom 5. Februar 2010 wies das Presseratspräsidium die Beschwerde zur Behandlung der damit aufgeworfenen generellen Fragen (Respektierung der Privatsphäre, Unschuldsvermutung, Berichterstattung über eine hängige Strafuntersuchung usw.) der 1. Kammer zu. Diese setzt sich zusammen aus Edy Salmina (Kammerpräsident), Luisa Ghiringhelli Mazza, Pia Horlacher, Philip Kübler, Klaus Lange, Sonja Schmidmeister und Francesca Snider (Mitglieder).
G. Der Presserat behandelte die Beschwerde am 28. Februar, 5. Mai und 16. Dezember 2010 sowie auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. a) Die Ziffer 7 der «Erklärung» schützt die Privatsphäre der Personen, über die berichtet wird, sofern das «öffentliche Interesse» nicht das Gegenteil verlangt. Gemäss der erläuternden Richtlinie 7.2 zur «Erklärung» (Identifizierung – vormalig Richtlinie 7.6) sollten Journalistinnen und Journalisten die beteiligten Interessen (Recht der Öffentlichkeit auf Information, Schutz der Privatsphäre) sorgfältig abwägen. «Namensnennung und/oder identifizierende Berichterstattung ist zulässig:
─ sofern die betroffene Person im Zusammenhang mit dem Gegenstand des Medienberichts öffentlich auftritt oder auf andere Weise in die Veröffentlichung einwilligt;
─ sofern eine Person in der Öffentlichkeit allgemein bekannt ist und der Medienbericht damit im Zusammenhang steht;
─ sofern die betroffene Person ein politisches Amt beziehungsweise eine staatliche oder gesellschaftlich leitende Funktion wahrnimmt und der Medienbericht damit im Zusammenhang steht.»
b) Der Presserat hat sich in zahlreichen Stellungnahmen mit dem Schutz des Privatlebens von Prominenten auseinandergesetzt. Danach haben zwar auch öffentliche Personen Anspruch auf den Schutz ihrer Privatsphäre (Richtlinie 7.1 zur «Erklärung). Prominente und Politiker müssen sich aber mehr gefallen lassen als zurückgezogen lebende Zeitgenossen. Politiker und Prominente bestimmen zudem durch ihr Verhalten in der Öffentlichkeit selber, ob und wie die Medien über ihr Privat- und Familienleben berichten dürfen, ob dieses vollständig tabu ist, oder ob sie es für die Medien innerhalb gewisser Grenzen zugänglich machen. Promis können zudem nicht beanspruchen, dass über sie nur in genehmem Zusammenhang berichtet wird. Selbst wenn Prominente die Öffentlichkeit in weitem Umfang an ihrem Privatleben teilhaben lassen, lässt sich aber kaum je ein gänzlicher Verzicht auf den Schutz der Privat- und Intimsphäre ableiten (vgl. beispielsweise die Stellungnahmen 52/2006 und 9/2008).
c) Im Falle des Beschwerdeführers geht es um eine besondere Form von Prominenz, die sich weder auf ein öffentliches Amt oder eine wichtige politische Rolle, noch auf eine wirtschaftlich, kulturell oder anderweitig herausragende gesellschaftliche Stellung abstützt. Diese sogenannte Boulevardprominenz entspricht nicht dem Prototyp der «Person des öffentliches Interesses», sondern bewegt sich bestenfalls an deren Rand. Zwar waren solche Köpfe und Themen in den Klatschspalten der Zeitschriften und Zeitungen auch schon früher präsent, doch nehmen sie in den letzten Jahren immer mehr Platz ein. Boulevardprominente wie Paris Hilton tritt als Begleiterscheinung an öffentlichen Anlässen auf, über welche mit inszenierten Fotos auf dem «roten Teppich» oder vor einer Werbewand berichtet wird. Mit «öffentlichem Interesse» ist die Berichterstattung über diese Art von Prominenz kaum zu rechtfertigen.
d) Die identifizierende Berichterstattung über Boulevardprominente ist nach Auffassung des Presserates – unter Umständen auch gegen den Willen der Betroffenen – jedoch aus einem anderen Grund zulässig: aufgrund einer sehr weitgehenden, generellen Einwilligung der Betroffenen. Wer sich im öffentlichen Scheinwerferlicht exponiert, bei jeder Gelegenheit vor Mikrofone und Kameras drängt oder sich zumindest bereitwillig ablichten und zitieren lässt, über den dürfen Medien auch in weniger angenehmem
e) Carl Hirschmann hat sich als Inhaber eines bekannten Nachtlokals und «Partykönig» bereits vor seiner Verhaftung im November 2009 und der darauffolgenden Flut von Berichten freiwillig in der Öffentlichkeit bewegt und exponiert. Zwischen dem Gegenstand der Berichterstattung, die gegen ihn als Betreiber des Nachtclubs Saint Germain erhobenen strafrechtlichen Vorwürfe, und dem Grund der öffentlichen Bekanntheit Hirschmanns besteht zudem ein Sachzusammenhang. Selbst wenn der Beschwerdeführer damit nicht einverstanden war, durften Journalistinnen und Journalisten deshalb identifizierend über seine Verhaftung und die gegenüber ihm erhobenen strafrechtlichen Vorwürfe berichten.
2. a) Gemäss der Richtlinie 7.4 zur «Erklärung» sollten Medienschaffende bei Berichten über hängige Strafverfahren der Unschuldsvermutung Rechnung tragen. Besondere Zurückhaltung ist zudem geboten, wenn die strafrechtlichen Vorwürfe die Privat- und Intimsphäre der Beteiligten berühren. Die Unschuldsvermutung hindert Medienschaffende nicht daran, bei hängigen Verfahren pointiert zu kommentieren und Partei zu ergreifen. Sie sollten aber zumindest darauf hinweisen, ob das Verfahren noch hängig oder abgeschlossen ist und ob eine eventuelle Verurteilung rechtskräftig ist (vgl. zuletzt die Stellungnahme 24/2010 mit weiteren Hinweisen).
b) Bei einer Gesamtbetrachtung, ohne auf einzelne Medienberichte einzugehen, sieht der Presserat die Unschuldsvermutung durch die Berichterstattung im «Fall Hirschmann» nicht verletzt. Zwar erscheint die Flut der Medienberichte im «Fall Hirschmann» als für den Betroffenen unzumutbar. Beim Publikum entsteht jedoch keineswegs der unzutreffende Eindruck, Carl Hirschmann sei wegen den Anschuldigungen rund um seinen Nachtclub bereits rechtskräftig verurteilt. Und auch wenn der Medienhype rund um den «Fall Hirschmann» die öffentliche Meinung über den Beschwerdeführer negativ beeinflusst hat, ist dadurch nach Auffassung des Presserates eine unabhängige gerichtliche Beurteilung nicht a priori in Frage gestellt.
3. a) Als problematisch und teils auch fehlerhaft erachtet der Presserat hingegen die Art und Weise, wie manche Medienberichte über den «Fall Hirschmann» mit Statements von angeblichen Zeugen umgehen. Journalistinnen und Journalisten sind nicht an offizielle amtliche Verlautbarungen gebunden. Und sie dürfen ungeachtet der Informationspraxis und des Veröffentlichungsrhythmus der Strafverfolgungsbehörden den Sachverhalt unabhängig recherchieren. Sie sollten sich dabei aber verantwortlich und respektvoll verhalten und die berufsethischen Regeln beachten.
b) Die Festnahme eines prominenten Verdächtigen kann diesen (auch) medial schwer belasten: Die Medien stürzen sich auf das Ereignis. Personalisierung und Skandalisierung geben sich die Hand. Die Recherchen der Medien werfen täglich neues Material ab, das die öffentliche Darstellung am Leben erhält. Manche Recherchen erwecken den Eindruck, es sei nach belastenden Zitaten gefischt worden, die ohne kritische Überprüfung der Quellen und häufig auch anonym veröffentlicht werden. Durch die Summe solcher Einzelzitate kann ein Gesamtbild entstehen, das weder durch Quellen belegt noch überprüfbar ist.
Angesichts dieser latenten Gefahr der Entstehung eines falschen Anscheins ist es umso wichtiger, dass sich Journalistinnen und Journalisten bei Parallelrecherchen der Grenzen der eigenen Möglichkeiten bewusst sind. Strafverfolgungsbehörden haben prozessuale Mittel (Zeugeneinvernahmen, Edition von Dokumenten, Spurenuntersuchungen) zur Rekonstruktion eines Sachverhalts, die der journalistischen Recherche verwehrt sind.
Da es häufig nicht möglich ist, den Verhafteten beziehungsweise einen Vertreter mit den Vorwürfen von angeblichen Zeugen zu konfrontieren, sollten sich Medienschaffende umso mehr davor hüten, sich unter dem Druck, möglichst täglich Neuigkeiten über einen «Fall» zu bringen, dazu verleiten zu lassen, blosse Gerüchte und Verdächtigungen ungeprüft zu veröffentlichen. Gerüchte und Verdächtigungen können zwar den Ausgangspunkt einer Recherche bilden. Sie sind aber gerade bei der Berichterstattung über einen hängigen Straffall, der in der Öffentlichkeit grosses Aufsehen erregt, vor der Publikation besonders kritisch zu überprüfen. Erst wenn die Wahrheitssuche in einer hieb- und stichfesten Tatsachenaussage endet, verliert ein Gerücht seine Anrüchigkeit (Stellungnahme 18/2009).
4. Die Richtlinie 3.8 auferlegt den Journalistinnen und Journalisten die Pflicht, vor der Publikation von schweren Vorwürfen die davon Betroffenen anzuhören und deren Stellungnahme zumindest kurz und fair im Medienbericht wiederzugeben. Auch wenn sich ein Angeschuldigter in Untersuchungshaft befindet, ein Vertreter unter Umständen (noch) nicht bekannt ist und auch nicht ausfindig gemacht werden kann, entbindet dies die Medien nicht davon, diese Konkretisierung des Fairnessprinzips zu beachten.
Primär sollte vor der Publikation von schweren Vorwürfen immer versucht werden, den direkt Betroffenen für eine Stellungnahme zu erreichen. Ist der Kritisierte für eine Stellungnahme nicht erreichbar (befindet sich beispielsweise ein Angeschuldigter in Haft oder auf der Flucht), kann – falls bekannt – stattdessen ein Vertreter (z.B. ein Anwalt) angehört werden (Stellungnahme 5/1997).
Unmittelbar nach der Verhaftung von Carl Hirschmann war es den Medien kaum möglich, dessen Anwalt ausfindig zu machen. In den entsprechenden Berichten hätte jedoch zumindest kurz vermerkt werden müssen, dass weder vom Beschwerdeführer noch von einem Vertreter ein Statement erhältlich war. Denn nur so wird dem Publikum klar, dass den gegenüber der beschuldigten Person erhobenen Vorwürfen allenfalls eine andere Version des Betroffenen gegenübersteht. Und sobald bekannt war, dass der Beschwerdeführer einen Medienberater engagiert hatte, waren die Medien gehalten, vor der Veröffentlichung schwerer Vorwürfe diesen vorgängig zu kontaktieren, soweit Carl Hirschmann für eine Stellungnahme nicht selber erreichbar war.
5. a) Der Presserat hat sich bereits in der Stellungnahme 22/2008 im Zusammenhang mit der Berichterstattung über pädophile Priester mit der Frage auseinandergesetzt, wie häufig, wiederholend und intensiv die Medien über ein Thema berichten dürfen. Während der Beschwerdeführer vorliegend den Vorwurf der medialen «Steinigung» erhebt, sprachen damals nach dem Suizid eines Priesters Angehörige des Verstorbenen, aber auch andere Stimmen in der Öffentlichkeit, von einer medialen Hinrichtung und Hexenjagd.
Für den Presserat beschäftigten sich die Medien zu Recht intensiv mit dem Thema «pädophile Priester», das von der katholischen Kirche allzu lange heruntergespielt oder gar verdrängt worden sei. Zwar könne das regelmässig auftretende Phänomen einer Flut von Medienberichten zu einem einzelnen, aktuellen Thema zu Entgleisungen führen. Dieser Mechanismus gehöre aber zwangsläufig zur Pressefreiheit.
b) Währenddem an der Berichterstattung zum Thema «pädophile Priester» ein öffentliches Interesse bestand, steht bei der Flut von Medienberichten zum «Fall Hirschmann» der Voyeurismus im Zentrum. Insofern fällt es dem Presserat schwer, die daraus für den Beschwerdeführer entstandenen negativen Folgen gutzuheissen. Doch ist es umgekehrt Sache des Presserates, sich zur Auswahl und Gewichtung der von den Medien bearbeiteten Themen und veröffentlichten Informationen zu äussern? Oder den Medien gar verbindliche Vorgaben zu machen, wie intensiv und häufig sie über ein Thema berichten dürfen, wenn an einer Berichterstattung kein besonderes öffentliches Interesse besteht?
Der Presserates bedauert zwar, dass durch die in den letzten Jahren noch einmal gestiegene Ausrichtung der redaktionellen Inhalte nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten derartige Themen nicht nur in der Boulevardpresse und in Gratismedien, sondern zunehmend auch in Qualitätsmedien ein überproportionales Gewicht erhalten haben, während gleichzeitig die Funktion der Medien als «Wachhunde» der Demokratie und Moderatoren des gesellschaftlichen Diskurses tendenziell zurückgedrängt wird.
Auf der Grundlage der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» tut sich der Presserat jedoch schwer, konkrete Normen und Handlungsanleitungen für die einzelnen Medienschaffenden und Redaktionen abzuleiten, die künftig unerwünschte Auswüchse der Medienfreiheit durch Medienhypes wie im «Fall Hirschmann» verhindern könnten.
Der Presserat beurteilt Einzelfälle. Darüber hinaus erscheint es weder sinnvoll noch angemessen, die in der Gesamtheit entstehende Überbordung bei einer Flut von Medienberichten über ein Thema den einzelnen Redaktionen und Medienschaffenden zuzurechnen. Trotzdem entbindet dies Journalistinnen und Journalisten nicht davon, von ihrem Ermessen bei der Themenwahl und der Bearbeitung der zu veröffentlichenden Informationen verantwortungsbewusst Gebrauch zu machen.
c) Die Erfahrung zeigt, dass gerade bei sogenanntem Rudeljournalismus die Gefahr droht, dass berufsethische Regeln (sorgfältige Verifikation, Anhörung bei schweren Vorwürfen usw.) häufig verletzt werden («Feeding Frenzy»). Umso mehr ist hier ganz besonders an die redaktionelle Sorgfalt zu appellieren. Bei der Prüfung der Frage, ob diese oder jene zusätzliche Information unbedingt auch noch an die Öffentlichkeit muss und ob es wirklich noch einen weiteren Medienbericht zum Thema braucht, sollten die Redaktionen zudem auch die Wirkung berücksichtigen, welche eine Medienlawine für die Betroffenen hat (Frequenz, Wiederholung von Medienberichten, elektronische Verlinkung verschiedener Artikel usw.).
II. Erwägungen
1. Medien dürfen über Boulevardprominente auch in weniger angenehmem Zusammenhang identifizierend berichten, sofern ein Zusammenhang mit dem Grund der Prominenz und dem Gegenstand der Berichterstattung besteht.
2. Eine massive Medienberichterstattung über ein hängiges Strafverfahren verstösst nicht von vornherein gegen die Unschuldsvermutung, sofern die einzelnen Berichte darauf hinweisen, dass noch keine rechtkräftige Verurteilung erfolgt ist und sofern eine von der veröffentlichten Meinung unabhängige richterliche Beurteilung nach wie vor gewährleistet erscheint.
3. Bei Recherchen zu hängigen Strafverfahren sollten sich Redaktionen nicht dazu verleiten lassen, möglichst täglich Neuigkeiten über einen «Fall» zu bringen und daher blosse Gerüchte und Verdächtigungen ungeprüft zu veröffentlichen.
4. Auch wenn sich eine beschuldigte Person in Untersuchungshaft befindet, sind Journalistinnen und Journalisten vor der Veröffentlichung schwerer Vorwürfe verpflichtet, einen allfälligen Vertreter zu kontaktieren und dessen Stellungnahme einzuholen. Ist weder der Betroffene noch ein Vertreter für eine Stellungnahme erreichbar, ist dies im Medienbericht ausdrücklich zu vermerken.
5. Auch wenn die einzelnen Journalist/innen und Redaktionen nicht für die Gesamtwirkung eines Medienhypes verantwortlich sind, sind sie trotzdem verpflichtet, von ihrem Ermessen bei der Auswahl der zu veröffentlichenden Informationen in verantwortlicher Weise Gebrauch machen. Bei ihrer Abwägung sollten sie auch die Wirkung berücksichtigen, welche eine Lawine von Medienberichten für die davon Betroffenen hat – ganz zu schweigen von der Verdrängung relevanter Themen.