Zusammenfassung
Presserat zum Argo-Politskandal
«Corriere del Ticino» verletzt Kodex mehrfach
Die grösste Tessiner Tageszeitung hat sich im grössten Tessiner Politskandal der letzten Jahre stellenweise unprofessionell verhalten. So urteilt der Presserat in einem jetzt veröffentlichten Beschwerdefall. Weder in punkto Wahrheitspflicht verhielt sich der «Corriere del Ticino» bei seiner Berichterstattung über die Sicherheitsfirma Argo 1 korrekt, noch gewährte er zwei ungerechtfertigt mehrfach angegriffenen Wachleuten vor der Veröffentlichung Gehör. Zudem hat die Zeitung Angaben über die beiden an die Öffentlichkeit gebracht, die deren Persönlichkeitsrechte verletzten.
Das Selbstkontrollorgan der Schweizer Presse war von den Ex-Argo-Beschäftigten, ihrer Gewerkschaft und weiteren Beschwerdeführern angerufen worden, nachdem die Affäre um das private Security-Unternehmen ruchbar geworden war. Bevor es von der Kantonsregierung den 3,4 Millionen-Franken-Auftrag dazu erhielt, war Argo 1, das bis 2017 mehrere Asylzentren betrieb, auf diesem Gebiet weder qualifiziert, noch hatte es an einer Ausschreibung teilgenommen. Weil sich Argo unter anderem bei der Bezahlung seiner Beschäftigten nicht an die Regeln hielt, war die Firma bei der Gewerkschaft Unia angezeigt worden. Einer der angestellten Wachleute äusserte sich zudem in der Sendung «Falò» von RSI zum Fall.
Der «Corriere» warf ihnen darauf vor, von der Unia gezielt als Spitzel gegen das Unternehmen eingesetzt worden zu sein, nannte ihren Namen, Wohnort, Nationalität sowie den Umstand, dass einer der beiden eine italienische Invalidenrente bezieht – all dies, ohne auch nur den Versuch einer Kontaktaufnahme belegen zu können – oder gar den Vorwurf der Betriebsspionage.
Der Presserat sieht durch dieses Verhalten die Pflicht zur wahrheitsgemässen Berichterstattung sowie die bei schweren Anschuldigungen zwingend vorgeschriebene Anhörung von namentlich Genannten verletzt. Überhaupt hatte der «Corriere del Ticino» keinen Grund, den Namen eines der beiden Ex-Argo-Leute zu veröffentlichen. Der zweite Wachmann hatte seinen Namen vor den Kameras des RSI bereits selbst genannt.
Résumé
Conseil de la presse sur le scandale politique Argo 1
«Corriere del Ticino» viole le code déontologique plusieurs fois
Le plus grand quotidien tessinois a en partie agi de manière non professionnelle dans le plus grand scandale politique au Tessin de ces dernières années. Le «Corriere del Ticino» n’a pas agi correctement dans son reportage sur la société de sécurité Argo 1 en ce qui concerne le devoir de vérité et n’a pas entendu deux employés attaqués de manière injustifiée et répétée avant la publication. En outre, le journal a publié des informations sur les deux hommes qui ont violé la protection de leur personnalité.
Le Conseil de la Presse a été saisi par les anciens employés de Argo 1, leur syndicat et d’autres plaignants. Argo 1, qui tenait plusieurs centres d’asile jusqu’en 2017, n’était pas qualifié pour cela et n’avait pas participé à un appel d’offres avant de recevoir le contrat de 3,4 millions de francs du gouvernement cantonal. Parce qu’Argo n’a – entre autres – pas respecté les règles en matière de rémunération de ses employés, l’entreprise a été dénoncée auprès du syndicat Unia et un de ses employés s’est exprimé dans l’émission «Falò» de la chaîne de télévision régionale RSI.
Le «Corriere» les a accusés d’avoir été utilisés par Unia comme informateurs contre l’entreprise, en citant leur nom, leur lieu de résidence, leur nationalité et le fait que l’un d’entre eux reçoit une pension d’invalidité italienne – tout cela sans même pouvoir prouver une quelconque tentative de contact – ou même l’accusation d’espionnage industriel.
Le Conseil de la presse considère que cette conduite viole l’obligation de respecter la vérité et l’audition obligatoire des personnes désignées nommément en cas de reproches graves. Le «Corriere del Ticino» n’avait aucune raison de publier le nom de l’un des deux ex-collaborateurs de Argo. Le deuxième agent de sécurité avait déjà mentionné son nom devant les caméras de RSI.
Riassunto
Il Consiglio della stampa sullo scandalo Argo 1
Ripetute violazioni deontologiche da parte del «Corriere del Ticino»
Il più diffuso quotidiano ticinese ha agito più volte in modo non professionale riferendo sul caso Argo 1, il più grave scandalo politico degli ultimi anni in Ticino. È il giudizio del Consiglio della stampa, che rende nota la relativa presa di posizione. Le violazioni riguardano il rispetto della verità e il diritto di due dipendenti dell’impresa di sicurezza Argo 1 di essere sentiti prima di essere ripetutamente attaccati. Anche altri particolari riferiti circa le due persone in oggetto violano il diritto alla riservatezza dei loro dati personali.
L’organo di autodisciplina della stampa svizzera era stato interpellato da varie persone: dai due ex dipendenti della Argo 1, dal sindacato Unia e da alcuni privati. L’azienda, che fino al 2017 gestiva diversi centri d’asilo, non era qualificata per il compito specifico né aveva vinto una gara di appalto, tuttavia aveva ricevuto un mandato per 3,4 milioni di franchi dal Cantone. «Argo 1» era stata denunciata al sindacato Unia e uno dei suoi dipendenti si era espresso durante un servizio televisivo della RSI, denunciando fra l’altro irregolarità nel versamento dei compensi.
Il «Corriere» accusava i due denuncianti di essere manipolati da Unia contro la società: di loro era dato il nome, il domicilio, la nazionalità di uno si precisava che era al beneficio di una rendita di invalidità in Italia – tutto questo senza neppure aver cercato di raggiungerli per raccogliere il loro parere – e persino accusati di spionaggio industriale.
Il Consiglio della stampa ritiene che tale condotta abbia violato gravemente il dovere di rispettare la verità e l’obbligo di ascoltare le persone oggetto di gravi addebiti quando siano citate per nome. Il Corriere del Ticino non aveva nessun diritto di citare il nome di uno dei collaboratori di Argo; l’altro invece aveva citato lui stesso il proprio nome davanti alle telecamere della RSI.
I. Sachverhalt
A. Am 22. Februar 2017 wurde bei einer Razzia in den Räumen und Asylzentren der Firma Argo 1 deren Geschäftsführer verhaftet. Argo 1, ein auf diesem Gebiet unerfahrenes Sicherheitsunternehmen, war drei Jahre zuvor vom Tessiner Sozialdepartement mit der Organisation und Betreuung der kantonalen Asylzentren Camorino, Rivera und Peccia beauftragt worden. Der Argo-Geschäftsführer stand unter Verdacht der Freiheitsberaubung und Gewaltanwendung gegenüber mindestens einem Asylbewerber. Mit ihm kam ein weiterer führender Argo-Mitarbeiter in Haft. In der Folge beschäftigten sich mehrere Kommissionen des Kantonsparlaments mit dem Fall, einer der grössten Politaffären in der jüngeren Geschichte des Tessin mit entsprechendem publizistischem Echo.
Am 17. Oktober 2017 publizierte der «Corriere del Ticino» (CdT) auf seiner Frontseite den Artikel «Argo 1 e il superteste invalido» (Argo 1 und der invalide Kronzeuge), gefolgt vom Artikel «Il superteste al beneficio dell’invalidità» (Der Kronzeuge profitiert von einer Invalidenrente) auf Seite 7. Die Autoren Gianni Righinetti und Giovanni Mariconda führen darin aus, Mario Morini, ein ehemaliger Argo-Wachmann, welcher sich in der Sendung «Falò» von RSI und im «Mattino della domenica» zu der Affäre geäussert hatte, beziehe in Italien eine Invalidenrente. Dies gehe aus einem Bericht hervor, der dem Staatsrat und der Staatsanwaltschaft vorliege.
B. In der Ausgabe vom 18. Oktober 2017 veröffentlichte der «Corriere del Ticino» auf seiner Frontseite in gleicher Sache den Artikel «Argo 1 e i controllori sindicali» (Argo 1 und die Überwacher der Gewerkschaft). Der Lead lautet: «Da Mario Morini e Alessandro Cappelli i documenti per UNIA finiti a ‹Falò›. Pronto il progetto di mandato alla Commissione parlamentare d’inchiesta» (Die Dokumente für die UNIA, die bei ‹Falò› landeten, stammten von Mario Morini und Alessandro Cappelli. Das Projekt, den Fall einer parlamentarischen Untersuchungskommission zu übergeben, ist zustandege-kommen).
Der «Corriere» verweist in diesem Beitrag auf die Enthüllung vom Vortag und schreibt: Mario Morini, der in der RSI-Sendung «Falò» ausführlich als Informant in Erscheinung getreten war, soll einen Hintermann gehabt haben, Alessandro Cappelli, ebenfalls ein Angestellter der Firma. Beide stünden der Gewerkschaft Unia nahe und hätten interne Argo-Dokumente an «Falò» geliefert. Unter dem Titel «La sicurezza e gli infiltrati targati UNIA» (Die Sicherheit und die Eindringlinge von der Unia) führen Gianni Righinetti und Giovanni Mariconda auf Seite 7 noch einmal aus, beide Zeugen stünden der Gewerkschaft Unia «sehr nahe». Die Unia sei interessiert gewesen, Insider bei Argo 1 zu platzieren, um nützliche Details für ihre Kampagnen zu erfahren. Cappelli verfüge über eine Aufenthaltsbewilligung B, lebe jedoch in Italien. Er sei weiterhin in der Asylbewerberunterkunft Camorino tätig. Cappelli sei die wahre Quelle jener Interna, die Morini dann vor den Kameras von «Falò» ausgebreitet habe.
C. In der Reihenfolge des Eintreffens ihrer Eingaben beim Schweizer Presserat erhoben folgende Personen und Institutionen Beschwerde gegen die Berichterstattung des CdT: V., W., X., die Gewerkschaft Unia, Y., Z. sowie die vom «Corriere del Ticino» angegriffenen früheren Argo-Mitarbeiter Mario Morini und Alessandro Cappelli, beide anwaltlich vertreten. In teilweise identischen Formulierungen werfen die Beschwerdeführer dem CdT Verstösse gegen die «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») sowie gegen die Richtlinien des Schweizer Presserats vor. Im einzelnen monieren sie Verletzungen von Ziffer 7 der «Erklärung» (Privatsphäre) sowie der Richtlinien 1.1 (Wahrheitssuche), 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) und 7.2 (Identifizierung).
Sie machen geltend, weder der Name von Alessandro Cappelli, noch die Tatsache, dass Mario Morini eine Invalidenrente in Italien beziehe, hätten genannt werden dürfen. Mit der Kombination von Titel und Lead auf Seite 1 werde suggeriert, Cappelli sei ein Spitzel, der Argo 1 infiltiert habe, um seinen Auftraggeber – die Gewerkschaft – mit Informationen zu versorgen. Die Anschuldigung verletze dessen Persönlichkeitsrechte in schwerer Weise. Dasselbe gelte für Mario Morini, der ebenfalls als Infiltrant und Informant bezeichnet werde. Der «Corriere» werfe den beiden vor, Informationen «entwendet» zu haben bzw. als Spione tätig gewesen zu sein.
Dabei handle es sich um schwere Vorwürfe, zu denen beide gemäss Richtlinie 3.8 hätten angehört werden müssen. Der Artikel versuche auch, die Gewerkschaft Unia in ein schlechtes Licht zu rücken, indem behauptet werde, sie greife auf unorthodoxe, um nicht zu sagen unkorrekte Methoden zurück, sie instrumentalisiere Arbeitskräfte und setze sie damit ausserordentlichen und politisch heiklen Risiken aus.
D. Der Chefredaktor des «Corriere del Ticino», Fabio Pontiggia, weist in seiner Beschwerdeantwort vom 4. Februar 2018 auf das grosse Echo hin, das die Argo-Affäre in der Tessiner Öffentlichkeit gefunden hat und mit Sicherheit auch in Zukunft finden werde, sowie auf die politische Brisanz des Falls. Er sieht in der Berichterstattung des CdT keine Verletzung der Privatsphäre der Wachleute. Nicht der «Corriere del Ticino» habe den Namen von Alessandro Cappelli enthüllt. Er sei der Öffentlichkeit bereits vorher bekannt gewesen: Pontiggia verweist auf die Sendung «Falò», welche am 28. September 2017 eine Liste der Beschäftigten von Argo 1 gezeigt habe. Folgerichtig hätte sich Cappellis Beschwerde gegen «Falò» richten müssen. Da die von «Falò» veröffentlichte Liste die Namen aller Angestellten enthalten habe, sei es nötig gewesen, Cappellis Namen zu nennen, um eine Verwechslung zu vermeiden. Die Nennung seines Vor- und Nachnamens sei zudem durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt gewesen, alle bezüglich Argo 1 relevanten Fakten und die Namen derjenigen Personen, welche keine Nebenrolle gespielt hätten, zu erfahren. Die Fakten in den beiden Artikeln stimmten, weshalb auch kein Verstoss gegen die Wahrheitspflicht vorliege.
Zum Vorwurf Morinis und Cappellis, es sei unwahr, dass sie Argo 1 im Auftrag ihrer Gewerkschaft unterwandert hätten, nimmt Pontiggia nicht Stellung. Ebensowenig zu der Frage, weshalb der «Corriere» die Invalidenrente Morinis zum Thema gemacht hat.
E. Das Präsidium des Presserats vereinigte die acht Verfahren und wies die Beschwerden seiner 1. Kammer zu, der Francesca Snider (Kammerpräsidentin), Dennis Bühler, Michael Herzka, Klaus Lange, Francesca Luvini, Casper Selg und David Spinnler angehören. Francesca Luvini, die bei RSI tätig ist, trat auf eigenen Wunsch in den Ausstand.
F. Die 1. Kammer des Schweizer Presserates behandelte den Fall an ihrer Sitzung vom 5. Juni 2018 sowie auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. Sämtliche Beschwerdeführende machen geltend, der «Corriere del Ticino» habe mit der Nennung des Namens von Alessandro Cappelli dessen Privatsphäre verletzt. Cappelli war im Unterschied zu Mario Morini bis zum Bericht des CdT am 18. Oktober 2017 der Öffentlichkeit völlig unbekannt. Zu fragen ist deshalb, ob in seinem Fall die Namensnennung als Verstoss gegen Richtlinie 7.2 (Identifizierung) zu qualifizieren ist. Danach ist eine Namensnennung von Personen in einem Medienprodukt zulässig:
• sofern die betroffene Person im Zusammenhang mit dem Gegenstand des Medienberichts öffentlich auftritt oder auf andere Weise in die Veröffentlichung einwilligt;
• sofern eine Person in der Öffentlichkeit allgemein bekannt ist und der Medienbericht damit im Zusammenhang steht;
• sofern die betroffene Person ein politisches Amt beziehungsweise eine staatliche oder gesellschaftlich leitende Funktion wahrnimmt und der Medienbericht damit im Zusammenhang steht;
• sofern die Namensnennung notwendig ist, um eine für Dritte nachteilige Verwechslung zu vermeiden;
• sofern die Namensnennung oder identifizierende Berichterstattung anderweitig durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt ist.
Cappellis Identifizierung wäre gemäss dieser Kriterien zulässig gewesen, wenn er der Nennung seines Namens zugestimmt hätte: Das ist nicht der Fall. Öffentlich bekannt war der Wachmann bis zu seiner Identifizierung durch den «Corriere» ebenfalls nicht. Zudem hat Cappelli weder ein öffentliches Amt noch eine leitende staatliche oder gesellschaftliche Funktion inne. Auch ein überwiegendes öffentliches Interesse, das gemäss Richtlinie 7.2 eine Namensnennung hätte rechtfertigen können, ist nicht erkennbar.
Bei der Argumentation von CdT-Chefredaktor Pontiggia, der Name Cappellis sei bereits in der Sendung «Falò» zu sehen gewesen, mithin bekannt, bleibt unerwähnt, dass die Sequenz, in der das zweiseitige Mitarbeiterverzeichnis vor der Kamera auf einem Tisch des Studios umgeblättert wird, lediglich ein szenisches Element ist und etwa drei bis vier Sekunden dauert. Der CdT-Chefredaktor weist ausdrücklich darauf hin, jedermann habe Screenshots der Argo-Mitarbeiterliste «herunterladen und ausdrucken» können. Er begründet damit im Kern seiner Beschwerdeantwort, man sei geradezu gezwungen gewesen, Cappellis Rolle als Informant der RSI-Sendung zu beleuchten, damit nicht alle anderen auf der Liste verdächtigt würden, Informationen über die Vorgänge in und um Argo 1 herausgegeben zu haben: Die von den Beschwerdeführenden zitierte Presseratsrichtlinie 7.2 erlaube schliesslich eine Namensnennung, wenn dadurch Verwechslungen vermieden werden könnten.
Angesichts der von «Falò» ausgestrahlten Bilder erscheint diese Begründung nicht haltbar: Zum einen ist Cappellis Name lediglich eine von 22 Positionen auf der Liste; er wird weder herausgezoomt noch anderweitig hervorgehoben, auch im gesprochenen Kommentar wird er nicht erwähnt. Weiter ist das Mitarbeiterverzeichnis nur so kurz zu sehen, dass es detektivischer Feinarbeit bedurft hätte, einzelne Personalien herauslesen zu können. Die Argumentation des CdT-Chefredaktors, man habe die Persönlichkeitsrechte Cappellis verletzen müssen, damit nicht die Persönlichkeitsrechte anderer Argo-Mitarbeiter verletzt werden, erscheint vor diesem Hintergrund in keiner Weise schlüssig.
Zur Frage, weshalb Cappelli vom «Corriere del Ticino» als Drahtzieher genannt wurde – und nicht irgendjemand sonst von der Liste – erwähnt der CdT-Chef Äusserungen des Gewerkschafters Oswaldo Formato gegenüber der Tageszeitung «La Regione». Dort weist der Unia-Zuständige für Sicherheitspersonal in der Tat darauf hin, Cappelli sei einer der Argo-Mitarbeiter, von denen die Gewerkschaft im Ursprung des Skandals um Hilfe gebeten worden sei. Dass Formatos Interview aber erst am Tag nach der Veröffentlichung im CdT erschien, erwähnt Chefredaktor Pontiggia nur am Rande. Ob er über anderweitige Belege für die Rolle Cappellis verfügt, lässt er offen.
Im Fall von Alessandro Cappelli ist daher aufgrund der Sachlage eine Verletzung von Richtlinie 7.2 (Identifizierung) durch die Berichte des «Corriere del Ticino» gegeben.
2. Mario Morini, der andere Wachmann, hat seine Identität von sich aus offenbart, indem er in der RSI-Sendung «Falò» über die Zustände bei Argo 1 berichtete. Die Nennung seines Namens ist aufgrund dieses vorherigen öffentlichen Auftretens legitim. Morini kritisiert in seiner Beschwerde, dass der CdT seinen Bezug einer italienischen Invalidenrente publik gemacht habe. Diese Information sei nicht von öffentlichem Interesse – zumal eine derart geringe Rentenleistung in Italien nicht mit dem Verbot verbunden sei, einer bezahlten Tätigkeit nachzugehen. Daher liege in der Veröffentlichung dieses Fakts ebenfalls ein Verstoss gegen Presserats-Richtlinie 7.2.
Warum veröffentlicht wurde, dass Morini in Italien eine Invalidenrente bezieht, begründet der «Corriere» in seiner Beschwerdeantwort nicht. Im ursprünglichen Artikel vom 17. Oktober 2017 «Il superteste al beneficio dell’invalidità» (Der Kronzeuge, der von der Invalidität profitiert), den der CdT am 18. Oktober zitiert, heisst es lediglich, Morinis Invalidenstatus entnehme man einem Dokument «im Besitz der Regierung, das gestern auch dem Gericht zugegangen ist» – ohne Angaben über dessen Verfasser, Ursprung oder weiteren Inhalt. Der Bezug einer Invalidenrente in Italien steht in keinem Zusammenhang mit der Rolle, welche Morini in der Berichterstattung rund um die Affäre Argo spielt. Diese Rente zu erwähnen, stellt einen schwerwiegenden Eingriff in Morinis Privatsphäre dar. Ziffer 7 der «Erklärung» ist somit verletzt.
3. Nicht nur in den inkriminierten Artikeln, sondern auch in seiner Beschwerdeantwort verzichtet der CdT darauf, Quellen oder Belege für seine These zu nennen, wonach Morini und Cappelli die Sicherheitsfirma im Auftrag ihrer Gewerkschaft unterwandert hätten. Ebensowenig wird erkennbar, ob die Sicherheitsleute jemals überhaupt kontaktiert, geschweige denn mit dem Vorwurf der Betriebsspionage konfrontiert worden sind. Wie Morini beklagt deshalb auch Cappelli eine Verletzung von Richtlinie 1.1: Weder in seinem noch im Falle des Arbeitskollegen sei wahr, dass er das Sicherheitsunternehmen Argo 1 im Auftrag der Gewerkschaft Unia zum Zweck der Informationsgewinnung unterwandert habe, wie der «Corriere» behauptet.
Da weder aus den Berichten des «Corriere del Ticino» noch aus der Beschwerdeantwort seines Chefredaktors hervorgeht, über welche Belege die Zeitung für ihren zentralen Vorwurf verfügt, dass Morini und Cappelli von der Unia als Spitzel auf das Sicherheitsunternehmen Argo angesetzt worden sind, ist die Beschwerde der beiden Wachmänner deshalb auch im Hinblick auf eine Verletzung der Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung») gutzuheissen.
4. Cappelli wie Morini beklagen schliesslich einen Verstoss des «Corriere» gegen Richtlinie 3.8, welche Medien dazu verpflichtet, Beschuldigte vor der Veröffentlichung von schweren Vorwürfen anzuhören. Auf Grundlage der eingereichten Schriftstücke steht ausser Frage, dass die Zeitung nicht den Versuch unternommen hat, einen der beiden anzuhören, bevor sie ihre Vorwürfe veröffentlichte, die Namen der Männer ohne jegliche Anonymisierung druckte und im Falle Morinis auch noch darauf hinwies, dass er eine italienische Invalidenrente bezieht.
Nach dem Verständnis des Presserats sind Vorwürfe dann als «schwer» zu betrachten, wenn sie ein illegales oder damit vergleichbares Verhalten beschreiben. Man mag einwenden, dass die beiden Argo-1-Wachleute lediglich als unmittelbar Betroffene auf die Verletzung ihrer Arbeitnehmerrechte hingewiesen haben, keinesfalls jedoch wirkliche Geschäftsgeheimnisse weitergegeben haben. Doch wenn der «Corriere del Ticino» seine eigenen Vorwürfe gegen Cappelli und Morini auch nur im Ansatz ernst genommen hätte, wäre er verpflichtet gewesen, sie dazu anzuhören. Denn zumindest aus der Warte der Redaktion haben diese Beschuldigungen als schwer zu gelten – Betriebsspionage ist als schwerer Vorwurf zu werten. Da der «Corriere del Ticino» dies aber nach Stand der Dinge unterlassen hat, ist auch eine Verletzung von Richtlinie 3.8 erstellt.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.
2. Der «Corriere del Ticino» hat mit seinen Berichten über zwei ehemalige Mitarbeiter der Sicherheitsfirma Argo 1 vom 17. und 18. Oktober 2017 die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 3 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) sowie 7 (Identifizierung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.