Nr. 20/2024
Wahrheitspflicht / Diskriminierung

(X c. «Basler Zeitung»)

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Zusammenfassung

Die «Basler Zeitung» berichtete, dass die Stadtreinigung beim Werk eines berühmten Künstlers in der Basler Innenstadt täglich Exkremente wegputzen müsse. Der Titel lautete: «Nicht mehr nur ein Pissoir: Roma hinterlassen Exkremente bei der Serra-Plastik». Der Presserat stellte sich zwei Fragen: Verstösst der Artikel gegen das Wahrheitsgebot? Und ist er diskriminierend? Nach kontroverser Diskussion sieht das medienethische Gremium die «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» in beiden Punkten verletzt. Die von der «Basler Zeitung» offenbarte Quellenlage genügte nicht, um die beim Kunstwerk gefundenen Exkremente den Roma zuzuordnen. Der Presserat erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass es mindestens zwei voneinander unabhängige, verlässliche Quellen braucht, um unbestätigte Informationen verbreiten zu dürfen, die geeignet sind, das Ansehen der Angeschuldigten stark negativ zu beeinträchtigen. Im Titel des Beitrags sieht der Presserat zudem eine Verletzung des Diskriminierungsverbots, weil er Vorurteile bediene und unverhältnismässig sei. Die Redaktion hat im Artikel nicht hinreichend belegt, dass es sich bei den Verursachern des Problems um Roma handelt. Wäre diese Aussage mit Quellen untermauert, läge kein Verstoss vor, da der Informationswert die Gefahr der Diskriminierung dann wohl überträfe.

Résumé

La « Basler Zeitung » a mentionné que les agents d’entretien de la ville de Bâle devaient chaque jour enlever des excréments à proximité d’une œuvre d’un artiste célèbre située dans le centre. Le titre mentionnait : « Nicht mehr nur ein Pissoir: Roma hinterlassen Exkremente bei der Serra-Plastik » (Plus seulement un pissoir : les Roms laissent des excréments à proximité de l’œuvre de Richard Serra). Le Conseil suisse de la presse a traité deux questions : l’article viole-t-il l’obligation de rechercher la vérité ? Et est-il discriminatoire ? Après un débat mouvementé, il a conclu que l’article était contraire sur deux points aux droits et devoirs des journalistes. Premièrement, la source publiée par la « Basler Zeitung » ne suffisait pas à attribuer les excréments à des Roms. Le Conseil suisse de la presse rappelle à cet égard qu’il faut au moins deux sources fiables indépendantes les unes des autres pour diffuser des informations non confirmées qui sont de nature à influer négativement sur la réputation des personnes incriminées. Deuxièmement, le titre enfreint selon lui l’interdiction de la discrimination, dans la mesure où il renforce les préjugés et présente un caractère disproportionné. La rédaction n’a à son avis pas prouvé de manière suffisante que les responsables étaient des Roms. Il n’y aurait pas de violation si cette affirmation se fondait sur des sources fiables, dans la mesure où la valeur informative serait probablement supérieure au risque de discrimination.

Riassunto

La «Basler Zeitung» ha informato in un articolo che il servizio di pulizia della città è costretto a ripulire quotidianamente escrementi dall’opera di un famoso artista nel centro di Basilea.
Il titolo dell’articolo è: «Nicht mehr nur ein Pissoir: Roma hinterlassen Exkremente bei der Serra-Plastik» (‘Non più solo un orinatoio: i rom lasciano feci sulla scultura di Serra’). Il Consiglio della stampa si è chiesto se l’articolo viola il principio di veridicità e se risulta discriminatorio. Dopo una controversa discussione, il comitato di etica dei media ha ritenuto che la «Dichiarazione dei doveri e dei diritti dei giornalisti» sia stata violata in entrambi i casi. Le fonti rivelate dalla «Basler Zeitung» non sono sufficienti ad attribuire ai rom le feci trovate sull’opera d’arte. In questo contesto il Consiglio della stampa sottolinea che, per poter diffondere informazioni non confermate che potrebbero avere un forte impatto negativo sulla reputazione dell’accusato, sono necessarie almeno due fonti indipendenti e affidabili. Inoltre, il Consiglio per la stampa ritiene che il titolo dell’articolo costituisca una violazione del divieto di discriminazione, in quanto promuove pregiudizi ed è sproporzionato. In questo articolo la redazione non ha fornito prove sufficienti a dimostrare che i causanti del problema sono rom. Se questa affermazione fosse supportata da fonti, non ci sarebbe alcuna violazione, poiché il valore informativo supererebbe probabilmente il rischio di discriminazione.

I. Sachverhalt

A. Am 12. Dezember 2022 veröffentlicht die «Basler Zeitung» einen Artikel von Leif Simonsen mit dem Titel «Nicht mehr nur ein Pissoir: Roma hinterlassen Exkremente bei der Serra-Plastik». Der Vorspann lautet: «Täglich muss die Stadtreinigung die Hinterlassenschaften wegputzen. Zeit für eine neue Bettlerdebatte – oder die Diskussion über das umstrittene Kunstwerk neu zu lancieren?».

Im Beitrag geht es um das Werk «Intersection» des weltberühmten US-amerikanischen Künstlers Richard Serra, das seit 1992 vor dem Theater Basel steht. Das Kunstwerk sei seit je umstritten, schreibt die «Basler Zeitung». Ein Grossteil der Bevölkerung habe die Plastik als teuren Rost abgetan, andere hätten den Sichtschutz in den Gängen der 80-Tonnen-Skulptur genutzt, um sich zu erleichtern. Während die Basler in der Serra-Plastik aber meist nur das kleine Geschäft verrichtet hätten, müsse die Stadtreinigung seit rund zwei Monaten täglich Kot wegputzen. Der Leiter der Stadtreinigung, Dominik Egli, wird mit den Worten zitiert, es handle sich täglich um «zwei bis drei Kackhaufen».

«Bei den ‹Tätern› handelt es sich offensichtlich um Roma, welche derzeit in der Nähe des Theaters nächtigen», schreibt die «Basler Zeitung» und fährt fort: «Egli sagt, man wisse von drei Orten, an denen die Obdachlosen übernachteten.» Einer davon liegt, laut Egli, in unmittelbarer Nähe zur Serra-Plastik. Von der Zeitung befragte Politiker sowohl der Linken als auch der Rechten seien sich einig, so die «Basler Zeitung», dass dieses Verhalten angesichts der vielen Möglichkeiten, gratis aufs Klo zu gehen, untolerierbar sei. Die angefragten Politiker hätten aber nahegelegt, man solle «statt der populistischen Bettlerdebatte nun endlich wieder mal eine Serra-Plastik-Debatte führen». Worauf die «Basler Zeitung» fragt: «Ist nun, da man das Kunstwerk nicht mehr nur anpinkelt, sondern zukackt, nicht der Moment gekommen, um es (endlich) zu erlösen und woanders hinzuverfrachten?»

Je ein Politiker der LDP und der SVP sprechen sich für einen neuen Standort aus, das Basler Präsidialdepartement aber weist darauf hin, dass das Werk – falls es versetzt würde – gemäss Vertrag nicht mehr dem Künstler Richard Serra zugeordnet werden dürfte, womit es massiv an Wert verlöre. Am Ende des Artikels kommt die Leiterin der Abteilung Kultur zu Wort: «Meines Erachtens kann es ganz grundsätzlich nicht der Kunst im Stadtraum angelastet werden, wenn ein Teil der Menschheit diejenigen Geschäfte, die andere im Privaten verrichten, gerne an öffentlichen Orten verrichtet. Dies kann kein Argument für oder gegen Kunst im öffentlichen Raum sein.»

B. Am 17. Dezember 2022 erhob X. Beschwerde beim Schweizer Presserat. Er moniert einen Verstoss gegen das in der Einleitung zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») genannte Fairnessprinzip sowie gegen Ziffer 8 der «Erklärung», insbesondere durch den von der «Basler Zeitung» gewählten Titel des Artikels. Es sei zwar möglich, dass Roma Exkremente hinterliessen, schreibt der Beschwerdeführer. «Aber möglicherweise waren es nicht nur Roma. Nicht alle Roma hinterlassen Exkremente bei der Serra-Plastik.» Die diskriminierende Anspielung auf die Volksgruppe sei unnötig, solle doch mit dem Artikel vordergründig eine Diskussion über den Standort der Plastik angeregt werden.

C. Am 17. Januar 2023 informierte der Schweizer Presserat die «Basler Zeitung» über die eingegangene Beschwerde und bat sie, dazu Stellung zu nehmen. Er wies darauf hin, dass er wegen des in der Beschwerde angeführten Fairnessprinzips nicht nur eine allfällige Verletzung von Ziffer 8 (Menschenwürde, Diskriminierung) der «Erklärung» prüfen werde, sondern auch eine von Ziffer 1 (Wahrheit).

D. Am 13. Februar 2023 antwortete die «Basler Zeitung», vertreten vom Rechtsdienst der TX Group, die Beschwerde sei vollumfänglich abzuweisen. Es sei der Redaktion durchaus bewusst gewesen, dass es sich bei den «Beschuldigten» um eine ethnische Minderheit handle, weshalb die Geschichte «besonders sorgfältig» recherchiert worden sei. Statt die «offensichtliche, auf der Hand liegende Geschichte» zu schreiben und Politiker zu suchen, die ein härteres Durchgreifen gegen die Roma fordern, habe man den Schwerpunkt bewusst auf die Frage gelegt, ob die Serra-Plastik nicht entfernt werden könnte. Allerdings wäre es aus ihrer Sicht nicht korrekt gewesen, wenn die Rolle der Roma «angesichts der vorliegenden, mehrfach gestützten Informationen» ganz verschwiegen worden wäre.

Zur Frage einer allfälligen Verletzung der Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung») führt die «Basler Zeitung» aus, im Artikel stehe – entgegen der Darstellung des Beschwerdeführers – an keiner Stelle, dass «alle Roma» ihre Exkremente bei der Serra-Plastik hinterlassen hätten. Beim monierten Text handle es sich ferner nicht um eine Interpretation oder eine Kommentierung, sondern um einen Sachverhaltsbeschrieb, wobei wegen des Quellenschutzes hierzu lediglich festgehalten werden könne, dass die Informationen mehrfach gestützt gewesen seien. Auch der gewählte Titel sei rechtens, enthalte er doch keine falschen Informationen.

Zur Menschenwürde (Ziffer 8 der «Erklärung») schreibt die «Basler Zeitung», sie halte den Artikel nicht für diskriminierend. Der Informationswert sei gegen die Gefahr einer Diskriminierung abgewogen und die Verhältnismässigkeit gewahrt worden. Gemäss der Praxis des Presserats sei eine Anspielung diskriminierend, wenn «durch eine unzutreffende Darstellung das Ansehen einer Gruppe beeinträchtigt und/oder die Gruppe kollektiv herabgewürdigt wird». Dies sei hier nicht der Fall.

E. Der Presserat wies die Beschwerde seiner 1. Kammer zu, der Susan Boos (Präsidentin), Luca Allidi, Dennis Bühler, Ursin Cadisch, Michael Herzka, Francesca Luvini und Casper Selg angehören.

F. Die 1. Kammer des Presserats beriet den Fall an ihren Sitzungen vom 31. Mai und 28. November 2023 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Der Beschwerdeführer macht einen Verstoss gegen das Fairnessprinzip geltend, worunter der Presserat im vorliegenden Fall – wie er der «Basler Zeitung» mitgeteilt hat – eine mögliche Verletzung der Wahrheitspflicht versteht. Fraglich ist somit, ob die Quellenlage der «Basler Zeitung» ausreichend war, um die bei der Serra-Plastik hinterlassenen Exkremente (einzelnen) Roma zuzuordnen.

Der Artikel liefert dafür keine stichhaltigen Hinweise. Jene Quelle, die namentlich genannt und direkt zitiert wird – Dominik Egli, der Leiter der Stadtreinigung –, spricht nicht von «Roma», sondern von «Obdachlosen». Er ist daher keine taugliche Quelle für den im Titel des Artikels postulierten Vorwurf. Ohnehin bräuchte es mindestens zwei voneinander unabhängige Quellen, um unbestätigte Informationen verbreiten zu dürfen, die geeignet sind, das Ansehen der Angeschuldigten derart negativ zu beeinträchtigen (vgl. Stellungnahme 24/2012). In ihrer Beschwerdeantwort schreibt die «Basler Zeitung» zwar, die Informationen seien «mehrfach gestützt». Ihre Quellen hätte sie jedoch im Artikel näher beschreiben müssen, auch wenn sie sie selbstverständlich nicht namentlich zu nennen braucht. Entscheidend ist, dass sich die Leserschaft ein Bild über die Quellenlage machen kann, die der Berichterstattung zugrunde liegt. Der Presserat hält Ziffer 1 der «Erklärung» somit für verletzt.

2. Zu prüfen ist auch ein allfälliger Verstoss gegen das Diskriminierungsverbot. Richtlinie 8.2 zur «Erklärung» lautet: «Die Nennung der ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit, der Herkunft, der Religion, der sexuellen Orientierung und/oder der Hautfarbe kann diskriminierend wirken, insbesondere wenn sie negative Werturteile verallgemeinert und damit Vorurteile gegenüber Minderheiten verstärkt. Journalistinnen und Journalisten wägen deshalb den Informationswert gegen die Gefahr einer Diskriminierung ab und wahren die Verhältnismässigkeit.» Wie in Erwägung 1 dargelegt, vermag die «Basler Zeitung» im monierten Artikel den Nachweis nicht zu erbringen, dass es tatsächlich – und ausschliesslich – Roma sind, die ihre Exkremente bei der Serra-Plastik hinterlassen haben. Es könnten auch andere Obdachlose oder Passanten gewesen sein.

Der Presserat weist ausdrücklich darauf hin, dass Kritik am Verhalten von Menschen möglich sein muss, auch wenn sie einer der in Richtlinie 8.2 erwähnten Minderheiten angehören. Da im Artikel aber nicht belegt wird, wer für die Kothaufen verantwortlich ist, ist die Mehrheit der 1. Kammer der Meinung, dass der Titel «Roma hinterlassen Exkremente bei der Serra-Plastik» gegen das Diskriminierungsverbot verstösst. Hätte die «Basler Zeitung» hinreichend belegt, dass es sich um Roma handelt, läge kein Verstoss vor, weil der Informationswert gegeben und die Aussage mit Quellen untermauert wäre. Ohne nachvollziehbare Belege, wer die Verursacher des Problems sind, entfällt der Informationswert. Ein solcher Titel, der zudem Vorurteile bedient, wahrt auch nicht die Verhältnismässigkeit. Der Presserat sieht somit Ziffer 8 der «Erklärung» durch den Titel als verletzt an.

 

III. Feststellungen

1 .Der Presserat heisst die Beschwerde gut.

2. Die «Basler Zeitung» hat mit dem Artikel «Roma hinterlassen Exkremente bei der Serra-Plastik» vom 12. Dezember 2022 gegen Ziffer 1 (Wahrheitspflicht) sowie mit dem gewählten Titel gegen Ziffer 8 (Diskriminierung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen.