Nr. 52/2012
Wahrheit / Unterschlagung von Informationen / Unschuldsvermutung

Kessler c. SDA, Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 14. September 2012

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I. Sachverhalt

A. Am 16. Mai 2012 verbreitete die Schweizerische Depeschenagentur (SDA) eine Meldung über ein Urteil des Zürcher Obergerichts in einer strafrechtlichen Auseinandersetzung zwischen Novartis-Chef Daniel Vasella und dem Tierschützer Erwin Kessler (Titel: «Gericht – Tierschützer Erwin Kessler wegen Verleumdung verurteilt»; Untertitel: «Daniel Vasella in die Nähe Adolf Hitlers gerückt»). Der Lead der Meldung lautet: «Der Tierschützer Erwin Kessler hat in einem Artikel Novartis-Chef Daniel Vasella indirekt mit Adolf Hitler verglichen. Das Bülacher Bezirksgericht sprach ihn der Verleumdung schuldig. Kessler zog das Urteil weiter. Das Zürcher Obergericht hat am Mittwoch das Urteil jedoch weitgehend bestätigt.»

Laut Obergericht handle es sich um eine «im höchsten Mass beleidigende Verleumdung». Im August 2009 habe Kessler Vasella auf der Homepage des Vereins gegen Tierfabriken (VgT) unter anderem als «Chef-Abzocker» und als «Verantwortlichen für Massenverbrechen» bezeichnet. In einem anderen Artikel habe Kessler daraufhin die Frage gestellt, «ob Vasella nicht zutiefst die Hitler-Attentäter beleidige. Hätten doch diese versucht, Massenverbrechen gewaltsam ein Ende zu setzen.»
Vasella habe daraufhin gegen Kessler wegen Ehrverletzung geklagt. Das Bezirksgericht Bülach habe Kessler Ende 2010 von der Hälfte der Vorwürfe freigesprochen. «Es verurteilte ihn aber wegen des Ausdrucks Massenverbrechen sowie wegen des indirekten Vergleichs mit Adolf Hitler.» Gegen dieses Urteil habe Kessler Berufung beim Obergericht eingelegt und einen vollen Freispruch gefordert. Das Obergericht habe Kessler nun zwar wegen des Ausdrucks «Massenverbrechen» freigesprochen, hingegen den Bülacher Schuldspruch bezüglich des Nazi-Vergleichs einstimmig bestätigt.

B. Am 20. Mai 2012 beschwerte sich Erwin Kessler, Tuttwil, beim Schweizer Presserat über die obengenannte SDA-Meldung, welche die Ziffern 1 (Wahrheit), 3 (Unterschlagung wichtiger Informationen) sowie 7 (Unschuldsvermutung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» zum Teil gleich mehrfach verletze:

– Indem vorbehaltlos der Eindruck erweckt werde, es handle sich um eine endgültige Verurteilung, verletze die SDA die Unschuldsvermutung.

– Der Bericht unterschlage zudem, dass er laut Obergerichtsurteil zu drei Viertel obsiegt habe und Vasella nur zu einem Viertel. Deshalb sei der SDA-Bericht von anderen Medien als weitgehendes Obsiegen Vasellas verstanden worden.

– Mit der unwahren Behauptung «Zudem stellt er die Frage, ob Vasella nicht zutiefst die Hitler-Attentäter beleidige. Hätten doch diese versucht, Massenverbrechen gewaltsam ein Ende zu setzen» sei das Gericht falsch zitiert worden. Die Frage habe sich nicht wie von der SDA behauptet auf Vasella, sondern vielmehr auf den von der SDA nicht erwähnten deutschen Ethikprofessor Winfried Ahne bezogen. Dem Leser sei es so nicht möglich gewesen, sich ein vernünftiges Bild von der Streitsache zu machen.

– Die SDA habe zudem unterschlagen, dass im «konnexen Verfahren im Kanton Thurgau (Klage Vasellas wegen Persönlichkeitsverletzung)» rechtskräftig festgestellt worden sei, der fragliche Text stelle keinen Hitler-Vergleich dar.

– Die Behauptung, er habe Vasella indirekt mit Hitler verglichen, verletze zudem insofern die Wahrheitspflicht, als sie sich bloss auf ein nicht rechtskräftiges Urteil abstütze, während das «widersprechende rechtskräftige Thurgauer Urteil nicht beachtet und nicht erwähnt wurde».

C. Am 14. Juni 2012 wies Chefredaktor Bernard Maissen die Beschwerde von Erwin Kessler namens der SDA-Redaktion als unbegründet zurück. Die beanstandete Meldung gebe die an der Verhandlung des Zürcher Obergerichts gemachten Äusserungen wahrheitsgetreu wieder.
Im schriftlich vorliegenden Urteil heisse es, dass Kessler «bezüglich der Äusserungen ‹Beleidigt er damit nicht zutiefst die Hitler-Attentäter, welche versuchten, Massenverbrechen gewaltsam ein Ende zu setzen?› / ‹Nazi-Deutschland› der Verleumdung schuldig gesprochen» worden sei.

Die SDA habe in ihrer Meldung mit keinem Wort geschrieben, dass die Verurteilung Kesslers endgültig sei. Mithin habe sie die Unschuldsvermutung nicht verletzt. Die SDA habe zudem die für Kessler positiven Punkte des Urteils keineswegs unterschlagen, sondern wahrheitsgetreu darauf hingewiesen, dass das Zürcher Obergericht Kessler wegen des Ausdrucks «Massenverbrechen» freigesprochen habe. Sie habe aber in ihrer Berichterstattung die Verurteilung wegen des Hitler-Vergleichs höher gewichtet als den Freispruch, was Teil der journalistischen Freiheit sei. Andere Medien – beispielsweise der «Tages-Anzeiger» –hätten ähnlich gewichtet. Darüber hinaus hätte es den Rahmen gesprengt, neben dem Zürcher Verfahren noch weitere Gerichtsverfahren, namentlich das vom Beschwerdeführer angeführte Thurgauer Urteil, in die Berichterstattung einzubeziehen.

Erwin Kessler habe der SDA bereits am 17. Mai 2012 per E-Mail Fehler in der Berichterstattung unterstellt, jedoch weder eine Gegendarstellung noch eine Korrektur verlangt. Die SDA habe damals die Sachverhalte überprüft und sei zum Schluss gekommen, dass ihre Berichterstattung korrekt gewesen sei. Der Beschwerdeführer sei im Folgenden mit der Bitte um Gegendarstellung an mehrere Medien gelangt, welche die SDA-Meldung übernommen hatten. Daraufhin hätten mehrere Medien, so jedenfalls die «Berner Zeitung», die «Freiburger Nachrichten» sowie der «Landbote», Stellungnahmen Kesslers auf der Leserbriefseite abgedruckt. Dieser habe mithin Gelegenheit gehabt, seine Meinung kundzutun.

D. Am 19. Juni 2012 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 14. September 2012 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Gemäss der Richtlinie 7.5 zur «Erklärung» ist bei der Gerichtsberichterstattung der Unschuldsvermutung Rechnung zu tragen. Im Vordergrund steht dabei der Schutz der Persönlichkeit des/der von einer Medienberichterstattung Betroffenen. Entsprechend verlangt der Presserat in seiner Praxis zur Richtlinie 7.5 (Stellungnahme 21/2007), dass bei der Erwähnung eines Strafverfahrens oder einer strafrechtlichen Verurteilung in einem Medienbericht nicht vorverurteilend zu Unrecht bereits eine (rechtskräftige) Verurteilung unterstellt wird. Gestützt darauf hat der Presserat aus der Unschuldsvermutung weiter abgeleitet, dass es berufsethisch zwingend geboten ist, in einer Gerichtsberichterstattung auf die noch fehlende Rechtskraft einer strafrechtlichen Verurteilung hinzuweisen. «Denn selbst ein juristisch gebildeter Leser weiss ansonsten nicht mit Sicherheit, ob das Urteil eventuell doch schon rechtskräftig ist, weil der oder die Verurteilte das Urteil allenfalls definitiv akzeptiert hat. Im Gegenteil erweckt ein fehlender Hinweis bei der Leserschaft (zumindest unbewusst) den Eindruck, das Urteil sei definitiv (Stellungnahme 40/2010). Entsprechend wäre es auch bei der beanstandeten SDA-Meldung zwingend gewesen, darauf hinuzuweisen, dass das Urteil des Zürcher Obergerichts noch nicht rechtskräftig ist.

2. Nicht für stichhaltig hält der Presserat demgegenüber die Rüge des Beschwerdeführers, die SDA-Meldung unterschlage, dass Erwin Kessler laut Obergerichtsurteil zu drei Vierteln obsiegt habe und Vasella nur zu einem Viertel. Die Meldung weist vielmehr ausdrücklich darauf hin, dass der Beschwerdeführer vom Bezirksgericht Bülach bereits in erster Instanz
von der «Hälfte der Vorwürfe» freigesprochen worden sei und dass das Zürcher Obergericht Kessler in einem von zwei Punkten freigesprochen habe. Ob man daraus den Schluss zieht, das Obergericht habe das erstinstanzliche Urteil «weitgehend bestätigt», den Verfahrensausgang gar als «weitgehendes Obsiegen Vasellas» wertet oder darin im Gegenteil einen Punktesieg des Beschwerdeführers sehen will, ist letztlich eine Frage der Perspektive. Sämtliche der angeführten Sichtweisen bewegen sich jedenfalls innerhalb des grosszügig auszulegenden Rahmens der Freiheit des Kommentars und der Kritik.

3. a) Wie verhält es sich schliesslich in Bezug auf den von Erwin Kessler bestrittenen «Hitler- Vergleich»? Der vom Beschwerdeführer dem Presserat nachträglich zugestellten schriftlichen Begründung des Urteils des Zürcher Obergerichts vom 16. Mai 2012 ist zu entnehmen, dass das Gericht zum Schluss kommt, der Beschwerdeführer ziehe in seiner umstrittenen Publikation auf der Homepage des VgT in Bezug auf Tierversuche einen Vergleich zu Nazi- Deutschland. Dabei habe er Daniel Vasella zwar nicht direkt mit Hitler gleichgesetzt, ihn aber zumindest mit diesem verglichen bzw. ihn in dessen Nähe gerückt. Der Vergleich lasse den Eindruck entstehen, dass Daniel Vasella «ein rücksichtsloser, grausamer und für die widerrechtliche Tötung von unzähligen Tieren verantwortlicher Diktator sei». Zugleich würden die Tierversuche der Novartis nahezu auf die gleiche Stufe gestellt wie die Verbrechen des Nazi-Regimes. Derartige Vergleiche seien immer ehrverletzend.

b) Für den Presserat gibt die beanstandete Meldung mit dem Untertitel «Daniel Vasella in die Nähe Adolf Hitlers» gerückt und dem ersten Satz des Leads «Der Tierschützer Erwin Kessler hat in einem Artikel Novartis-Chef Daniel Vasella indirekt mit Adolf Hitler verglichen» die Sichtweise des Zürcher Obergerichts zwar kurz und prägnant, aber korrekt wieder.

c) Hingegen machen die vom Beschwerdeführer konkret beanstandeten Sätze «In einem anderen Artikel stellte er [Kessler] die Frage, ob Vasella nicht zutiefst die Hitler-Attentäter beleidige. Hätten doch diese versucht, Massenverbrechen gewaltsam ein Ende zu setzen» für den Leser effektiv nicht klar, worum sich die Auseinandersetzung im Einzelnen dreht. Insbesondere geht aus der SDA-Meldung nicht hervor, dass sich Erwin Kessler bei seiner Verteidigung auf den Standpunkt stellt, mit dem Beispiel der Hitler-Attentäter habe er sich nicht auf Vasella, sondern auf eine Aussage des deutschen Ethik-Professors Winfried Ahne bezogen. Dieser habe den Brandanschlag auf ein Jagdhaus Vasellas mit der Begründung verurteilt, niemand habe das Recht, «gegen Gesetze zu verstossen um seine Ideologien zu verwirklichen». Daraufhin habe er (Kessler) die nicht auf Vasella zielende Frage gestellt, «Ist sich dieser Professor aus Deutschland bewusst, was er da sagt? Beleidigt er damit nicht zutiefst die Hitler-Attentäter, welche versuchten, Massenverbrechen ein gewaltsames Ende zu setzen. Diese Helden verletzten geltendes Recht und wurden dafür hingerichtet, weil ‹niemand das Recht hat, gegen Gesetze zu verstossen, um seine Ideologien zu verwirklichen›. Etwas gar engstirnige politische Korrektheit.»
Hat die SDA mit dem Weglassen dieser Argumente Kesslers die Ziffer 3 der «Erklärung» verletzt? Der Presserat verneint dies aus folgenden Überlegungen. Von einem Bericht über eine mündliche Urteilsverkündigung – bei der die Überlegungen des Gerichts im Vordergrund stehen – kann nicht erwartet werden, dass darin die Argumente der Verteidigung detailliert
vorkommen. Und auch wenn der beanstandete, unglücklich formulierte Satz die Komplexität des Sachverhalts und die daraus vom Zürcher Obergericht gezogene Schlussfolgerung unklar wiedergibt, wäre es überzogen, bei einem derart komplizierten Sachverhalt zu erwarten, dass sich die Leserschaft allein aufgrund des Gerichtsberichts – quasi anstelle des Gerichts –ein eigenes, unabhängiges Urteil zu den Einzelheiten der gerichtlichen Auseinandersetzung bilden kann. Vorliegend genügt es vielmehr, dass die SDA-Meldung korrekt darauf hinweist, das Zürcher Obergericht bejahe wie das Bezirksgericht Bülach entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers, Erwin Kessler habe Daniel Vasella in ehrverletzender Weise indirekt mit Adolf Hitler verglichen.

4. Wäre die SDA aber nicht zumindest verpflichtet gewesen, auf die parallel zum Strafverfahren im Kanton Thurgau ergangenen zivilgerichtlichen Urteile betreffend «Persönlichkeitsschutz» hinzuweisen? Zunächst ist festzustellen, dass die Thurgauer Ziviljustiz soweit für den Presserat ersichtlich in Bezug auf die Punkte «Massenverbrechen» und «Hitler-Vergleich» zumindest auf den ersten Blick gesehen tatsächlich je zu umgekehrten Schlüsse als die Zürcher Strafverfolgungsbehörden gekommen ist. So weist das Urteil des Bezirksgerichts Münchwilen vom 18. Januar 2011 die Klage wegen Persönlichkeitsverletzung in Bezug auf das Thema «Hitler-Vergleich» mit der Begründung ab, die beanstandeten Äusserungen verglichen Daniel Vasella nicht direkt mit Adolf Hitler, sondern thematisierten die Frage der Unwirksamkeit gewaltfreien Widerstands gegen Zustände, welche die den Widerstand Leistenden nicht gutheissen würden. «Im Übrigen wären die Beseitigungs- und die Unterlassungsklage selbst bei Bejahung eines solchen direkten Vergleichs (…) abzuweisen», weil sich Erwin Kessler in einem Zusatz auf seiner Homepage ausdrücklich davon distanziere.

Insoweit ist es für den Presserat zwar verständlich, dass der Beschwerdeführer diese Sichtweise derjenigen des Zürcher Obergerichts entgegenhält. Auch hier überdehnt er jedoch die Anforderungen an die Gerichtsberichterstattung. Berufsethisch ist es zulässig, über die Urteilseröffnung einer Gerichtsinstanz zu berichten, ohne gleichzeitig noch abzuklären, ob allenfalls eine andere Instanz in einem anderen Verfahren die gleiche oder eine ähnliche Frage anders entschieden hat. Zumal die zivilrechtliche Sichtweise nicht zwingend mit der strafrechtlichen übereinstimmt.

Zusammenfassend stellt der Presserat deshalb fest, dass die beanstandete SDA-Meldung – mit Ausnahme des unterlassenen Hinweises auf die noch fehlende Rechtskraft – das Urteil des Zürcher Obergerichts korrekt zusammenfasst.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. Die SDA hat mit der am 16. Mai 2012 verbreiteten Meldung mit dem Titel «Gericht – Tierschützer Erwin Kessler wegen Verleumdung verurteilt» die Ziffer 7
(Unschuldsvermutung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.

4. Die SDA hat die Ziffern 1 (Wahrheit) und 3 (Unterschlagung wichtiger Informationen) der «Erklärung» nicht verletzt.