Nr. 27/2004
Unschuldsvermutung / Anhörung bei schweren Vorwürfen

(X. c. «SonntagsBlick») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 16. Juni 2004

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I. Sachverhalt

A. Der «SonntagsBlick» berichtete am 27. April 2003 auf den Seiten 2-4 über einen möglichen Grund der «Entmachtung» des Gemeinderats Kurt Wasserfallen als Polizeidirektor der Stadt Bern. Laut «SonntagsBlick» war Wasserfallen möglicherweise über den seit Januar 2003 freigestellten Generalsekretär X. gestolpert, dem von Mitarbeiterinnen sexuelle Belästigung und Mobbing vorgeworfen werde. Der Artikel wurde auf der Titelseite gross angekündigt: «Geheimer Bericht legt offen: Wasserfallen stolpert über Chefbeamten; Es geht um sexuelle Belästigung». Im Artikel selber war darüber hinaus zu den konkreten Vorwürfen gegen X. insbesondere Folgendes zu lesen: «Ein hoher Chefbeamter zu ÐSonntagsBlickð: ÐMeine Mitarbeiterinnen fühlten sich von X. belästigt. Sie beklagten sich darüber, dass er sie mit den Augen förmlich auszog und ständig zweideutige und schlüpfrige Sprüche machte. Schliesslich war auf Seite 4 ein kleines Foto von X. im Format 2 x 2.5 cm abgedruckt. Die zugehörige Legende lautete: «Suspendiert: Generalsekretär X.».

B. Am 12. November 2003 gelangte der anwaltlich vertretene X. an den Presserat und rügte, der «SonntagsBlick» habe mit dem Artikel vom 26. April 2003 und insbesondere der Wiedergabe der gegenüber ihm erhobenen Vorwürfe die Anhörungspflicht (Richtlinie 3.8 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten») sowie die Unschuldsvermutung (Richtlinie 7.5) verletzt.

C. In einer Stellungnahme vom 23. Januar 2004 beantragte die ebenfalls anwaltlich vertretene Redaktion des «SonntagsBlick», auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, eventuell sei sie abzuweisen. Es sei zumindest erstaunlich, dass der Beschwerdeführer erst im November 2003 Beschwerde gegen einen einzigen Satz eines Artikels führe, der bereits im April 2003 erschienen sei. Zumal in der Zwischenzeit zahlreiche ihn namentliche nennende und weit «härter» angreifende Medienberichte publiziert worden seien, gegen die er sich soweit ersichtlich nicht zur Wehr gesetzt habe. Materiell sei die Unschuldsvermutung nicht auf ein Disziplinarverfahren anwendbar. Und schliesslich sei die den Beschwerdegegenstand bildende Aussage unanfechtbar, «weil man sich nicht gegen die wahre Aussage eines Dritten wehren kann, zumal wenn diese inhaltlich durch einen Disziplinarbericht mehr als bestätigt wurde».

D. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder sonstwie von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.

E. Am 27. Januar 2004 erklärte der Presserat den Schriftenwechsel als geschlossen und teilte den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium, bestehend aus dem Präsidenten Peter Studer sowie den Vizepräsidentinnen Sylvie Arsever und Esther Diener-Morscher behandelt.

F. Mit Schreiben vom 6. Februar 2004 wies der Beschwerdeführer darauf hin, dass er gegen einen Entscheid der Regierungstatthalterin II von Bern vom 19. Dezember 2003 Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern eingereicht habe. Mithin liege also immer noch keine rechtskräftige Beurteilung seines Verhaltens vor.

G. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 16. Juni 2004 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. a) Der «SonntagsBlick» beantragt, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, da diese Schikanecharakter habe. «Es liegt kein schützenswertes Interesse noch sonst ein Grund vor, auf eine schon zum Zeitpunkt der Einreichung überholte Beschwerde gegen einen Satz aus einem Artikel einzutreten, der sich nachträglich als in allen wesentlichen Teilen richtig erwies.»

b) Entgegen der von der Beschwerdegegnerin vertretenen Auffassung ist angesichts der sehr breit gefassten Beschwerdelegitimation (vgl. Art. 6 Abs. 1 des Geschäftsreglements) für das Presseratsverfahren kein besonderes schützenswertes Interesse vorauszusetzen. Vielmehr ist – vorbehältlich insbesondere von Art. 15 – in Anwendung der Art. 8 und 9 des Reglements jedenfalls dann auf eine Beschwerde einzutreten, wenn darin eine Verletzung berufsethischer Normen geltend gemacht wird und sofern die Beschwerde nicht als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen ist. Vorliegend sind diese Voraussetzungen offensichtlich erfüllt, weshalb der Presserat auf die Beschwerde eintritt.

2. a) Laut der Richtlinie 7.5 zur «Erklärung» ist bei der Gerichtsberichterstattung der Unschuldsvermutung Rechnung zu tragen. Die Pflicht zur fairen Berichterstattung über hängige Verfahren bezieht sich zwar in erster Linie auf Strafverfahren. Die gleichen Grundsätze sind aber zumindest analog auf ähnliche Verwaltungs- und Untersuchungsverfahren übertragbar (Stellungnahme 60/2003). Damit ist die Richtlinie 7.5 bzw. die daraus abgeleiteten Grundsätze für die journalistische Arbeit entgegen der Auffassung des «SonntagsBlick» prinzipiell auch auf das vorliegend zur Diskussion stehende Disziplinarverfahren anwendbar.

b) Gemäss der Praxis des Presserates (vgl. dazu zuletzt eingehend die Stellungnahmen 60 und 61/2003) wird der Unschuldsvermutung allerdings Genüge getan, wenn ein Artikel darauf hinweist, dass eine Verurteilung noch nicht oder noch nicht rechtskräftig erfolgt ist. Dem beanstandeten Bericht des «SonntagsBlick» ist zu entnehmen, dass Wasserfallen X. anfangs 2003 freigestellt und dass der Berner Gemeinderat daraufhin ein Disziplinarverfahren gegen X. eröffnet habe. «Der Bericht zur Untersuchung liegt zur Zeit zur Stellungnahme beim suspendierten Chefbeamten.» Aus dem «SonntagsBlick»-Artikel ging mithin eindeutig hervor, dass das Verfahren gegen X. zum Zeitpunkt der Veröffentlichung am 27. April 2003 noch hängig war und dementsprechend noch kein rechtskräftiger Befund vorlag. Eine Verletzung der Richtlinie 7.5 zur «Erklärung» ist deshalb offensichtlich zu verneinen.

3. a) Die Richtlinie 3.8 (Anhörungspflicht) statuiert die Pflicht der Journalistinnen und Journalisten, Betroffene vor der Veröffentlichung schwerer Vorwürfe anzuhören und deren Stellungnahme im Artikel zumindest kurz wiederzugeben. Die Anhörung bei schweren Vorwürfen ist nicht nur bei Personen zwingend, die im Zentrum eines Medienberichts stehen, sondern grundsätzlich bei allen Akteuren, gegenüber denen schwere Vorwürfe erhoben werden.

b) Vorliegend ist es deshalb nicht von Belang, dass Gemeinderat Kurt Wasserfallen und nicht Beschwerdeführer X. im Zentrum der Kritik des «SonntagsBlick» stand. Denn der Vorwurf sexueller Belästigung und des Mobbing wiegt dessenungeachtet zweifelsohne schwer. Und entgegen der Argumentation des «SonntagsBlick» spielt es für die Anhörungspflicht keine Rolle, ob sich ein Vorwurf im Nachhinein als wahr oder falsch erweist (letzteres ist vom Presserat vorliegend ohnehin nicht zu prüfen). Denn ungeachtet hiervon soll die Pflicht zur Anhörung bei schweren Vorwürfen im Sinne einer minimalen Fairnessgarantie sicherstellen, dass der Betroffene in jedem Fall die Chance hat, seine besten Argumente wenigstens in aller Kürze darzulegen.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2. Auch wenn im Artikel die gegenüber X. erhobenen Vorwürfe der sexuellen Belästigung von Mitarbeiterinnen nicht im Zentrum standen, wogen diese schwer und hätten deshalb zwingend eine Anhörung des Betroffenen erfordert. «SonntagsBlick» hat deshalb die Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» verletzt.

3. Darüber hinaus wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen. Insbesondere hat «SonntagsBlick» die Richtlinie 7.5 zur «Erklärung» (Unschuldsvermutung) nicht verletzt.