Nr. 4/1998
Sorgfältige Information in einer kontroversen Angelegenheit

(Scientology Kirche c. „Tages-Anzeiger“) Stellungnahme vom 20. Februar 1998

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I. Sachverhalt

A. Am 5. Oktober 1996 publizierte der „Tages-Anzeiger“ unter dem Titel „Umsturzpläne von Scientologen“ einen Artikel von S., in dem von einem bevorstehenden Prozess in Athen gegen den griechischen Zweig der Scientologen berichtet wurde. Eine vom Staatsanwalt angeordnete Razzia am Sitz des „Griechischen Zentrums für angewandte Philosophie“ (KEPHE) sei auf elektronisch gespeicherte Personendossiers mit mehreren tausend klassifizierten Namen von Politikern, Geistlichen und Sektenexperten gestossen. Die Namen seien an das Scientologen-Hauptquartier in den USA übermittelt worden. Die Polizei habe auch sogenannte Tötungspakete mit Massnahmen gegen Kritiker der Scientologen, militärische Informationen über die Luftwaffe sowie „Pläne für die gewaltsame Schaffung eines Sektenstaates“ aus Griechenland, Bulgarien, Albanien und weiten Teilen Ex-Jugoslawiens gefunden. Die Scientologen hätten zudem staatliche Behörden unterwandert. Der Sitz von KEPHE sei provisorisch und vorübergehend geschlossen worden. Der Staatsanwalt verlange nun eine gerichtlich sanktionierte Schliessung.

B. Am 13. Dezember 1996 publizierte der „Tages-Anzeiger“ einen Leserbrief von Catharina Diamansdara, Präsidentin der Scientology KEPHE Mission in Griechenland, in welchem sie die Schliessung des KEPHE-Sitzes in Abrede stellte, das gefundene Dossier als Sammlung negativer Presseartikel über die Scientologie zum Zweck der Dokumentation bezeichnete und die Information über die Schaffung eines „Sektenstaates“ als frei erfunden charakterisierte. „Tötungspakete“ (Dead Agent Packs) seien Dokumentensammlungen mit Richtigstellungen zu Falschbehauptungen, die Regierungsstellen zur Verfügung gestellt werden. Der „Tages-Anzeiger“ habe nicht mit dem betroffenen Verein gesprochen. Die Diskussion um Scientology in Griechenland habe mit der Haltung der orthodoxen Kirche zu tun, die keine andere Religion akzeptiere. Erst kürzlich habe die Europäische Menschenrechtskommission die Diskriminierung einer Religionsgemeinschaft in Griechenland verurteilt.

C. Am 21. Januar 1997 berichtete die „Neue Zürcher Zeitung“ über den Abschluss des Gerichtsverfahrens in Athen. Ein Bezirksgericht habe die Auflösung von KEPHE angeordnet, da es sich um eine „menschenverachtende Organisation mit totalitären Strukturen und Tendenzen“ handle. KEPHE könne sich nicht auf die Religionsfreiheit berufen, da die Organisation weder die Menschenrechte der eigenen Mitglieder noch die öffentliche Ordnung respektiere. Die Nachricht stand auch im „Tages-Anzeiger“ vom 22. Januar 1997, verfasst von S. und mit der Präzisierung, dass das Verbot der griechischen Scientology bereits Mitte Dezember 1996 vom griechischen Verwaltungsgericht ausgesprochen worden sei. Dieses habe die Gemeinnützigkeit der Organisation negiert und ihren Zweck als kommerziell definiert. Die Mitglieder der Scientology würden Gehirnwäschen unterzogen und jeder Möglichkeit der freien, individuellen Entscheidung beraubt. Die bei der Razzia beschlagnahmten Dokumente seien – gemäss „Tages-Anzeiger“ – Gegenstand eines separaten Strafverfahrens. Die „NZZ“ erwähnte zudem, dass erst eine Pressekampagne und eine Unterschriftensammlung gegen Scientology die Untersuchungsbehörden in Trab gesetzt habe, und bei der Unterschriftensammlung habe sich gezeigt, dass viele Signaturen gefälscht gewesen seien.

D. St. von der Scientology Kirche Zürich erhob am 11. April 1997 beim Presserat Beschwerde gegen den Journalisten S. – einerseits wegen des Artikels vom 5. Oktober 1996 im „Tages-Anzeiger“, anderseits wegen des Buchs „Sekten“. Bezogen auf den Artikel über die Razzia in Griechenland warf der Beschwerdeführer S. vor, den Wahrheitsgehalt der Informationen nicht überprüft zu haben, sondern mit dem Bericht über „Geheime Personendossiers“, „Tötungspaketen“ und den „Sektenstaat“ einer Ente aufgesessen zu sein.

E. Der Presserat überwies den Fall der ersten Kammer, der Roger Blum als Präsident und Sylvie Arsever, Piergiorgio Baroni, Sandra Baumeler, Klaus Mannhart und Enrico Morresi als Mitglieder angehörten. Diese trat auf den ersten Teil der Beschwerde (Artikel) ein und forderte den „Tages-Anzeiger“ zur Stellungnahme auf.

F. Der „Tages-Anzeiger“ argumentierte, der Artikel von S. habe sich auf ein Interview mit dem griechischen Staatsanwalt Canellopoulos gestützt, das die ARD ausgestrahlt und das Nachrichtenmagazin „Focus“ publiziert habe. Ferner habe S. Recherchen in Athen angestellt und eine Kopie des Untersuchungsberichts beigezogen. Das darauf folgende Verbot der Aktivitäten von KEPHE belege, dass es sich nicht um eine Ente habe handeln können, habe doch das Gericht die Vorwürfe ausdrücklich bestätigt. Trotz intensiven Versuchen sei es nicht gelungen, von Vertretern der KEPHE Auskunft zu erhalten. Der zweifellos zugespitzte Titel des Artikels dürfe nur zusammen mit dem Text betrachtet werden und stamme überdies nicht vom Autor.

II. Erwägungen

1. Die Beschwerde von S. bezog sich nicht nur auf den inkriminierten Artikel von S., sondern auch auf dessen Buch „Sekten“. Der Presserat trat aber auf diesen Teil der Beschwerde nicht ein. Denn Grundlage der Arbeit des Presserates ist die „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“. Der Presserat setzt sich also stets mit Journalismus, mit aktueller Bereitstellung von Themen für den öffentlichen Diskurs auseinander. Journalistische Leistungen sind stets auf die Aktualität oder zumindest auf eine Periodizität bezogen, sie werden öffentlich in Medien, die sich periodisch (stündlich, täglich, wöchentlich etc.) an das Publikum wenden. Bücher sind wie Filme, Videos, CDs, Tonkassetten, Plakate oder Flugblätter zwar Medien, aber keine journalistischen Produkte. Selbst wenn ein Buch von einem Journalisten verfasst worden ist, wird es dadurch nicht zu einem journalistischen Produkt. Der Presserat überprüft daher keine Bücher.

2. Die Beschwerdegegnerin hat zudem die Frage der Beschwerdelegitimation aufgeworfen: Ist nur die griechische Scientology beschwerdeberechtigt oder auch die zürcherische? Und: Können Beschwerden nur von natürlichen oder auch von juristischen Personen deponiert werden? Die erste Frage beantwortet sich einfach: Beschwerden kann jedermann einreichen, eine direkte und persönliche Betroffenheit ist nicht notwendig. Wer der Ansicht ist, ein Medienbeitrag sei nicht fair, kann sich beim Presserat beschweren. Die Antwort auf die zweite Frage ergibt sich aus der Praxis: Der Presserat hat sein Reglement bisher immer grosszügig ausgelegt und auch Beschwerden zugelassen, die ganz offensichtlich von einer Organisation, Firma oder Behörde stammten. Das öffentliche Interesse an der Klärung eines Sachverhalts ist wichtiger als allfällige formale Mängel. Und im Zusammenhang mit den Scientologen ist das öffentliche Interesse weltweit gegeben.

3. Der Hauptvorwurf des Beschwerdeführers lautet, dass die Berichterstattung im „Tages-Anzeiger“ grösstenteils falsch sei (Personendossiers, „Tötungspakete“, Sektenstaat). Damit wären die Ziffern 1 (Die Journalistinnen und Journalisten „halten sich an die Wahrheit…“) und 3 („…Sie unterschlagen keine wichtigen Elemente von Informationen und entstellen weder Tatsachen, Dokumente und Bilder noch von andern geäusserte Meinungen…“) der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn der „Tages-Anzeiger“ gab das Resultat der Untersuchungen der Staatsanwalt wieder, berichtete also korrekt.

4. Jede Person, jede Organisation hat indessen Anspruch auf eine faire Behandlung durch die Massenmedien. Ob Scientology eine Kirche oder eine Sekte sei, darüber sind sich nicht einmal die Gerichte einig, aber die Wahl des Begriffs „Sekte“ beinhaltet immer eine negative Sichtweise, mit
der die Massenmedien stets vorsichtig umgehen sollten. Die schweren Anklagen gegen die Scientologen in vielen Ländern, die Gleichzeitigkeit vieler Zeugnisse über die Aktivität dieser Organisation, die Gerichten oder Medien unterbreitet worden sind, belegen eine echte Beunruhigung in der Gesellschaft. Die Massenmedien widmen daher den Scientologen zu recht grosse Aufmerksamkeit. Aber gerade wegen der schwerwiegenden Vorwürfen gegenüber den Scientologen hat die Öffentlichkeit Anspruch auf eine besonders sorgfältige und vollständige Information.

5. Die Nachrichten im „Tages-Anzeiger“ über den griechischen Zweig der Scientology sind – im Gegensatz zur Auffassung der Scientology Kirche – keine „Enten“. Dennoch fehlte die erwünschte Klarheit (Wann untersuchte oder beurteilte welche Instanz was?). Umgekehrt ist interessant, dass die Scientology Kirche gegen den zweiten Artikel im „Tages-Anzeiger“ vom 22. Januar 1997 (auch von S.), der über den Gerichtsentscheid berichtete, keine Beschwerde erhob.

6. Der Presserat muss aufgrund des verfügbaren Materials den Titel über dem ersten Artikel im „Tages-Anzeiger“ – „Umsturzpläne von Scientologen“ – für eine These der Anklage halten. Eine solche Zuspitzung ohne Beleg ist nicht korrekt und ritzt Ziffer 1 der Erklärung (Wahrheit). Da der „Tages-Anzeiger“ nicht eine Agenturmeldung verwendete, sondern selber bei Quellen in Athen recherchierte, hätte es im übrigen nahegelegen, dem Publikum mitzuteilen, dass eine Auskunft von KEPHE nicht erhältlich gewesen war. Die Publikation des Leserbriefes von KEPHE im „Tages-Anzeiger“ vom 13. Dezember 1996 glich die fehlende Position der beschuldigten Organisation im Artikel vom 5. Oktober 1996 erst sehr viel später aus. Insofern war der „Tages-Anzeiger“ zu wenig sorgfältig und ritzte Ziffer 3 der Erklärung (Keine Unterschlagung wesentlicher Elemente).

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde der Scientology-Kirche ist fast vollständig unbegründet.

2. Schwerwiegende Vorwürfe rechtfertigen es allerdings nie, die Stimme der Verteidigung zu unterdrücken oder zu vergessen. Es ist die Aufgabe der Massenmedien, alle Akteure stets fair zu behandeln. Darum war der „Tages-Anzeiger“ zu wenig sorgfältig, als er im Bericht vom 5. Oktober 1996 über die Beschuldigungen gegen die Scientologen in Griechenland es unterliess, eine Aussage über die Reaktion der Betroffenen zu machen (Ritzung der Ziffer 3 der Erklärung).

3. Der „Tages-Anzeiger“ verhielt sich nicht korrekt, als er im Titel eine Beschuldigung zu einer Tatsache zuspitzte (Ritzung der Ziffer 1 der Erklärung).