I. Sachverhalt
A. Mitte März 2003 sandte X. dem «Tages-Anzeiger» einen Leserbrief. Darin äusserte er sich kritisch zur Berichterstattung der Zeitung über eine Auseinandersetzung rund um eine umstrittene Pfarrerin in Z. und die Handlungsweise der reformierten Kirchenbehörde. Der Leserbrief mit dem Titel «Moderne Inquisition» lautete im Original:
«Hugo Stamm und seine Redaktionshelfer haben wieder einmal gründliche Arbeit geleistet. Der Ruf von Frau Y. ist im Eimer, die Person am Boden zertreten. Bravo! Gratulieren darf man auch den Wendehälsen in der reformierten Kirchenbehörde. Sie gaben ihre Pfarrerin zum Abschuss frei, nur weil diese ein hängiges Gerichtsverfahren verschwiegen hatte. Plötzlich zählte nicht mehr, dass Frau Y.’s Amtsführung bis jetzt offenbar untadelig war. Eine Frau die Stolz zeigt, scheint in der Kirchenhierarchie verpönt; lieber wäre ihr eine reuige Sünderin gewesen. Statt mit den Wölfen zu heulen, würden sich Herr Reich und der Kirchenpflegechef von Z. mit Vorteil an ihre Hausfibel halten, wo es heisst ÐWer ohne Sünde ist, werfe den ersten Steinð. – Hoffentlich beweisen die Kirchgänger und Steuerzahler von Z. mehr Rückgrat und weisen den Kirchenpatriarchen den rechten Weg. Mit Herrn ÐGrossinquisitorð Stamm werden wir wohl noch weiter leben müssen – ein trauriges Zugeständnis an die Pressefreiheit.»
B. Der «Tages-Anzeiger» druckte den Leserbrief unter dem Titel «Lieber eine reuige Sünderin» fast vollständig ab. Neben dem geänderten Titel wurden allerdings der erste und letzte Satz gestrichen («Hugo Stamm und seine Redaktionshelfer haben wieder einmal gründliche Arbeit geleistet» und «Mit Herrn ÐGrossinquisitorð Stamm werden wir wohl noch weiter leben müssen – ein trauriges Zugeständnis an die Pressefreiheit»).
C. In einem nach der Publikation des gekürzten Leserbriefs per E-Mail mit dem Chefredaktor des «Tages-Anzeigers», Peter Hartmeier, geführten Meinungsaustausch, beschwerte sich X. darüber, wie Hugo Stamm, Frau Y. zur «Unperson» gemacht habe und alles ausgelassen habe, «was zu Gunsten von Frau Y. sprechen könnte, nämlich ihre untadelige Amtsführung in Z.». Aus «allen Wolken» sei er gefallen, dass seine – «zwar gepfefferten» – Bemerkungen über Stamm «restlos herausgestrichen», seine Kritik an den Kirchenbehörden «hingegen tel quel übernommen» worden seien. Peter Hartmeier machte dazu geltend, die Bezeichnung von Hugo Stamm als Grossinquisitor sei ehrverletzend und habe deshalb von der Leserbriefredaktion gestrichen werden müssen.
D. Mit Schreiben vom 29. September 2003 gelangte X. an den Presserat und rügte sinngemäss eine Verletzung der Richtlinie 5.2 (Leserbriefe) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten». Seines Erachtens hätte der «Tages-Anzeiger» entweder den Abdruck verweigern oder ihn einschliesslich der Kritik an Hugo Stamm veröffentlichen sollen. Letzteres allenfalls unter Streichung des beanstandeten Ausdrucks «Grossinquisitor». Hingegen sei es nicht sachgemäss gewesen, nur einen Aspekt seines Leserbriefs – die Kritik am Kirchenrat – wiederzugeben und so bei der Leserschaft den Eindruck zu erwecken, er «teile die Ansicht Stamms oder hätte zumindest nichts dagegen einzuwenden».
E. In einer Stellungnahme vom 24. Oktober 2003 beantragte der vom Tamedia-Rechtsdienst vertretene «Tages-Anzeiger», die Beschwerde sei abzuweisen. Falls ein Leserbriefschreiber nicht ausdrücklich den integralen Abdruck seines Leserbriefs verlange, liege eine Kürzung im Ermessen der Redaktion. Die beiden von der Redaktion gestrichenen Sätze hätten den Autor des beanstandeten Ausgangsartikels und seine «Redaktionshelfer» in geradezu ehrenrühriger Weise angegriffen. Eine Streichung ganzer Sätze anstatt bloss von ehrverletzenden Einzelbegriffen liege im Ermessen der Redaktion, solange der Inhalt des Briefes wie derjenige des Beschwerdeführers nicht entstellt werde.
F. Das Presseratspräsidium übertrug die Beschwerden zur Behandlung an die 3. Kammer, der Esther Diener-Morscher als Präsidentin sowie Judith Fasel, Gina Gysin, Peter Liatowitsch, Roland Neyerlin, Max Trossmann als Mitglieder angehören. Daniel Suter («Tages-Anzeiger») trat in den Ausstand.
G. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 21. Januar 2004 sowie auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. Der Beschwerdeführer rügt eine unsachgemässe Kürzung seines Leserbriefes durch den «Tages-Anzeiger», mithin also eine Verletzung der Richtlinie 5.2 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (Leserbriefe). Nach dieser Bestimmung dürfen Leserbriefe «redigiert und dem Sinn entsprechend gekürzt werden. Aus Transparenzgründen sollte die Leserinnen- und Leserbriefseite einen regelmässigen Hinweis enthalten, dass sich die Redaktion das Kürzungsrecht vorbehält. Von der Kürzung ausgenommen sind Fälle, in denen ein Leserinnen- und Leserbriefschreiber auf dem Abdruck des integralen Textes besteht. Dann ist entweder diesem Wunsch nachzugeben oder die Veröffentlichung abzulehnen.»
2. Aus den vom «Tages-Anzeiger» eingereichten Unterlagen geht hervor, dass dieser einen entsprechenden Hinweis regelmässig veröffentlicht. Das Kürzungsrecht bei Leserbriefen wird vom Beschwerdeführer denn auch nicht grundsätzlich bestritten. Er beschwert sich einzig über die konkret vorgenommene Kürzung seines Leserbriefs.
Gemäss der Praxis des Presserates (vgl. z.B. die Stellungnahmen 15/1998, 5/1999, 23/1999, 34/2000 und jüngst 49/2003) sollte auch die Kürzung von Leserbriefen nach journalistischen Kriterien und entsprechend den berufsethischen Regeln erfolgen. Allerdings auferlegt sich der Presserat bei der Überprüfung des Umgangs der Redaktionen mit Leserbriefen und weiteren redaktionsexternen Texten von Nichtjournalisten (z.B. Kolumnen) eine gewisse Zurückhaltung. Bearbeiter von Leserbriefen sollten allfällige Kürzungen nicht willkürlich vornehmen und zudem keine offensichtlich ehrverletzenden oder diskriminierenden Texte von Nichtjournalisten veröffentlichen. In diesem Sinne ist vom Presserat vorliegend nicht zu prüfen, ob er den Leserbrief des Beschwerdeführers gleich oder ähnlich redigiert hätte, sondern einzig, ob der «Tages-Anzeiger» den Leserbrief in willkürlicher Weise gekürzt hat.
Der Presserat hat zudem in der Stellungnahme 7/2000 festgehalten, dass Autorinnen und Autoren unverlangt eingesandter Berichte keinen Anspruch auf vollständigen Abdruck haben. «Kürzungen durch die Redaktion sind zulässig, so weit der Text auch in gekürzter Form noch eine Kernaussage des Manuskripts wiedergibt. Die Auswahl eines Aspekts einer Veranstaltung richtet sich nach journalistischen Kriterien und nicht danach, ob dieser Aspekt für die Veranstalter das zentrale Thema ist.» Diese Grundsätze sind ohne weiteres auch auf die redaktionelle Bearbeitung von Leserbriefen oder Medienmitteilungen anwendbar.
3. Der Leserbrief des Beschwerdeführers enthält zwei Kernaussagen. Einerseits kritisiert er die Art und Weise der Berichterstattung von Hugo Stamm, andererseits das Verhalten einer kirchlichen Behörde. Auch wenn dies der Beschwerdeführer verständlicherweise anders sieht, lässt sich aus Sicht des «Tages-Anzeigers» durchaus in guten Treuen argumentieren, die Leserbriefredaktion habe aus journalistischer Sicht die Diskussion über den konkreten Fall für relevanter gehalten, als die Kritik des Leserbriefschreibers am Journalisten Hugo Stamm. Zumal der «Tages-Anzeiger» mit solcher Kritik – wenn auch nicht vom Beschwerdeführer geäussert – angesichts der äusserst engagierten, oft anwaltschaftlichen journalistischen Arbeitsweise dieses Journalisten in der einen oder anderen Form immer wieder konfrontiert sein dürfte und sie dementsprechend aus Sicht des «Tages-Anzeigers» in diesem Fall nicht als relevant genug erschienen s
ein mag. Im Ergebnis hat die Leserbriefredaktion deshalb ihr Ermessen mit der Beschränkung des publizierten Leserbriefes auf die ihr wichtiger erscheinende Kernaussage nicht überschritten und die Richtlinie 5.2 (Leserbriefe) zur «Erklärung» nicht verletzt. Nicht nachvollziehbar erscheint zudem der Vorwurf des Beschwerdeführers, die Leserschaft habe aufgrund der Streichung der beiden Sätze den falschen Eindruck erhalten, er teile die Stossrichtung der Berichterstattung des «Tages-Anzeigers».
4. Dieses Ergebnis ändert aber nichts daran, dass Redaktionen nach unveränderter Auffassung des Presserates mit Reaktionen auf Medienberichte äusserst grosszügig umgehen sollten, auch wenn diese die Redaktion oder – wie vorliegend – den Autor eines Berichts scharf kritisieren (vgl. Stellungnahmen 1 und 11/1999). Unter diesem Gesichtspunkt vermag das Verhalten des «Tages-Anzeiger» – selbst wenn eine Verletzung berufsethischer Normen wie dargelegt zu verneinen ist – nicht vollständig zu überzeugen.
Nicht überzeugend erscheint zudem auch die Begründung des «Tages-Anzeigers», die beiden Sätze seien wegen ihres ehrverletzenden Inhalts gestrichen worden. Der Presserat entnimmt dem ersten Satz «Hugo Stamm und seine Redaktionshelfer haben wieder einmal gründliche Arbeit geleistet» zwar eine deutliche Kritik des Leserbriefschreibers, die aber kaum als ehrenrührig gewertet werden kann. Zwar geht der letzte Satz «Mit Herrn ÐGrossinquisitorð Hugo Stamm werden wir wohl noch weiter leben müssen – ein trauriges Zugeständnis an die Pressefreiheit» schon sehr weit. Zumindest bei Streichung des Terminus «Grossinquisitors» liegt ein derartiger Angriff nach Auffassung des Presserates aber offensichtlich noch innerhalb der auch für die Leserbriefe geltenden Freiheit des Kommentars und der Kritik. Und selbst der Begriff «Grossinquisitor» kann in diesem Kontext entgegen der Auffassung des «Tages-Anzeigers» nicht einfach mit dem Vorsteher der spanischen Inquisition gleichgesetzt werden. Vielmehr wäre es für die Leserschaft ohne weiteres ersichtlich gewesen, dass der Leserbriefschreiber mit dieser polemischen Wertung bloss die nach seiner Auffassung allzu unerbittliche Berichterstattung von Hugo Stamm kritisieren wollte, diesem hingegen keineswegs die Anwendung von rechtsstaatlich unhaltbaren Methoden unterschob (vgl. in diesem Zusammenhang die Stellungnahmen 23/1999 und 35/2003).
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Dem «Tages-Anzeiger» wäre es allerdings gut angestanden, die darin gegenüber seiner Berichterstattung erhobene Kritik nicht vollständig aus dem Leserbrief zu streichen.