I. Sachverhalt
A. Am Donnerstag, 16. November 2006, lud die Stadtpolizei Zürich zu einer Medienkonferenz ein, um über einen schweren Fall sexueller Misshandlungen unter Jugendlichen zu informieren. Zwölf junge Männer im Alter zwischen 15 und 18 Jahren seien verhaftet worden, weil sie im Verdacht stünden, ein 13½ Jahre altes Mädchen mehrfach vergewaltigt zu haben. Nach einem dreizehnten Beteiligten werde noch gefahndet. Von den mutmasslichen Täter waren einige Schüler des Schulhauses Buhnrain in Zürich-Seebach, wo auch das Opfer zur Schule ging. Auf drei Mobiltelefonen von Verhafteten hatte die Polizei Videoaufnahmen der Misshandlungen gefunden. Ihm seien die Haare zu Berge gestanden, als er die Einvernahmeprotokolle gelesen habe, zitierten Zeitungen am nächsten Tag den Chef des Kommissariats Ermittlungen der Stadtpolizei. Die Medien der ganzen Schweiz berichteten gross und mit anhaltender Intensität über diesen Fall. Da unter den Verhafteten etliche Ausländer und Eingebürgerte waren, belebte das Verbrechen auch die politische Diskussion über die Ausländer- und Jugendkriminalität.
B. Am Samstag, 18. November 2006, gegen Mittag, erhielt eine 14-jährige Schülerin auf ihr persönliches Mobiltelefon einen Anruf von einem Reporter von «Radio 24». Der Reporter wusste, dass sie im Schulhaus Buhnrain zur Schule ging. Er wollte die Schülerin über das vergewaltigte Mädchen und dessen Freund ausfragen, der einer der Verhafteten war. Doch sie gab ihm keine Auskunft.
C. Am Sonntagvormittag, 19. November 2006, bekam die Schülerin erneut einen Anruf von «Radio 24». Da sie auf dem Display ihres Mobiltelefons die Nummer wiedererkannte (044 448 24 24), nahm sie den Anruf gar nicht erst entgegen. Ihrer Mutter berichtete sie, dass auch andere Schulkollegen von Medien angerufen worden seien. Zudem seien Journalisten vor dem Schulhaus Buhnrain aufgetaucht, um Jugendliche zu den Ereignissen zu befragen.
D. Mit Eingabe vom 20. November 2006 erhob X., die Mutter der Schülerin, Beschwerde beim Presserat. Sie kritisierte die Recherchiermethoden des Radiojournalisten. Die Beschwerdeführerin fragte sich, wie der Journalist zur Nummer des Mobiltelefons ihrer Tochter gekommen sei und ob es erlaubt sei, Informationen von Minderjährigen ohne Wissen der Eltern einzuholen. Nach Ansicht der Beschwerdeführerin verstiess das Vorgehen des Radiojournalisten mehrfach gegen die «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (im Folgenden kurz «Erklärung» genannt). So seien die Ziffern 4 (Verbot unlauterer Methoden bei der Informationsbeschaffung), 7 (Respektieren der Privatsphäre) und im weitesten Sinne auch 8 (Respektieren der Menschenwürde) der «Erklärung» verletzt worden.
E. In seiner Beschwerdeantwort vom 8. Januar 2007 schrieb der Redaktionsleiter von «Radio 24», Iwan Santoro, es entspreche dem journalistischen Verständnis seines Senders, im Umfeld des Opfers zu recherchieren. Das Opfer und die Tochter der Beschwerdeführerin hätten einen Teil ihrer Freizeit im gleichen Verein verbracht. Zur Recherchiermethode wollte der Redaktionsleiter unter Berufung auf den Quellenschutz keine Einzelheiten bekannt geben. Dem Reporter von «Radio 24» sei nicht bekannt gewesen, dass es sich bei der Tochter der Beschwerdeführerin um ein 14-jähriges Mädchen gehandelt habe. Dass die Tochter ein zweites Mal angerufen wurde, sei bedauerlich und auf eine interne Kommunikationspanne zurückzuführen; ihre Telefonnummer sei im Dossier Seebach nicht gelöscht worden. Es sei nie die Absicht von «Radio 24» gewesen, Minderjährige zu einer Aussage zu nötigen. Im konkreten Fall sei es jedoch nicht einmal ansatzweise zu einem Interview gekommen. Deshalb sei es dem Sender auch obsolet erschienen, die Einwilligung der Eltern für ein allfälliges Interview einzuholen.
F. Das Präsidium des Presserats wies den Fall seiner 3. Kammer zu; ihr gehören Esther Diener-Morscher als Präsidentin an sowie Thomas Bein, Claudia Landolt Starck, Andrea Fiedler, Peter Liatowitsch, Daniel Suter und Max Trossmann. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 21. März 2007 und auf dem Korrespondenzweg.
II. Erwägungen
1. Die Beschwerde stellt im Wesentlichen zwei Fragen: Haben die Telefonanrufe des Radioreporters die Privatsphäre der Tochter der Beschwerdeführerin verletzt? Und darf eine 14-Jährige ohne Einwilligung ihrer Eltern durch Medienleute befragt werden? Zur Beantwortung sind aus der «Erklärung» folgende Ziffern und Richtlinien massgebend:
a) Ziffer 4 verbietet, sich bei der Beschaffung von Informationen unlauterer Methoden zu bedienen. Richtlinie 4.6 hält als eine der Regeln des Recherchiergesprächs fest, dass die befragte Person eine Autorisierung der zur Publikation vorgesehenen Äusserungen verlangen darf.
b) Ziffer 7 fordert Medienleute auf, die Privatsphäre der einzelnen Person zu respektieren, «sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt». Unter den Richtlinien zu Ziffer 7, die diese Pflicht konkretisieren, sind zwei für die vorliegende Beschwerde von Bedeutung. Richtlinie 7.1 hält unter anderem fest: «Ebenso ist die Belästigung in ihrem Privatbereich (Eindringen in Häuser, Verfolgung, Auflauern, telefonische Belästigung usw.) zu unterlassen. Dies gilt in besonderem Masse, wenn sie gebeten haben, in Ruhe gelassen zu werden.» Richtlinie 7.4 verlangt einen besonderen Schutz für Kinder: «Besondere Zurückhaltung ist angezeigt bei der Berichterstattung im Zusammenhang mit Kindern (sei es als Opfer, mögliche Täter/innen oder als Zeug/innen) bei Gewaltverbrechen. Das gilt vor allem bei Befragungen.» Und Richtlinie 7.8 auferlegt Medienschaffenden bei der Berichterstattung über Sexualdelikte, den Interessen des Opfers besonders Rechnung zu tragen.
c) Ziffer 8 macht das Respektieren der Menschenwürde zur Pflicht. Dazu gehört auch der in Richtlinie 8.3 verankerte Opferschutz.
2. Die Frage, ob Minderjährige ohne Zustimmung der Eltern von Medienleuten befragt und zitiert werden dürfen, hat der Presserat bislang nur einmal kurz gestreift, ohne sie zu beantworten. Stellungnahme 25/2002 wies die Beschwerde eines geschiedenen Vaters als offensichtlich unbegründet ab, dessen 16-jährige Tochter in einem Zeitungsartikel als Beispiel dafür genannt worden war, dass Jugendliche mit ausländischen Familiennamen bei der Lehrstellensuche benachteiligt sind. Der Presserat stellte damals fest: «Selbst wenn hier die Frage offen bleibt, wann eine Minderjährige gültig in eine Medienberichterstattung einwilligen kann, wäre eine allfällige Zustimmung – wenn überhaupt – jedenfalls nur bei der Mutter als Inhaberin der elterlichen Sorge einzuholen.»
3. Zunächst ist zu klären, ob die beiden Anrufe des Radioreporters auf das Mobiltelefon der Tochter der Beschwerdeführerin deren Privatsphäre verletzt haben. Diese Frage ist unabhängig vom Alter der Adressatin zu beantworten.
Es ist die charakteristische und gewollte Eigenschaft von Mobiltelefonen, dass ihre Besitzer sie konstant auf dem Leibe tragen. So folgt das Telefon seinem Eigentümer getreulich auch in die privatesten Sphären. Ein Anrufer, der eine Mobiltelefonnummer wählt, kann deshalb nie wissen, ob und wo er seinen gewünschten Gesprächspartner überrascht. Eine zweite allgemeine Entwicklung ist, dass Besitzer eines Mobiltelefons ihre Telefonnummer je länger desto weniger wie eine Intimität hüten. Diese Nummern werden in der Regel genau so verbreitet und auf Telefonlisten gesetzt wie früher die Festnetznummern. Mit der Ausdehnung der telefonischen Erreichbarkeit verwischt sich die Grenze zwischen der Privatsphäre und der öffentlichen Zugänglichkeit einer Person. Grenzen setzen allenfalls gewisse Tageszeiten. So ist ein nächtlicher Anruf auf ein Mobilt
elefon eine unzulässige Störung der Privatsphäre, wenn angenommen werden muss, dass der Angerufene schon schläft. Wer seine Privatsphäre tagsüber wirksam vor Anrufen schützen will, ist gezwungen, sein Mobiltelefon auszuschalten. Selbst arbeitsfreie Wochenenden oder Feiertage gehören nach den heute herrschenden Sitten und Gebräuchen nicht mehr a priori in die vor Telefonanrufen geschützte Privatsphäre. Deshalb dürfen auch Medienschaffende während des Tages für ihre Recherchen Mobiltelefone von möglichen Informanten anzurufen. Es ist Sache der Angerufenen, ihre Privatsphäre abzustecken und zu erklären, dass sie nicht gestört werden wollen.
4. Obgleich die oben zitierte Richtlinie 7.1 der Erklärung die «telefonische Belästigung» als eines der Merkmale der Verletzung der Privatsphäre aufzählt, ist festzuhalten, dass ein einzelner Anruf auf ein Mobiltelefon – sofern er nicht zur Unzeit erfolgt – noch keine unzulässige Belästigung darstellt. Doch der Reporter von «Radio 24» (oder einer seiner Kollegen) rief am nächsten Tag noch ein zweites Mal die Tochter der Beschwerdeführerin an, obwohl diese ihm klar zu verstehen gegeben hatte, dass sie keine Aussagen machen wolle. Der Programmleiter von «Radio 24» räumt in der Beschwerdeantwort ein, dass dies ein Fehler gewesen ist. Selbst wenn Fahrlässigkeit und nicht Vorsatz zu diesem zweiten Anruf geführt haben sollte, verletzte er als Missachtung des Willens der Schülerin deren Privatsphäre. In diesem Punkt ist die Beschwerde gutzuheissen. Hingegen tangiert das in der Beschwerde geschilderte Vorgehen des Radiojournalisten auch im weitesten Sinne nicht die Menschenwürde (Ziffer 8 der Erklärung) der Tochter der Beschwerdeführerin oder einer anderen beteiligten Person.
5. a) Die Beschwerdeführerin ist der Meinung, der Radioreporter hätte ihre minderjährige Tochter nur mit vorheriger Einwilligung der Eltern kontaktieren und befragen dürfen.
b) Das Schweizerische Zivilgesetzbuch stellt die Kinder, solange sie unmündig sind, unter die elterliche Sorge (Art. 296). Artikel 301 ZGB präzisiert die elterliche Sorge und schränkt sie gleichzeitig ein: «Die Eltern leiten im Blick auf das Wohl des Kindes seine Pflege und Erziehung und treffen unter Vorbehalt seiner eigenen Handlungsfähigkeit die nötigen Entscheidungen (Abs. 1). Das Kind schuldet den Eltern Gehorsam; die Eltern gewähren dem Kind die seiner Reife entsprechende Freiheit der Lebensgestaltung und nehmen in wichtigen Angelegenheiten, soweit tunlich, auf seine Meinung Rücksicht (Abs. 2).»
Das ZGB macht also das Ausmass der elterlichen Sorge abhängig von der Handlungsfähigkeit und der Reife des Kindes. Oder wie es eine Gesetzeskommentatorin treffend formuliert: «Die elterliche Sorge verfolgt somit letztlich das Ziel, sich überflüssig zu machen» (Ingeborg Schwenzer im Basler Kommentar zu Art. 301 ZGB).
c) Die Handlungsfähigkeit eines Kindes ist abhängig von seiner Urteilsfähigkeit, der Fähigkeit, vernunftgemäss zu handeln. Zur Urteilsfähigkeit gehört, dass sich jemand ein einigermassen objektives Bild der Situation machen und daraus vernünftige Schlüsse für das eigene Verhalten ziehen kann. Die Urteilsfähigkeit wächst ganz natürlich mit dem Kind. Kinderpsychologen zufolge kann ab dem 12. bis 14. Lebensjahr eine «generelle Urteilsfähigkeit» angenommen werden. Das heisst keineswegs, dass Kinder von diesem Alter an stets richtig urteilen und vernunftgemäss handeln. Diesem Anspruch genügen selbst Erwachsene nicht jederzeit. Doch sind Minderjährige mit 14 Jahren in der Regel kognitiv weit genug entwickelt, um eine Lebenssituation realistisch einzuschätzen und entsprechend zu handeln. Mit der Urteilsfähigkeit erweitert sich auch die Freiheit, eine unabhängige Meinung – allenfalls auch in Medien – äussern zu dürfen, ohne die Eltern um Erlaubnis zu fragen.
6. Die 14-jährige Tochter der Beschwerdeführerin ist Schülerin des Schulhauses Buhnrain und hat zeitweise Anlässe des gleichen privaten Vereins besucht wie das Opfer der sexuellen Misshandlungen. Von einer engeren freundschaftlichen Beziehung mit dem Opfer oder anderen Beteiligten an den Übergriffen ist in der Beschwerde nicht die Rede. Deshalb darf angenommen werden, dass sie von den Vorfällen – insbesondere von der Schwere der Vorwürfe – als Aussenstehende erfahren hat. Die von den Medien verbreiteten Erkenntnisse der Stadtpolizei über den Fall konnten auch von einer 14-Jährigen verstanden und beurteilt werden. Als der Radioreporter sie telefonisch kontaktierte, entschloss die Schülerin sich, ihm keine Auskünfte zu geben. Ihre Entscheidung war Ausdruck ihrer Urteilsfähigkeit und Beweis dafür, dass sie genügend Autonomie besass, um die Situation ohne ihre Eltern zu meistern.
7. Die gleiche Urteilsfähigkeit müsste man der 14-Jährigen aber zubilligen, wenn sie sich entschieden hätte, dem Reporter Informationen zu geben. Auch dann hätte sie nicht zuerst die Eltern fragen müssen. Die Meinungsäusserungsfreiheit gibt ihr das Recht dazu.
8. Die Meinungsäusserungsfreiheit von urteilsfähigen Minderjährigen gibt aber Medienschaffenden noch nicht das Recht, sämtliche Äusserungen von Jugendlichen auch zu veröffentlichen. Medienschaffende haben in der Verwertung von Informationen, die sie von Minderjährigen erhalten, eine erhöhte Verantwortung. Auch urteilsfähige Jugendliche sind oft nicht in der Lage, die Tragweite von Medienberichten realistisch einzuschätzen. Deshalb müssen Medienleute manchmal Jugendliche – gerade bei so heiklen Themen wie Sexualität und Straftaten – vor sich selbst schützen. Bei der Veröffentlichung von Aussagen und Bildern Minderjähriger ist mehr Zurückhaltung zu üben, als wenn es sich um Aussagen von Erwachsenen handelt. Im Einzelfall ist auch die Meinungsäusserungsfreiheit der Jugendlichen gegen die Pflicht der Eltern abzuwägen, für das Wohl ihres Kindes zu sorgen. Hätte der Radioreporter mit der Schülerin nicht nur ein Recherchiergespräch, sondern ein Interview über den Seebacher Kriminalfall geführt und hätte dieses – allenfalls mit Nennung des Namens – auch senden wollen, so wäre eine Einwilligung der Eltern vermutlich notwendig geworden. Doch da es im vorliegenden Fall nicht einmal zu einem Recherchegespräch gekommen ist, erübrigen sich weitere Erörterungen.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.
2. Ein einmaliger Anruf auf eine Mobiltelefonnummer stellt noch keine unzulässige Störung der Privatsphäre dar. Indem «Radio 24» sich aber über die Weigerung, Auskunft zu geben, hinwegsetzte und am folgenden Tag ein zweites Mal anrief, verletzte der betreffende Reporter die Privatsphäre der angerufenen Schülerin und verstiess gegen Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten».
3. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. Radio 24 hat weder Ziffer 8 (Respektierung der Menschenwürde) noch Ziffer 4 (Lauterkeit der Recherche) der «Erklärung» verletzt. Einer 14-jährigen ist die Urteilsfähigkeit zuzutrauen, auch ohne Einwilligung der Eltern zu entscheiden, ob sie zu einem Kriminalfall, in den sie als Aussenstehende selbst nicht involviert ist, den Medien Informationen geben will. Gleichzeitig tragen aber Medienschaffende gegenüber Jugendlichen schon bei der Befragung und erst recht bei der Veröffentlichung von Aussagen eine erhöhte Verantwortung.