Nr. 14/2012
Privatsphäre / Menschenwürde

(X. c. «Neue Zürcher Zeitung») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 20. April 2012

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I. Sachverhalt

A. Unter dem Titel «Tragisches Ende eines Kämpfers» berichtete Peter Jegen am 8. November 2011 in der «Neuen Zürcher Zeitung» (nachfolgend: NZZ) über den plötzlichen Tod des Hengstes Hickstead, der am Spring-Weltcupturnier in Verona unter seinem kanadischen Reiter und Olympiasieger Eric Lamaze zusammengebrochen war. Der 43-jährige Weltranglistenleader habe dem geschockten Publikum mitteilen lassen, dass das Pferd womöglich einen Herzinfarkt erlitten habe. Lamaze habe zudem gesagt, der Verlust des besten Springpferds der Welt sei das bis anhing Tragischste in seinem Leben. Laut dem für die Fédération Equestre Internationale tätigen Schweizer Tierarzt Markus Müller spreche die Situation für einen Riss der Aorta, doch solle nun eine Untersuchung des toten Pferdes Aufschluss über die Ursache geben. Am Schluss des Berichts stellt der Autor die Frage in den Raum, «ob auch Medikation oder sogar Doping eine Rolle spielt? Dafür gibt es keinen Hinweis – ausser, dass Lamaze ein Reiter mit einschlägiger Geschichte ist. Für ihn war schon die Kindheit mit einer drogenabhängigen Mutter belastend. Offenbar aber nicht so tragisch wie der Tod seines Spitzenpferdes Hickstead.»

B.
Am 16. November 2011 beschwerte sich X. über den obengenannten NZZ-Artikel. Angesichts des plötzlichen Todes eines Spitzenpferdes sei es zwar legitim, die Frage zu stellen, ob vielleicht Doping dahinter stehe. Es gehe aber zu weit, die familiären Verhältnisse des Reiters mit ins Spiel zu bringen. «Auch dass die Kindheit des Reiters mit einer drogenabhängigen Mutter weniger tragisch sein soll als der Tod seines Spitzenpferdes, das finde ich anmassend und geschmacklos. Und ich frage mich, woher sich der Autor das Recht nimmt, so über den Reiter zu urteilen.» Nach Auffassung der Beschwerdeführerin verstösst folgende Passage des Artikels gegen die Ziffern 7 (Privatsphäre) und 8 (Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten»: «… ausser, dass Lamaze ein Reiter mit einschlägiger Geschichte ist. Für ihn war schon die Kindheit mit einer drogenabhängigen Mutter belastend. Offenbar aber nicht so tragisch wie der Tod seines Spitzenpferdes Hickstead.»

C. Am 9. Januar 2012 beantragte die durch Chefredaktor Markus Spillmann und die Rechtskonsulentin vertretene NZZ-Redaktion, die Beschwerde sei abzuweisen. Eric Lamaze selber habe publik gemacht, dass seine Mutter drogenabhängig gewesen sei. Die NZZ belegt dies mit zwei Artikeln der kanadischen Zeitung «Toronto Star» vom 9. September 2000 («Lifetime ban for Lamaze; ‹Vulnerable› equestrian under suicide watch») und vom 19. August 2008 «Clouded past yields silver lining; Two Olympics missed because of cocaine suspensions, but Lamaze now a ‹success story›»).

D. Am 13. Januar 2012 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 20. April 2012 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. a) Gemäss der Ziffer 7 zur «Erklärung» respektieren die Medienschaffenden «die Privatsphäre der einzelnen Personen, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt». Die zugehörige Richtlinie 7.2 (Identifizierung) verlangt, dass die Medienschaffenden «die beteiligten Interessen (Recht der Öffentlichkeit auf Information, Schutz der Privatsphäre) sorgfältig» abwägen. Eine identifizierende Berichterstattung ist unter anderem zulässig, «sofern die betroffene Person im Zusammenhang mit dem Gegenstand des Medienberichts öffentlich auftritt oder auf andere Weise in die Veröffentlichung einwilligt; sofern die betroffene Person ein politisches Amt beziehungsweise eine staatliche oder gesellschaftlich leitende Funktion wahrnimmt und der Medienbericht damit im Zusammenhang steht (…) Überwiegt das Interesse am Schutz der Privatsphäre das Interesse der Öffentlichkeit an einer identifizierenden Berichterstattung, veröffentlichen Journalistinnen und Journalisten weder Namen noch andere Angaben, welche die Identifikation einer Person durch Dritte ermöglichen, die nicht zu Familie, sozialem oder beruflichem Umfeld des Betroffenen gehören, also ausschliesslich durch die Medien informiert werden.»

b)
Selbst wenn wie im Fall einer Berichterstattung über den Reiter Eric Lamaze – jedenfalls sofern diese im Zusammenhang mit dem Reitsport erfolgt – die Namensnennung in der Berichterstattung offensichtlich zulässig ist, kann daraus kein Freipass abgeleitet werden, private Informationen über diese Person zu veröffentlichen. Vielmehr ist bei jedem einzelnen Informationselement sorgfältig abzuwägen, ob ein dem Recht auf Schutz der Privatsphäre überwiegendes öffentliches Interesse besteht. Dabei ist insbesondere das Prinzip der Verhältnismässigkeit zu beachten (Stellungnahme 22/2010).

c) Auch die Beschwerdeführerin räumt ein, dass es im Zusammenhang mit dem Tod von Hickstead zulässig war, die Frage nach einem möglichen Zusammenhang mit Doping aufzuwerfen. Angesichts der öffentlich bekannten Vorgeschichte von Eric Lamaze, der die Olympischen Spiele von 1996 und 2000 wegen Dopingsperren verpasste und schliesslich 2008 seine Chance nutzte und Olympiasieger wurde, ist ein Zusammenhang zwischen diesen lange zurückliegenden Ereignissen und dem aktuellen Gegenstand der Berichterstattung ohne Weiteres zu bejahen.

d) Heikler erscheint es hingegen, im gleichen Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass Lamazes Mutter drogensüchtig war. Zwar lässt sich darüber spekulieren, dass dies einen wesentlichen Einfluss auf den späteren Doping- und Drogenmissbrauch des Reiters hatte und insoweit besteht auch hier ein Zusammenhang zwischen dieser privaten Information und dem Gegenstand der Berichterstattung. Trotzdem geht hier bei Beachtung des Verhältnismässigkeitsprinzips der Schutz der Privatsphäre nach Auffassung des Presserates grundsätzlich vor.

Die Erwähnung dieser Information erscheint jedoch aus einem anderen Grund zulässig. Die NZZ belegt mit einem Beispiel aus den kanadischen Medien, dass Eric Lamaze selbst – nach seinem Olympiasieg von 2008 – die Umstände publik gemacht hat, unter denen er aufwuchs: «‹When you’re raised in a home where drugs are flowing in like the mail’s coming in, it’s never good›, he said. ‹There was a lot of illegal things that my mom was into.›» («Toronto Star» vom 19. August 2008). Die NZZ machte diese Information schon vor dem von X. beanstandeten Bericht zweimal publik: Im Artikel «Ein Mann mit Vergangenheit. Olympiasieger im Springreiten war schon zweimal lebenslänglich gesperrt» vom 21. August 2008 zitiert Peter Jegen Lamazes Anwalt, der «auf die schwere Kindheit seines Mandanten, auf dessen Depressionen und darauf» verweise, «dass schon seine Mutter kokainabhängig und eine Dealerin gewesen sei». Und der Bericht «Wie im Parcours so im Leben» vom 19. Juli 2010 geht auf das Auf und Ab im Leben des Olympiasiegers ein: «Und schon sein ganzes Leben ist wie ein Ritt durch den Parcours. Die ersten Hindernisse hatte er in der Kindheit zu überwinden, weil seine Mutter drogensüchtig war, später musste er sich selber vom Kokain losreissen, juristische Hindernisläufe durchstehen. Wegen Drogen und Doping war er mehr als einmal gesperrt.»

Unter diesen Umständen wäre es nach Auffassung des Presserates unverhältnismässig, die NZZ nun nach der dritten Publikation dieser privaten Information zu rügen, zumal diese – im Gegensatz zur Schweiz – in Kanada offenbar längst e
iner breiten Öffentlichkeit bekannt ist.

2.
Peter Jegen zitiert Eric Lamaze im Bericht vom 8. November 2011, dieser habe gesagt, der Verlust von Hickstead sei das bisher tragischste Ereignis in seinem Leben. Der Journalist zieht daraus den kommentierenden Schluss, der Tod seines Spitzenpferdes belaste den Reiter offenbar mehr als seine Kindheit mit einer drogenabhängigen Mutter. Für den Presserat ist nicht ersichtlich, inwiefern sich diese im Rahmen der Kommentarfreiheit bewegende Wertung – die den Reiter weder als Person herabwürdigt noch in seinem Menschsein herabsetzt – die Menschenwürde von Eric Lamaze verletzen soll. Und die Beschwerdeführerin begründet ihre entsprechende Rüge nicht näher. Entsprechend ist eine Verletzung von Ziffer 8 der «Erklärung» nicht erstellt.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde gegen die «Neue Zürcher Zeitung» wird abgewiesen.

2. Mit der Veröffentlichung des Artikels «Tragisches Ende eines Kämpfers» vom 8. November 2011 hat die «Neue Zürcher Zeitung» die Ziffern 7 (Privatsphäre) und 8 (Menschenwürde) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.