Nr. 35/2012
Presserats- und Gerichtsverfahren

(X. c. «Wiler Nachrichten») Stellungnahme des Presserates vom 11. Juli 2012

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I. Sachverhalt

A. Am 3. November 2011 berichtete Charly Pichler in den «Wiler Nachrichten» auf der Titelseite («Wo er hinlangt, wächst Dürre») und auf Seite 3 («Held, Tor oder armer Teufel») über den «konsequenten Abstieg» von «Ex-Wachmann» X., «der alle Chancen hatte, doch keine nutzte». X. sei eine tragische Figur und taumle «zielsicher von Fettnapf zu Fettnapf». Auch als Sozialhilfeempfänger bleibe er seinem Kurs «bewundernswert treu». Aus einer thurgauischen Gemeinde «abgetaucht» lebe er nun im Sanktgallischen. «Stur» verweigere er die Rückzahlung bezogener Sozialhilfeleistungen. Von der Million Dollar, die er angeblich aus dem Bankenvergleich im Zusammenhang mit den nachrichtenlosen Vermögen erhalten habe, sei heute nichts mehr da. Trotz erfolgreichem Collegestudium in Kommunikationswissenschaft arbeite er weiter als Wachmann. Seine Frau lasse sich von ihm scheiden, worauf er sie via billig gemachter «You Tube-Filmchen» wüst beschimpfe. Nach seiner Rückkehr aus den USA werde er zum Sozialhilfeempfänger und arbeite im Rahmen eines sozialen Beschäftigungsprogramms, worauf er sich prompt über den zu niedrigen Lohn beschwere. Und als die Wohngemeinde bezogene Sozialhilfeleistungen zurückfordere, ziehe X. es vor, in den Nachbarkanton zu «fliehen».

B.
Am 3. Mai 2012 beschwerte sich der anwaltlich vertretene X. gegen die obengenannte Berichterstattung, welche insbesondere die Ziffern 1 (Wahrheit), 2 (Trennung von Fakten und Kommentaren), 3 (Quellen, Archivdokumente, Anhörung bei schweren Vorwürfen), 4 (Recherchegespräche), 5 (Berichtigung), 7 (Privatsphäre) und 8 (Diskriminierung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» sowie die zugehörigen Richtlinien verletze. Dabei gab er an, in der gleichen Sache sei ein Gerichtsverfahren «geplant».

Bereits der Titel auf der Frontseite beruhe auf einem unnötig verletzenden Werturteil. Von einem konsequenten Abstieg des Beschwerdeführers könne nicht die Rede sein, auch wenn er privat nicht durchwegs von Glück gesegnet gewesen sei. Die Berichterstattung der «Wiler Nachrichten» habe im Übrigen dazu beigetragen, dass X. zur Zeit keine Arbeit finde. Es schlage zudem nicht alles fehl, was der Beschwerdeführer versuche. So habe das zuständige Sozialamt auf seinen Rekurs hin den Entscheid zur Rückzahlung der Sozialhilfeschulden von sich aus aufgehoben. Entsprechend unwahr sei die Behauptung, er weigere sich, Sozialhilfe zurückzuzahlen. Falsch sei auch die Behauptung, X. sei abgetaucht. Vielmehr habe er sich bei seiner alten Wohngemeinde ordnungsgemäss abgemeldet. Als falsch rügt der Beschwerdeführer weiter eine ganze Reihe von Ausführungen des Artikels von Charly Pichler über das Verfahren und die Entschädigung betreffend nachrichtenlose Vermögen. Ebenso die weiteren biografischen Angaben über das Studium und die Ehescheidung. Zu all diesen und weiteren falschen Behauptungen der «Wiler Nachrichten» sei X. nicht angehört worden. Ohne hin habe kein überwiegendes öffentliches Interesse an der die Privatsphäre des Beschwerdeführers tangierenden identifizierenden Berichterstattung bestanden.

Weiter beanstandet die ausführliche Beschwerdeschrift auf insgesamt 19 Seiten unter anderem:

– Der Artikel von Charly Pichler bestehe vorwiegend aus Wertungen, die auf falschen Tatsachenbehauptungen beruhten.
– Die «Wiler Nachrichten» hätten ihre Berichterstattung mit zwei Archivbildern des Beschwerdeführers illustriert, ohne dazu dessen Einwilligung einzuholen.
– Charly Pichler habe eine Gemeindeangestellte bei einem telefonisch geführten Recherchegespräch nicht darauf hingewiesen, dass sie eine Autorisierung der zur Publikation vorgesehenen Äusserungen verlangen dürfe.
– Obwohl die «Wiler Nachrichten» auf zahlreiche Fehler in ihrem Bericht hingewiesen worden seien, habe sie keine Berichtigung veröffentlicht.
– Die Schmähkritik von Charly Pichler würdige den Beschwerdeführer in seinem Menschsein herab.
– Und soweit die Berichterstattung der «Wiler Nachrichten» herabsetzende Eigenschaften (Geldgier) kollektiv jüdischen Organisationen und Bürgerinnen und Bürgern zuordne, wirke sie diskriminierend.

C. Auf Rückfrage des Presseratsekretariats bestätigte der Beschwerdeführer in einer ergänzenden Eingabe vom 29. Mai 2012, er plane ein zivilrechtliches Gerichtsverfahren. Der inkriminierte Artikel bewege sich in vielerlei Hinsicht «jenseits von Gut und Böse», was diesbezüglich mehrere berufsethische Fragen aufwerfe. Zudem könne sich ein Gericht nur bedingt zu den von der «Erklärung» erfassten Fragestellungen äussern. Dies gelte insbesondere für den Begriff der «Menschenwürde» (Ziffer 8 der «Erklärung»), aber auch für die Überprüfung der Richtlinien 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentaren), 3.3 (Archivdokumente), 3.4 (Illustrationen), 3.8 (Anhörung), 4.6 (Recherchegespräche), 5.1 (Berichtigung), 8.2 (Diskriminierung).

D. Gemäss Art. 12 Abs. 1 des Geschäftsreglements behandelt das Presseratspräsidium Beschwerden, auf die der Presserat nicht eintritt.

E. Das Presseratspräsidium, bestehend aus Presseratspräsident Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann, hat die vorliegende Stellungnahme per 11. Juli 2012 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Sofern sich berufsethische Grundsatzfragen stellen, kann der Schweizer Presserat gemäss Artikel 10 Absatz 2 seines Geschäftsreglements auch dann auf Beschwerden eintreten, wenn im Zusammenhang mit dem Beschwerdegegenstand bereits ein Gerichtsverfahren eingeleitet worden ist oder ein solches vom Beschwerdeführer während der Dauer des Presseratsverfahrens anhängig gemacht wird.

2.
Bei der Prüfung der Frage, ob eine Beschwerde grundlegende berufsethische Fragen aufwirft, berücksichtigt der Presserat nicht allein die als verletzt gerügten abstrakten berufsethischen Bestimmungen, sondern den konkret zur Diskussion stehenden Sachverhalt in Verbindung mit diesen Bestimmungen. Ebenso fällt bei der durch den Presserat vorzunehmenden Interessenabwägung ins Gewicht, inwiefern es von der Bedeutung der Sache her gerechtfertigt erscheint, zu einem identischen oder zumindest ähnlichen Sachverhalt zwei parallele Verfahren durchzuführen. Beanstandet der Beschwerdeführer im parallel hängigen Gerichtsverfahren zu weiten Teilen die gleichen Punkte wie in der Presseratsbeschwerde, ist diese Doppelspurigkeit aus Sicht des Presserates in aller Regel nicht gerechtfertigt (Stellungnahmen 9/2010, 46/2007).

3. Vorliegend ist zwar einzuräumen, dass die Berichterstattung der «Wiler Nachrichten» berufsethisch viele Fragen aufwirft und dass ein Zivilgericht in quantitativer Hinsicht einen wesentlichen Teil der mit der Presseratsbeschwerde vorgebrachten Rügen nicht prüfen wird. Allein aus der grossen Zahl der Beanstandungen ist allerdings keineswegs zu schliessen, dass sich damit zwangsläufig durch den Presserat zu klärende grundlegende berufsethische Fragen stellen.

Die Beschwerde von X. beruht in ihren Grundzügen auf der These, die «Wiler Nachrichten» hätten, ohne valable Informationen oder Quellen zu besitzen und ohne X. vor der Publikation anzuhören, krass wahrheitswidrige Behauptungen verbreitet und mit ihrer Schmähkritik die Privatsphäre und die Persönlichkeit des Beschwerdeführers verletzt. Zu diesen Fragen kann sich ein Zivilgericht – das zudem im Gegensatz zum Presserat ein Beweisverfahren durchführt und entsprechend auf einer genaueren faktischen Grundlage entscheiden kann – durchaus im Wesentlichen äussern. Für den Presserat ist gestützt auf die Eingaben des Beschwerdeführers
zudem nicht ersichtlich, inwiefern die Beschwerde vom 3. Mai 2012 vom Presserat bisher noch nie behandelte neue berufsethische Fragen oder besondere Fallkonstellationen aufwirft. Unter diesen Umständen ist davon abzusehen, das Presseratsverfahren ungeachtet des vom Beschwerdeführer angekündigten Gerichtsverfahrens durchzuführen.


III. Feststellung

Der Presserat tritt nicht auf die Beschwerde ein.