Nr. 63/2012
Identifizierung / Unschuldsvermutung / Unterschlagung von Informationen

(X. c. «SonntagsBlick»/«Blick Online») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 9. November 2012

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I. Sachverhalt

A. Am 20. November 2011 berichtete Viktor Dammann im «SonntagsBlick» über den bevorstehenden Strafprozes gegen eine Gewinnspiel-Bande (Titel: «Warum fallen Menschen  immer wieder darauf rein? Fiese Bauernfängerei. 17 Mio ergaunert! Staatsanwalt stellt Ostschweizer Gewinnspiel-Bande vor Gericht»). Eine von der Ostschweiz aus operierende Bande habe Tausende von Opfern mit bauernfängerischen Gewinnversprechen um insgesamt 17 Millionen Franken erleichtert. Die Staatsanwaltschaft habe Jahre gebraucht, um das komplizierte Netzwerk der Organisation zu entwirren. An deren Spitze stehe der ehemalige französische Fussballprofi X. Dessen Vorname und Name sind im Bericht vollständig genannt. Zudem enthält der Artikel ein Bild von X. Weitere Angeschuldigte nennt die Zeitung mit dem Vornamen und dem Initial des Nachnamens. Bei den Bildern der Mitangeschuldigten ist die Augenpartie mit einem Balken abgedeckt. Als eines der Opfer, die auf die Gewinnversprechen hereingefallen sind, nennt der «Sonntagsblick» den deutschen Rentner Hans Leicher. Dieser habe, veranlasst durch immer höhere Gewinnversprechen, wiederholt «Unkostenbeiträge» an eine «Hellseherin Samantha» per Brief an eine Postfachadresse in Österreich geschickt und so insgesamt Tausende von Euros verloren. Der Artikel wurde auch auf «Blick Online» aufgeschaltet.

B. Am 29. Februar 2012 beschwerte sich der anwaltlich vertretene X. beim Schweizer Presserat gegen die Veröffentlichung des obengenannten Berichts durch den «SonntagsBlick» und «Blick Online». Der Artikel verletze die Ziffern 3 (Unterschlagung wichtiger Informationen) und 7 (Privatsphäre, Unschuldsvermutung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten».

Der «SonntagsBlick» führe einen Hans Leicher prominent als Opfer an und drucke ein Bild von ihm ab. Die Zeitung unterschlage dabei aber, dass dieser seinen Strafantrag zurückgezogen habe und nicht vor Gericht erschienen sei.

An der Identifizierung des Beschwerdeführers bestehe zudem kein überwiegendes öffentliches Interesse. X. sei keine öffentliche Person und seine frühere Karriere als Fussballer habe nichts mit dem aktuellen Medienbericht zu tun.

Schliesslich suggerierten die Titel und weitere Passagen des Artikels der Leserschaft, der Fall sei bereits gerichtlich beurteilt. Damit verstosse der «SonntagsBlick» gegen die Unschuldsvermutung.

C. Am 18. April 2012 wiesen die ebenfalls anwaltlich vertretenen Redaktionen «SonntagsBlick» und «Blick Online» die Beschwerde als unbegründet zurück. Der Beschwerdeführer bestreite nicht, dass er früher Berufsfussballer war und in Frankreich schon einschlägig vorbestraft sei. Die Identifizierung sei deshalb zulässig. Ebenso wenig sei die Unschuldsvermutung verletzt. Der beanstandete Bericht sei eindeutig als Prozessvorschau erkennbar.

Die Beschwerdegegner bestreiten zudem, dass Hans Leicher seinen Strafantrag zurückgezogen hat und entschädigt wurde. Zudem behauptete der Bericht vom 20. November 2011 gar nicht, dass Leicher vor Gericht erscheinen würde.

D. Am 25. April 2012 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde durch das Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg, Vizepräsidentin Francesca Snider und Vizepräsident Max Trossmann.

E.
Nach Abschluss des Schriftenwechsels äusserte sich der Beschwerdeführer am 25. Mai 2012 in einer «Replik» zur Beschwerdeantwort von «SonntagsBlick» und «Blick Online».

F.
Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 9. November 2012 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. a) Ziffer 7 der «Erklärung» verpflichtet Medienschaffende, die Privatsphäre der einzelnen Person zu respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Die Richtlinie 7.2 zur «Erklärung» (Identifizierung) verlangt eine sorgfältige Interessenabwägung und nennt eine Reihe von Fällen, in denen eine Namensnennung und/oder identifizierende Berichterstattung zulässig ist. Danach ist die Identifizierung gerechtfertigt, sofern die Person in der Öffentlichkeit allgemein bekannt ist und der Medienbericht damit im Zusammenhang steht.

b) Zwar gehörte der Beschwerdeführer als ehemaliger Profifussballer früher zu den Personen des öffentlichen Lebens. Die Karriere von X. liegt aber schon Jahrzehnte zurück. Zudem besteht offensichtlich kein Zusammenhang mit dem aktuellen Medienbericht. Ebenso wenig lässt sich die Identifizierung damit rechtfertigen, dass X. angeblich in Frankreich bereits einschlägig vorbestraft ist. Denn auch dies macht ihn nicht zu einer öffentlichen Person. Die Beschwerde ist deshalb insoweit teilweise gutzuheissen.

2. a) Gemäss der Richtlinie 7.5 zur «Erklärung» ist bei der Gerichtsberichterstattung der Unschuldsvermutung Rechnung zu tragen. Im Vordergrund steht dabei der Schutz der Persönlichkeit des/der von einer Medienberichterstattung Betroffenen. Entsprechend verlangt der Presserat in seiner Praxis zur Richtlinie 7.5 (vgl. dazu die Stellungnahme 40/2010), dass bei der Erwähnung eines Strafverfahrens oder einer strafrechtlichen Verurteilung in einem Medienbericht nicht vorverurteilend zu Unrecht bereits eine (rechtskräftige) Verurteilung unterstellt wird.

b) Zwar ist dem Beschwerdeführer zuzugestehen, dass ein Teil der Titel («Fiese Bauernfängerei. 17 Mio ergaunert!») affirmativ formuliert sind. Trotzdem besteht nach Auffassung des Presserats keinerlei Gefahr, dass die Leserschaft über den Stand des Verfahrens getäuscht wird. Titel («Staatsanwalt stellt Ostschweizer Gewinnspiel-Bande vor Gericht»), Lead («Morgen startet ein für die Schweiz bisher einzigartiger Prozess. Noch nie standen so viele Mitglieder einer Gewinnspiel-Bande vor Gericht») und Lauftext («Sieben Männer und zwei Frauen sind wegen unlautereren Wettbewerbs angeklagt. Ihnen wird vorgeworfen, Gutgläubige aus ganz Europa – meist betagte Menschen – um insgesamt 17 Millionen Euro gebracht zu haben», «Für alle neun Angeklagten gilt die Unschuldsvermutung») machen deutlich, dass zum Zeitpunkt der Publikation des beanstandeten Berichts noch kein Strafurteil ergangen war.

3.
Schliesslich unterlässt es der Beschwerdeführer, seine vom «SonntagsBlick» bestrittene Behauptung zu belegen, wonach Hans Leicher seinen Strafantrag zurückgezogen habe und deshalb nicht für die Gerichtsverhandlung vorgeladen worden sei. Mithin ist der Presserat gestützt auf die ihm eingereichten Unterlagen nicht in der Lage, zu beurteilen, ob diese Behauptung zutrifft. Selbst wenn dem Standpunkt des Beschwerdeführers zu folgen wäre, fiele eine Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung» ausser Betracht. Denn X. bestreitet nicht, dass Hans Leicher auf die Gewinnversprechen hereingefallen ist. Vielmehr hat dieser gemäss Darstellung des Beschwerdeführers den Strafantrag zurückgezogen, nachdem er eine Entschädigung erhielt. Mithin trifft die Darstellung im Bericht vom 20. November 2011 zu, wonach Hans Leicher eines der «Tausenden Opfer» der «Gewinnspiel-Bande» war.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen.

2.
«SonntagsBlick» und «Blick Online» haben mit der nicht gerechtfertigten Identifizierung von X. im Artikel «Warum fallen Menschen immer wieder darauf rein? Fiese Bauernfängerei 17 Mio ergaunert! Staatsanwalt stellt Ostschweizer Gewinnspiel-Bande vor Gericht») vom 20. November 2011 die Ziffer 7 (unter dem Aspekt der Respektierung der Privatsphäre) der «Erklärung der Pflichten
und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.

3. Darüber hinausgehend wird die Beschwerde abgewiesen.

4. «SonntagsBlick» und «Blick Online» haben die Ziffern 3 (Unterschlagung wichtiger Informationen) und 7 (unter dem Aspekt der Unschuldsvermutung) der «Erklärung» nicht verletzt.