Nr. 66/2004
Identifizierende Berichterstattung / Anhörung bei schweren Vorwürfen

(X. c. «Kreuzlinger / Weinfelder Nachrichten») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 2. Dezember 2004

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I. Sachverhalt

A. Am 19. August 2004 veröffentlichten die «Kreuzlinger / Weinfelder Nachrichten» unter dem Titel «Szenen einer Ehe» und dem Untertitel «Wenn aus Liebe Hass wird» einen Artikel von Charly Pichler über die Geschichte einer zerbrochenen Ehe. Der Lead lautete: «Was aus den ehelichen Hoffnungen eines invaliden Thurgauers geworden ist.» Der Bericht legte einseitig aus der subjektiven Sicht des Ehemannes dar, wie dieser vor einigen Jahren im Spital Frauenfeld eine Frau aus dem ehemaligen Jugoslawien kennenlernte und schon bald darauf heiratete. Eine gemeinsame Tochter kam zur Welt. Doch schon bald nach der Heirat sei es zu Auseinandersetzungen gekommen, bei der die Ehefrau Gewalt gegen Sachen des Ehemannes ausgeübt und diesen auch tätlich angegriffen habe. Zudem habe es Konflikte mit dem zuerst im gleichen Haushalt lebenden, von der Ehefrau in die Ehe mitgebrachten halbwüchsigen «kiffenden» Sohn gegeben. Beim Ehemann sei Mundkrebs diagnostiziert worden und er habe einen Herzanfall erlitten. Er sei IV-Bezüger geworden und beziehe eine bescheidene Rente. Unter Alkoholeinfluss habe auch er sich zu inakzeptablen Gewalttaten hinreissen lassen. Die Ehefrau habe ihn über mehrere Jahre mit einem Freund betrogen. Nach der Aufhebung des gemeinsamen Haushalts sei das Kind der Mutter zugesprochen worden. Daran habe sich nichts geändert, obwohl die Verhältnisse bei der Mutter untragbar geworden seien und sie das Kind vernachlässigt habe. Demgegenüber hätte der Ehemann als IV-Rentner 24 Stunden pro Tag Zeit für sein Kind. Er sei krank, allein, von jedermann verlassen und fühle sich ausgenutzt. Auch das Besuchsrecht werde ihm verweigert. Die Justiz setze der Mutter gegenüber seine Rechte nicht durch.

Der Artikel nennt den Namen der Betroffenen nicht, sondern verwendet ein als solches deklariertes Pseudonym (Martin Baldmann). Hingegen druckte die Zeitung ein Foto des Ehemannes ab, das diesen von hinten von der Schulter an aufwärts zeigt, wie er vor einem Vogelkäfig sitzt (Legende: «Martin Baldmann – ein kleiner Vogel ist alles was ihm blieb»).

B. Am 2. September 2004 gelangte die anwaltlich vertretene X. mit einer Beschwerde an den Schweizer Presserat. Sie machte geltend, die Zeitung habe in ihrem Bericht vom 19. August 2004, ohne sie oder weitere Personen vorher angehört zu haben, Details über ihr Familienleben und das ihrer Kinder veröffentlicht. Dabei seien sie in ein sehr schlechtes Licht gerückt worden. Zudem werde auch das hängige Eheschutzverfahren verzerrt dargestellt und in diesem Zusammenhang die Justiz ungerechtfertigterweise angegriffen. Aufgrund des Fotos und weiterer im Artikel enthaltener Angaben hätten die Beschwerdeführerin und ihre Kinder aufgrund des Artikels ohne weiteres identifiziert werden können. Die «Weinfelder Nachrichten» hätten damit die Privatsphäre von Ehefrau und Kindern verletzt (Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten). Zudem habe die Zeitung weder X. noch das Bezirksgericht Y. vor der Publikation angehört, obwohl sie gegenüber beiden schwere Vorwürfe erhoben habe (Richtlinie 3.8 zur «Erklärung»).

C. In seiner Stellungnahme vom 7. Oktober 2004 wies Charly Pichler die Beschwerde namens der betroffenen Redaktion als unbegründet zurück. Der Artikel sei gezielt und mit grosser Sorgfalt anonymisiert worden und auch das Bild habe keine Identifikation erlaubt. Unter diesen Umständen habe die Privatsphäre der Beschwerdeführerin gar nicht verletzt werden können. Da er über die vollständigen Akten des Eheschutzverfahrens verfügt habe, habe er daraus authentisch zitieren können. Zudem habe er X. im Vorfeld der Recherche zweimal telefonisch zu erreichen versucht. Beide Male sei das Telefon jedoch aufgehängt worden, nachdem er sich mit seinem Namen und demjenigen der Zeitung gemeldet habe.

D. Mit Schreiben vom 14. Oktober 2004 teilte der Presserat den Parteien mit, dass der Schriftenwechsel abgeschlossen sei und dass die Beschwerde zur Behandlung an die 3. Kammer übertragen werde, der Esther Diener-Morscher als Präsidentin sowie Judith Fasel, Gina Gysin, Peter Liatowitsch, Roland Neyerlin, Daniel Suter, Max Trossmann als Mitglieder angehören.

E. Die Parteien reichten dem Presserat nach Abschluss des Schriftenwechsels weitere Unterlagen und Behördenentscheide im Zusammenhang mit ihrer ehelichen Auseinandersetzung ein.

F. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 2. Dezember 2004 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Der Presserat hat wiederholt darauf hingewiesen, dass es nicht zu seinen Aufgaben gehört, zwischen den Parteien umstrittene Sachverhalte in einem Beweisverfahren zu klären (vgl. zuletzt die Stellungnahmen 54 und 47/2004 mit weiteren Hinweisen). Dies gilt vorliegend insbesondere auch für die zum Teil naturgemäss stark voneinander abweichende Sachverhaltsdarstellung der Ehegatten X. im Rahmen des zwischen ihnen geführten Eheschutzverfahrens. Ohnehin ist diesbezüglich daran zu erinnern, dass aus der «Erklärung» und den zugehörigen Richtlinien keine berufsethische Pflicht zu «objektiver» Berichterstattung abgeleitet werden kann. Vielmehr ist auch eine einseitige, parteiergreifende – dem sog. anwaltschaftlichen Journalismus verpflichtete – Berichterstattung zulässig (Stellungnahmen 50/2003, 55/2004), sofern dabei grundlegende berufsethische Normen wie beispielsweise die Pflicht zur Anhörung bei schweren Vorwürfen (Richtlinie 3.8) und der Respektierung der Privatsphäre (Ziffer 7 der «Erklärung») beachtet werden. Eine Missachtung dieser Pflichten macht die Beschwerdeführerin zur Hauptsache geltend, weshalb diese Rügen nachfolgend näher zu prüfen sind.

Immerhin ist ungeachtet der gemachten Einschränkungen aufgrund der von beiden Parteien dem Presserat eingereichten umfangreichen gerichtlichen Unterlagen festzustellen, dass sich das Gericht Y. offensichtlich mehrfach und eingehend mit den familiären Verhältnissen der Ehegatten X. befasst hat und dabei bei der Würdigung dieses Sachverhalts zu sehr weiten Teilen den Darlegungen der Ehefrau gefolgt ist. Im August 2003 das Obergericht des Kantons Thurgau diese Sichtweise geschützt. Angesichts der geltend gemachten vollen Aktenkenntnis mutet es unter diesen Umständen zumindest erstaunlich an, wenn sich die Beschwerdegegnerin noch in ihrer Beschwerdeantwort vom 7. Oktober 2004 in erster Linie auf eine vom Ehemann X. handschriftlich ausgefertigte und unterzeichnete Erklärung beruft, der aus seiner Sicht im Artikel vom 19. August 2004 dargelegte Sachverhalt sei in allen Teilen wahr und von einer verzerrten Darstellung könne dementsprechend nicht die Rede sein.

2. a) Ziffer 7 der «Erklärung» auferlegt den Medienschaffenden die Pflicht, die Privatsphäre des Einzelnen zu respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Gemäss der Richtlinie 7.6 zur «Erklärung» sollten Journalistinnen und Journalisten grundsätzlich weder Namen noch andere Angaben veröffentlichen, die eine Identifikation durch Dritte ermöglichen, die nicht zu Familie, beruflichem oder sozialem Umfeld gehören. In Betracht zu ziehen ist vorliegend zudem die Richtlinie 7.4 über Kinder: «Kinder bedürfen eines besonderen Schutzes; dies gilt auch für Kinder von Prominenten oder weiteren Personen, die Gegenstand des Medieninteresses sind. Besondere Zurückhaltung ist angezeigt bei der Berichterstattung im Zusammenhang mit Kindern (sei es als Opfer, mögliche Täter/innen oder als Zeug/innen) bei Gewaltverbrechen. Dies gilt vor allem bei Befragungen.»

b) Zwischen den Parteien ist in Bezug auf die beanstandete Berichterstattung unbestritten, dass eine identifizierende Berichterstattung nicht angebracht war. Umstritten ist hingegen, ob das veröffentlichte Bild in Kombination mit den weiteren Angaben eine Identifikation über den Kreis der Personen hinaus ermöglichte, die di
e Betroffenen auch bei einer vollständig anonymisierten Berichterstattung wahrscheinlich erkennen würden.

c) Die Beschwerdeführerin macht dazu geltend, jedermann aus dem erweiterten Bekanntenkreis ihres Ehemannes habe trotz des abgeänderten Namens aufgrund des Fotos auf der Titelseite und des Textes sofort erkennen können, um wen es sich handelt. Ihr Ehemann sei in der Gemeinde Y. (ca. 9500 Einwohner) keine unauffällige Person. Zumindest im Quartier, in dem beide Ehegatten nach wie vor wohnen, sei er anhand seiner Haare, seines auffälligen Tatoos und seines Ohrrings für jeden erkennbar. Ausserdem würden sich aus dem Text weitere Hinweise ergeben (Nationalität, Wohnort, Krankheiten und Alkoholabhängigkeit des Ehemannes, Angaben über Kinder usw.) aufgrund derer der Beschwerdeführer in der Nachbarschaft ohne weiteres identifiziert werden könne.

d) Charly Pichler hält dieser Argumentation entgegen, sein Artikel enthalte keinerlei offene oder versteckte Hinweise auf die Identität der Ehegatten X. Der von ihm beschriebene Ehestreit sei einer von Dutzenden, die sich vor den Gerichten im Verbreitungsgebiet der «Weinfelder / Kreuzlinger Nachrichten» Woche für Woche abspielten. Bezüglich des Fotos habe er zusammen mit seiner Redaktionskollegin die Probe aufs Exempel gemacht und das Foto Bewohnern des gleichen Quartiers vorgehalten – mit der Frage, ob sie die darauf abgebildete Person erkennen könnten. Nicht einmal in der Nähe des Wohnblocks, in dem Herr X. wohnt, hätten ihn die Bewohner nur allein aufgrund des Fotos benennen können. Vielmehr seien die Befragten mehrheitlich davon ausgegangen, die abgebildete Person sei eine Frau. Im übrigen wimmle es in ganz Y. von Tatoo-Trägern und Leuten mit Ringen im Ohr, genauso wie dort Herr X. nicht der einzige Alkoholkranke und seine Ehefrau nicht die einzige Jugoslawin sei.

e) Die Beschwerdegegnerin verkennt mit ihrer Argumentation, dass der Leserschaft nicht bloss ein Foto, sondern ein dazugehöriger Text mit weiteren Angaben zur Verfügung stand. Deshalb kann von vornherein nicht auf ein zwar originelles «Testverfahren» abgestellt werden, bei dem den befragten Personen bloss das Foto ohne Text vorgelegt wurde. Auch wenn es zudem plausibel erscheint, dass in einer Gemeinde mit ca. 9500 Einwohnern die betroffenen Ehegatten und Kinder aufgrund des Artikels vom 19. August 2004 nicht für alle Bewohnerinnen und Bewohner erkennbar waren, dürfte dies aber zumindest im Wohnquartier der Ehegatten X. anders aussehen. Zumal der Ehemann – wie sich aus einem Urteil des Bezirksgerichts Y. vom 2. Juli 2004 ergibt – die Auseinandersetzung offenbar zu einem früheren Zeitpunkt in einem gegen die Ehefrau gerichteten Flugblatt thematisierte, das er im Quartier verteilte. Zusammen mit dem relativ grossen, gestochen scharfen Foto, der auffälligen Tätowierung sowie den Angaben im Text war die Wahrscheinlichkeit relativ hoch, dass die Ehegatten und die Kinder zumindest von den Quartierbewohnern aufgrund des Medienberichts identifiziert würden. Eine derartige identifizierende Berichterstattung geht über den in der Richtlinie 7.6 genannten Kreis des näheren beruflichen und sozialen Umfelds hinaus. Hinzu kommt, dass auch zwei Kinder unmittelbar betroffen waren, weshalb noch mehr Zurückhaltung angezeigt gewesen wäre. Umgekehrt wäre eine Publikation des Artikels auch ohne das kompromittierende Foto ohne weiteres möglich und zumutbar gewesen, ohne dass dies den Informations- und / oder Unterhaltungswert beeinträchtigt hätte. Diese Überlegungen hätten die Beschwerdegegnerin zu noch mehr Zurückhaltung bei der Veröffentlichung des beanstandeten Medienberichts anhalten müssen. Im Ergebnis ist deshalb festzuhalten, dass die Anonymisierung ungenügend war und dass die «Kreuzlinger / Weinfelder Nachrichten» die Ziffer 7 der «Erklärung» verletzt haben.

3. a) Die Richtlinie 3.8 (Anhörung) zur «Erklärung» lautet: «Aus dem Fairnessprinzip und dem ethischen Gebot der Anhörung beider Seiten (ÐAudiatur et altera parsð) leitet sich die Pflicht der Journalistinnen und Journalisten ab, Betroffene vor der Publikation schwerer Vorwürfe anzuhören. Deren Stellungnahme ist im gleichen Medienbericht kurz und fair wiederzugeben. Ausnahmsweise kann auf die Anhörung verzichtet werden, wenn dies durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt ist. Der von schweren Vorwürfen betroffenen Partei muss nicht derselbe Umfang im Bericht zugestanden werden wie der Kritik. Aber die Betroffenen sollen sich zu den schweren Vorwürfen äussern können.» Der Presserat hat in der Stellungnahme 8/2000 festgehalten, dass Anhörung der Betroffenen vor der Publikation schwerer Vorwürfe selbst bei grundsätzlich anonymer Berichterstattung dann unabdingbar ist, wenn er zwar nicht für den Durchschnittsleser, jedoch für seine nähere Umgebung erkennbar ist.

b) Nach dem oben Ausgeführten war diese Erkennbarkeit vorliegend offensichtlich gegeben. Ebenso wiegen die gegenüber der Beschwerdeführerin erhobenen Vorwürfe schwer (Gewalt gegen Personen und Sachen, Heirat aus Zweckgründen, Vernachlässigung der Tochter). Allerdings macht der Autor des Berichts dazu geltend, er habe erfolglos versucht, die Ehefrau X. für eine Stellungnahme zu erreichen bzw. diese zu einer solchen zu bewegen. Angesichts des Umfangs und der Schwere der erhobenen Vorwürfe wären dem Journalisten wesentlich umfangreichere Bemühungen möglich und zumutbar gewesen. So hätte er beispielsweise eine schriftliche Stellungnahme einholen oder den ihm bekannten Anwalt der Beschwerdeführerin kontaktieren können. Angesichts der einseitig vorgebrachten krassen Vorwürfe des Ehemannes und seiner langjährigen Alkolkrankheit, von der die Redaktion aus den Gerichtsakten Kenntnis haben musste, hätten die Alarmglocken läuten und eine besonders sorgfältige Überprüfung nahelegen müssen. Dies in erster Linie durch die Anhörung der Ehefrau. Und selbst wenn eine Anhörung nicht möglich gewesen oder eine Stellungnahme verweigert worden wäre, hatte dies zumindest aus dem Artikel hervorgehen müssen. Dementsprechend haben die «Kreuzlinger / Weinfelder Nachrichten» auch die Richtlinie 3.8 verletzt.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2. Die «Kreuzlinger / Weinfelder Nachrichten» haben die Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt, weil die Gefahr bestand, dass aufgrund von Text und Foto die beiden Ehegatten X. und die Kinder zumindest für die Bewohnerinnen und Bewohner ihres Wohnquartiers identifizierbar waren.

3. Die «Kreuzlinger / Weinfelder Nachrichten» wären zudem verpflichtet gewesen, die Ehegattin vor der Veröffentlichung der schweren Vorwürfe des Ehegatten anzuhören und ihre Stellungnahme im Artikel zumindest kurz wiederzugeben. Falls eine Anhörung nicht möglich war oder eine Stellungnahme verweigert wurde, hätte dies aus dem Artikel hervorgehen müssen. Die Zeitung hat deshalb die Richtlinie 3.8 zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt.