Nr. 46/2004
Identifizierbare Berichterstattung

(X. c. «Zürichsee-Zeitung») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 27. August 2004

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I. Sachverhalt

A. Die «Zürichsee-Zeitung» berichtete am 22. Januar 2003 über einen Strafprozess am Bezirksgericht Zürich wegen Landfriedensbruch und Übertretung des Vermummungsverbots. Der Titel des von Attila Szenogrady verfassten Artikels lautete: «Anti-WEF-Demonstrantin schwieg»; der Lead: «Das World Economic Forum (WEF), allerdings das letztjährige, beschäftigte gestern auch die Justiz. Die Rede ist von einem Strafprozess gegen eine junge Frau aus Y. (Ortsname im Originaltext ausgeschrieben) Sie soll vor knapp einem Jahr an der äusserst gewalttätigen Anti-WEF-Demonstration in Zürich teilgenommen haben. Das Urteil wird schriftlich erfolgen.» Die Angeschuldigte wurde im Artikel wie folgt beschrieben: «Die 1978 geborene Angeklagte aus Y. erschien mit rot-grün-gefärbten Haaren im Gerichtssaal. Davon abgesehen verhielt sie sich unauffällig.» Die «Chemikantin» habe sich weitgehend ausgeschwiegen.

B. Am 3. April 2003 berichtete die «Zürichsee-Zeitung» mit dem Titel «Anti-WEF-Demonstrantin verurteilt» über die Urteilseröffnung im gleichen Prozess. Der Lead lautete: «Bezirk Horgen: In einem am Mittwoch veröffentlichten Urteil hat das Bezirksgericht Zürich eine junge Frau aus dem Bezirk Horgen wegen Landfriedensbruch und zwei Übertretungen zu einer bedingten Gefängnisstrafe von zehn Tagen sowie zu einer Geldbusse von 250 Franken verurteilt.» Wiederum erwähnte der Artikel, dass die Angeschuldigte bei der «Prozesseröffnung» mit «rot-grün-gefärbten Haaren» erschienen war.

C. Mit Beschwerde vom 12. Dezember 2003 gelangte die anwaltlich vertretene X. an den Presserat und rügte, aufgrund «der im Artikel (vom 22. Januar 2003) angegebenen Details wie Aussehen, Jahrgang, Wohnort und Beruf sei sie in der Folge von verschiedenen Personen am Arbeitsplatz, im persönlichen Umfeld und am Wohnort angesprochen und gefragt worden, ob sie die betreffende Person sei. Am Tage des Erscheinens des Artikels sei ihr Fall das Pausengespräch am Arbeitsplatz gewesen und ihr Vorgesetzter habe die Angelegenheit im Personaldossier vermerkt und ihr zudem im Falle einer Verurteilung einen schriftlichen Verweis angekündigt.

Auch nach Erscheinen des zweiten Artikels sei die Beschwerdeführerin erneut nicht nur von Freunden und näheren Bekannten darauf angesprochen worden, ob sie die in der Zeitung erwähnte Person sei. Ihr Vorgesetzter am Arbeitsplatz habe die Sache erneut aufgegriffen, da er eine Schädigung des Betriebsimages befürchtete.

Mit der Art und Weise ihrer Berichterstattung habe die «Zürichsee-Zeitung» eindeutig gegen die Richtlinie 7.6 (Namensnennung) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen. Zudem habe die Zeitung im Artikel vom 22. Januar 2003 geschrieben, gegen die Angeschuldigte bestehe eine «starke Beweislast» und es sei erwähnt worden, der Prozess sei ohne Zwischenfälle über die Bühne gegangen. Damit habe die «Zürichsee-Zeitung» auch die Richtlinie 7.5 (Unschuldsvermutung) verletzt.

D. In einer Stellungnahme vom 3. Februar 2004 wies Benjamin Geiger, Chefredaktor der «Zürichsee-Zeitung», die Beschwerde als unbegründet zurück. Der Berichterstatter habe im ersten Artikel keineswegs geschrieben, die Beschwerdeführerin sei «schuldig». Zudem müsse es zulässig sein, die äusseren Begleitumstände eines Prozesses zu beschreiben. Sie sei im Artikel bewusst nicht mit Namen genannt worden. Hingegen sei die Erwähnung des Wohnorts Y. mit knapp 5000 Einwohnern unproblematisch. Die Beschreibung des Äusseren der Beschwerdeführerin («rot-grüne Haare») sei im Zusammenhang mit dem Prozessgegenstand von Bedeutung. Dasselbe gelte für die Alters- und Berufsangabe. Es sei ausgeschlossen, dass jemand ausserhalb des Bekanntenkreises aufgrund dieser zwei Angaben die Beschwerdeführerin habe identifizieren können.

E. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder sonstwie von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.

F. Am 5. Februar 2004 erklärte der Presserat den Schriftenwechsel als geschlossen und teilte den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium, bestehend aus dem Präsidenten Peter Studer sowie den Vizepräsidentinnen Sylvie Arsever und Esther Diener-Morscher behandelt.

G. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 27. August 2004 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Soweit die Beschwerdeführerin eine Verletzung der Richtlinie 7.5 (Unschuldsvermutung) zur «Erklärung» beanstandet, ist ihre Rüge unbegründet. Gemäss der Praxis des Presserates (vgl. zuletzt die Stellungnahmen 27/2004, 60 und 61/2003) wird der Unschuldsvermutung Genüge getan, wenn ein Artikel darauf hinweist, dass eine Verurteilung noch nicht oder noch nicht rechtskräftig erfolgt ist. Diese Voraussetzung ist hinsichtlich des Artikels vom 22. Januar 2003, der ausdrücklich darauf hinwies, dass das Gericht bis dahin noch zu keinem Urteil gekommen war, offensichtlich erfüllt.

2. a) Schwieriger ist die Hauptrüge von X. zu beurteilen, wonach die Berichte der «Zürichsee-Zeitung» den Grundsatz der nicht identifizierenden Berichterstattung ungerechtfertigterweise verletzt hätten. Gemäss der Richtlinie 7.6 (Namensnennung) zur «Erklärung» veröffentlichen Journalistinnen und Journalisten (vorbehältlich von Ausnahmen) «grundsätzlich weder Namen noch andere Angaben, die eine Identifikation einer von einem Gerichtsverfahren betroffenen Person durch Dritte ermöglichen, die nicht zu Familie, sozialem oder beruflichen Umfeld gehören, also sich ausschliesslich aus den Medien orientieren».

b) Die «Zürichsee-Zeitung» macht nicht geltend, dass vorliegend eine der Voraussetzungen (überwiegendes öffentliches Interesse, öffentliche Funktion, Notorietät, Einwilligung, Vermeidung einer Verwechslung) für eine ausnahmsweise identifizierende Berichterstattung gegeben war. Strittig ist zwischen den Parteien vielmehr, ob im konkreten Fall aufgrund der in den beiden Berichten gemachten Angaben eine Identifikation der Beschwerdeführerin auch für Personen ausserhalb ihres sozialen Umfelds möglich war. Dabei kann der Presserat diese Frage im Rahmen seines eingeschränkten (schriftlichen) Verfahrens nicht abschliessend prüfen, sondern muss – ebenso wie die Redaktion vor dem Entscheid der Veröffentlichung im Einzelfall – auf Plausiblitätsüberlegungen abstellen (Stellungnahme 37/2003).

c) Beim am 3. April 2003 erschienenen Bericht über die Urteilseröffnung geben lediglich die Elemente «junge Frau», «Bezirk Horgen» und «rot-grüne Haare» gewisse Hinweise auf eine bestimmte Person. Diese genügen nach Auffassung des Presserates allerdings bei weitem nicht, eine Identifikation der Beschwerdeführerin ausserhalb ihres sozialen Umfelds zu ermöglichen. Daran ändert auch der Hinweis auf den ersten Artikel vom 22. Januar 2004 nichts. Denn wer ausserhalb des sozialen Umfelds wird schon ein Interesse daran haben, zwecks Identifikation der Verurteilten in der früheren Ausgabe der Zeitung nachzuschlagen?

d) Weitere Identifikationsangaben enthält hingegen der Bericht vom 22. Januar 2003 über die «Prozesseröffnung», wurden doch hier zusätzlich Jahrgang (1978), Wohnort (Y.) und Beruf (Chemikantin) genannt. Zusammen mit den auffälligen «rot-grün-gefärbten Haaren» lassen diese Angaben die Wahrscheinlichkeit einer Identifikation von X. ausserhalb ihres sozialen Umfelds hier doch als einiges höher erscheinen. Dabei kann man sich insbesondere fragen, ob die Nennung des Wohnorts Y., auf die dann im zweiten Bericht verzichtet worden ist, wirklich notwendig war. Y. ist politisch ein Ortsteil von Z. (allerdings mit eigener Postleitzahl) und Z. zusammengewachsen.

Bei ein
er Einwohnerzahl des Ortsteils Y. von 5000 kann allerdings entgegen den Ausführungen in der Beschwerdeschrift nicht mehr von ländlichen Verhältnissen die Rede sein, bei der jeder jeden kennt (vgl. auch hierzu die bereits erwähnte Stellungnahme 37/2003). Und die Zeitungsredaktion schreibt mit Recht, dass Beruf (Chemikantin) und Haarfarbe (demonstrativ rotgrün) zur Situierung der Angeklagten im Prozess beitrugen. Bei einer Würdigung der gesamten Umstände kommt der Presserat zum Schluss, dass eine Verletzung der Richtlinie 7.6, wenn auch knapp, zu verneinen ist, obwohl es bereits im ersten Bericht besser gewesen wäre, vorsichtshalber auf die Nennung des Wohnorts zu verzichten. Die Ablehnung der Beschwerde rechtfertigt sich auch deshalb, weil die Beschwerdeführerin nicht konkret mit Beschreibung von Einzelfällen begründet, sondern dies lediglich pauschal geltend macht, inwiefern der Artikel im Sinne der Richtlinie 7.6 zur «Erklärung» eine Identifikation durch Dritte ausserhalb von Familie, sozialem und beruflichen Umfeld ermöglicht hätte. Im Gegenteil legt sie das Schwergewicht ihrer Rügen auf eben diesen Personenkreis.

III. Feststellung

Die Beschwerde wird abgewiesen.