Nr. 45/2001
Gerichtsberichterstattung über Sexualdelikte

(P. AG c. «Zofinger Tagblatt») Stellungnahme des Presserates vom 1. November 200

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I. Sachverhalt

A. Am 4. Mai 2001 veröffentlichte das «Zofinger Tagblatt» einen Bericht über die Hauptverhandlung eines Strafprozesses, die am Vortag vor dem Bezirksgericht Zofingen stattgefunden hatte. Im Prozess ging es um Sexualdelikte. Der Anschuldigte, ein vierzigjähriger Mann, wurde wegen sexuellen Handlungen mit zwei Kindern verurteilt, die zum Zeitpunkt der Tathandlungen 11 und 13 Jahre alt waren.

B. Der Titel des Berichts lautete: «Sexuelle Handlungen mit Kindern», der Untertitel: «Was scheusslich tönte, entpuppte sich als halb so schlimm.» Der Artikel erwähnte zahlreiche Details. Neben den üblichen Angaben über Verhandlungsverlauf und Gerichtsurteil wurde zum Sachverhalt u.a. folgendes wiedergegeben:

– «In allen vier Fällen handelte es sich um orale und manuelle Handlungen ohne Gewalteinwirkung, ja teilweise mit dem Einverständnis der Kinder»; – «Ort des Geschehens war S. (Toilette des Feuerwehrlokals), W. (Wohnung des Angeklagten), Sch. (Sandsteinhöhle) und das Schwimmbad in Sch.» (Ortsnamen im Originalartikel nicht anonymisiert); – «Um es exakt zu benennen: es handelte sich um orale Sex-Handlungen mit zwei Brüdern, die damals 11 und 13 Jahre alt waren.»

Über den Angeschuldigten war zu lesen:

– «Der Angeklagte ist IV-Bezüger und seit einem Schädelbruch im frühen Kindesalter in seiner seelisch-geistigen Entwicklung behindert.»

– «Zunächst hatte der Angeklagte die grösste Mühe, den Ausführungen des Gerichtspräsidenten intellektuell zu folgen. Dann zeigte sich, dass er zwar seit 22 Jahren in einem Fabrikationsbetrieb in H. als Hilfsarbeiter vollbeschäftigt ist, dort aber nur Fr. 1’400.– verdient. Weitere 1’500 Franken bekommt er von der IV: Dies ist auf einen schweren Unfall zurückzuführen, den er im Alter von drei bis vier Jahren erlitt: Er stürzte die Treppe hinunter, hatte einen Schädelbruch und lag sechs Wochen im Koma. Dadurch blieb nicht nur die schulische und berufliche Bildung weitgehend auf der Strecke, sondern auch die seelisch-geistige Entwicklung. Der äusserlich bullig wirkende Mann ist innerlich auf einer kindlichen oder pubertären Stufe stehen geblieben. Er lebt bei seiner Mutter, die ihm auch seine Wäsche besorgt.» Auch der Arbeitsort wurde im Originalartikel voll genannt.

Zu den beiden Opfern führte der Bericht aus:

– «Noch viel schlimmer war anzuhören, was mit den beiden Brüdern und deren Familie los ist. Der ältere wurde schon anal von einem Bekannten der Familie missbraucht, der jüngere mehrmals von seinem eigenen Bruder. Der jüngere soll seinerseits schon versucht haben, seine eigene traumatische sexuelle Erfahrung an einem fünfjährigen Mädchen, das im Haushalt lebt, auszuprobieren. Unterdessen leben beide Brüder in Heimen, wo sie allerdings auch schon Schwierigkeiten machen. Das Gericht stellte denn auch fest, dass beide Brüder überall untragbar seien.»

C. Mit Schreiben vom 29. Mai und 31. Mai 2001 gelangte die P. AG (nachfolgend: Beschwerdeführerin) an den Presserat. Sie machte geltend, der Bericht verletze die Menschenwürde (Ziffer 8 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten») durch die vollständige Nennung von Tatorten, sowie von Wohnort und Arbeitsort des Angeklagten. In Kombination mit der Bekanntgabe der intellektuellen und physischen Gegebenheiten sei es in einem beschränkten sozialen Bewegungsfeld jedermann möglich, ihn zu identifizieren. Dies komme auf Umwegen einer diskriminierenden Namensnennung gleich, weshalb eine Verletzung der Privatsphäre (Ziffer 7 der «Erklärung») zu bejahen sei.

D. Der Präsidium des Presserates wies die Behandlung der Beschwerde seiner 1. Kammer zu, der Peter Studer als Präsident sowie die Mitglieder Marie-Louise Barben, Luisa Ghiringhelli, Silvana Ianetta, Philip Kübler, Kathrin Lüthi und Edy Salmina angehören.

E. In einer Stellungnahme vom 7. Juli 2001 wies das «Zofinger Tagblatt» die Beschwerde als unbegründet zurück. Im beanstandeten Bericht sei weder der Namen des Angeklagten noch derjenige seines Arbeitgebers genannt worden. Die Beschreibung der (behinderten) Persönlichkeit des Angeschuldigten sei ein Dienst an die Leserschaft, die nur so das (milde) Urteil verstehen könne. Im weiteren verstosse die Nennung der Ortsnamen nicht gegen die allgemeinen Regeln der Gerichtsberichterstattung. Die Nennung könne manchmal erforderlich sein, um nicht den Verdacht auf unschuldige Menschen zu lenken. Die Redaktion habe nach Eingang der Beschwerde den Verteidiger des Angeschuldigten, den Vertreter der Privatklage sowie den Gerichtspräsidenten informiert. Diese hätten die Beschwerde ebenfalls als unbegründet erachtet. Dabei sei u.a. darauf hingewiesen worden, dass Gerichtsverhandlungen öffentlich seien und zudem Verwandte sowie Nachbarn bei jedem Bericht feststellen könnten, um wen es sich handle. Wichtig sei, dass die Anonymität gegenüber Aussenstehenden gewahrt bleibe. Diese Bedingung sei im konkreten Fall erfüllt gewesen.

F. An ihrer Sitzung vom 15. August 2001 beschloss die 1. Kammer, die Redaktion des «Zofinger Tagblatts» zusätzlich zu fragen, ob die beiden Opfer im beanstandeten Medienbericht über ihr nächstes Umfeld hinaus für einen weiteren Kreis erkennbar waren und ob die Berichterstattung rückblickend unter dem Gesichtspunkt des Opferschutzes irgendwelche Probleme aufgeworfen habe.

G. Mit Schreiben vom 3. September 2001 machte Paul Ehinger, Chefredaktor des «Zofinger Tagblatts» geltend, aus Sicht der Redaktion und nach entsprechenden Nachforschungen seien die beiden Opfer in keiner Weise für die Leserschaft erkennbar gewesen, nicht einmal für den engsten Kreis. Dementsprechend habe es auch nicht die geringsten Beanstandungen seitens von Verteidiger, Gericht, Vormundschaft, Familie Beschwerdeführerin oder Leserschaft gegeben.

H. Die 1. Kammer verabschiedete die vorliegende Stellungnahme an ihrer Sitzung vom 24. Oktober 2001.

II. Erwägungen

1. Die Gerichtsberichterstattung, insbesondere diejenige über Strafverfahren, stellt hohe Ansprüche an die Medienschaffenden. Die Schwierigkeit besteht darin, für jeden Einzelfall ein ausgewogenes Verhältnis zwischen leserfreundlicher Textgestaltung, Informationsinteresse der Öffentlichkeit und Respektierung grundlegender Prinzipien wie Unschuldsvermutung, Persönlichkeitsschutz und geordnetem Gang der Rechtspflege zu finden (vgl. z.B. Franz Zeller, Vorverurteilung und Justizkritik, Bern 1998; Franz Riklin, Vorverurteilung durch die Medien, recht 1992, S. 62ff.; La presse et la justice, PUF 1998). Bei Sexualdelikten ist ein ganz besonders sorgfältiges Vorgehen der Medienschaffenden erforderlich. Dies gilt erst recht, wenn Minderjährige – sei es als Opfer oder Täter – betroffen sind.

2. Ziffer 7 der «Erklärung» verpflichtet Journalistinnen und Journalisten, die Privatsphäre des Einzelnen zu respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Im Hinblick auf die Gerichtsberichterstattung wird diese Pflicht durch die Ziffern 7.4, 7.5, 7.6, und 7.8 der Richtlinien zur «Erklärung» konkretisiert. So dürfen – vorbehältlich eines überwiegenden öffentlichen Interesses – grundsätzlich weder die Namen noch andere Angaben veröffentlicht werden, die eine Identifikation einer von einem Gerichtsverfahren betroffenen Person durch Dritte ermöglichen. Als Dritte gelten Menschen ausserhalb des engsten familiären, sozialen oder beruflichen Umfelds (7.6). Weiter sind die Resozialisierungschancen zu wahren (7.5) und die Interessen der Opfer besonders zu berücksichtigen (7.8).

Der Presserat hat sich zu diesen schwierigen Aspekten in zahlreichen Stellungnahmen geäussert (vgl. u.a. die Stellungnahmen 3/94 i.S. G. c. «La Suisse» vom 24. Januar 1994, Sammlung 1994, S. 43ff., die Stellungnahme 7/94 i.S. Namensnennung in der Gerichtsberichterstattung vom 7. November 1994, Sammlung 1994, S. 67ff.
, Stellungnahme 32/2000 i.S. «Il Diavolo» c. «La Regione», Sammlung 2000, S. 238ff. mit weiteren Hinweisen).

3. Ziffer 8 der «Erklärung» statuiert die berufsethische Pflicht, die Menschenwürde zu respektieren, woraus für die Gerichtsberichterstattung das Gebot auf den Verzicht der Publikation von Informationen über die Intimsphäre abzuleiten ist, sofern diese für das Verständnis nicht unerlässlich sind (vgl. hierzu auch die Richtlinien 8.1. und 8.2 zu Ziffer 8).

Die Richtlinie 8.3 (Opferschutz) zu Ziffer 8 der «Erklärung» fordert die Autorinnen und Autoren von Berichten über dramatische Ereignisse oder Gewalt auf, immer sorgfältig zwischen dem Recht der Öffentlichkeit auf Information und den Interessen der Opfer und der Betroffenen abzuwägen.

4. a) Das «Zofinger Tagblatts» durfte seine Leserschaft also über den Ablauf des Prozesses, die Anschuldigungen, die Argumente der Parteien und den Entscheid des Richters informieren, obwohl sich der Prozess um sexuelle Handlungen drehte. Ebenso lässt es sich wegen der besseren Verständlichkeit des Berichts ohne weiteres rechtfertigen, neben der Wiedergabe der Anschuldigungen und des Gerichtsurteils auch Einzelheiten über die retardierte seelisch-geistige Entwicklung des Angeschuldigten zu erwähnen.

b) Über diese wichtigen Informationselemente hinaus werden jedoch weitere Einzelheiten genannt, die für die Verständlichkeit des Berichts und des Urteils nicht notwendig erscheinen, wohl aber die Privatsphäre des Angeschuldigten verletzen und seine Menschenwürde missachten, vor allem aber die Identifikation über sein nächstes Umfeld hinaus wesentlich erleichtern. Unnötig erscheint unter diesen Gesichtspunkten inbesondere die Nennung folgender Details:

– die namentliche Nennung der Tatorte (Toilette des Feuerwehrlokals in S., Wohnung des Angeklagten in W., Sandsteinhöhle und Schwimmbad in Sch.); – dass er in einer Vollzeitstelle und seit 22 Jahren in einer Fabrik in H. arbeite, wo er einen Monatslohn von Fr. 1’400.– ausgezahlt erhalte (zumal es in H. nur eine Fabrik gibt); – dass der Anschuldigte eine IV-Rente im Umfang von monatlich Fr. 1’500.– beziehe; – dass er bei seiner Mutter lebe, die ihm seine Wäsche besorge.

cc) Durch die Veröffentlichung dieser Einzelheiten hat das «Zofinger Tagblatt» nicht zu einem besseren Verständnis des traurigen Falles beigetragen, sondern vor allem eine Identifikation des Angeschuldigten über das nähere Umfeld hinaus wesentlich erleichtert. Damit verbunden war die Gefahr einer Stigmatisierung des Angeklagten aufgrund seiner öffentlich gemachten psychischen Beeinträchtigung und seines Status als IV-Bezüger. Dementsprechend ist eine Verletzung von Ziffer 7 (Richtlinie 7.6) und von Ziffer 8 (Richtlinie 8.1) der «Erklärung» zu bejahen.

5. Auch aus den vom «Zofinger Tagblatt» vorgebrachten Gegenargumenten lassen sich keine andere Schlussfolgerungen ableiten.

a) Bei den – im übrigen von der Beschwerdegegnerin nur indirekt wiedergegebenen – Einschätzungen des Verteidigers und des urteilenden Richters handelt es um subjektive Urteile von Prozessbeteiligten. Der Presserat ist nicht an solche Meinungsäusserungen gebunden, sondern hat allein auf der Grundlage berufsethischer Kriterien zu entscheiden.

b) Eine Gerichtsberichterstattung wäre vorliegend auch mit der vom Presserat geforderten Zurückhaltung in der Wiedergabe von Ortsangaben und weiteren Einzelheiten aus der Privat- und Intimsphäre ohne weiteres möglich gewesen. Ebensowenig vermag das Argument einer möglichen Verwechslungsgefahr zu überzeugen. Eine solche hätte von vornherein kaum bestanden, wenn auf Ortsangaben verzichtet worden wäre, welche die Gefahr einer Identifikation zumindest erhöhen.

c) Weiter erscheint auch der Einwand des «Zofinger Tagblatts» nicht haltbar, aufgrund der Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung hätte ohnehin jedermann die Möglichkeit gehabt, den Täter zu identifizieren. Die Publikumsöffentlichkeit eines Prozesses entbindet die Medienschaffenden nicht von der Respektierung der berufsethischen Pflichten. Die Publizität, die durch einen Medienbericht geschaffen wird, übersteigt bereits in quantitativer Hinsicht diejenige einer publikumsöffentlichen Gerichtsverhandlung bei weitem. Zudem haben die beiden Arten von Öffentlichkeit nicht dieselbe Funktion. Bei der Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen geht es primär um die demokratische Kontrolle der Gerichte. Demgegenüber will die Gerichtsberichterstattung darüber hinaus den Diskurs über gesellschaftliche Probleme und Konflikte fördern. Sowohl bei der Gerichtsöffentlichkeit wie bei der Medienöffentlichkeit ist dem Schutz der Privatsphäre der Betroffenen und dem Respekt vor der Menschenwürde der Betroffenen Rechnung zu tragen. Angesichts der unterschiedlichen Tragweite von Gerichtsöffentlichkeit und Medienöffentlichkeit kann das Ergebnis dieser Abwägung im Einzelfall aber unterschiedlich ausfallen. Das Ziel der Gerichtsberichterstattung besteht letztlich nicht nur darin, zum möglichst offenen gesellschaftlichen Diskurs beizutragen, sondern diesen auch fair zu führen.

6. Der Beschwerdeführer hat zwar in seiner Eingabe die journalistische Behandlung der Opfer nicht gerügt. Dennoch sieht sich der Presserat veranlasst, ergänzend auf einige berufsethische Aspekte des Opferschutzes hinzuweisen.

a) Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit erscheint es fraglich, ob es notwendig war, im Lead folgende Passage zu veröffentlichen: «(…) im Gegenteil waren die Handlungen zumindest vom älteren der beiden Opfer gewollt». Schliesslich handelte es sich dabei um einen dreizehnjährigen Jungen, der kriminellen Handlungen eines Erwachsenen ausgesetzt war; das auferlegt von vornherein eine grosse Zurückhaltung in der Bewertung einer Handlung eines Jugendlichen als «gewollt».

b) Unzweifelhaft unverhältnismässig war aber nach Auffassung des Presserates unter Opferschutzaspekten jedenfalls die Nennung folgender Sachverhaltselemente:

– dass der ältere Bruder von einem Bekannten der Familie schon anal missbraucht worden sei; – dass der ältere Bruder seinerseits mehrmals den jüngeren Bruder missbraucht und dieser schliesslich dasselbe bei einem im Haushalt lebenden fünfjährigen Mädchen versucht haben solle; – dass die beiden überall untragbar seien.

Die Richtlinie 7.4 zu Ziffer 7 der «Erklärung» weist darauf hin, dass Kinder eines besonderen Schutzes bedürfen. «Besondere Zurückhaltung ist angezeigt bei der Berichterstattung im Zusammenhang mit Kindern, sei es als Opfer, mögliche Täter/innen oder als Zeug/innen von Gewaltverbrechen». Der Presserat hat in einer Stellungnahme i.S. E. c. «Blick» (Stellungnahme 12/99 vom 15. August 1999, Sammlung 1999, S. 99ff.) darauf hingewiesen, dass bei der Berichterstattung über Unfälle auch immer an das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen zu denken ist. «Deshalb sei eine generelle Zurückhaltung bei der Wortwahl selbst dann angebracht, wenn die Betroffenen für eine breite Öffentlichkeit nicht identifizierbar sind.» Eine solche Zurückhaltung ist ganz besonders bei der Berichterstattung über Sexualdelikte zu fordern, bei denen zwei 11- bzw. 13jährige Brüder die Opfer waren. Dementsprechend ist eine Verletzung von Ziffer 7 bzw. 7.4 der Richtlinien zur «Erklärung» auch unter diesem Gesichtspunkt zu bejahen.

Darüber hinaus bestand durch die Nennung dieser Details sowie der Tatorte auch hinsichtlich der Opfer eine erhöhte Identifikationgefahr, selbst wenn diese im konkreten Fall durch die Redaktion des «Zofinger Tagblatts» verneint wird und der Presserat die Frage einer allfälligen diesbezüglichen Verletzung von Ziffer 7 der «Erklärung» mangels näherer Kenntnis der örtlichen Verhältnisse offenlassen muss.

c) Unter dem Gesichtspunkt des Opferschutzes erscheint schliesslich auch der Untertitel «Was scheusslich tönte, entpuppte sich als halb so schlimm» zumindest als problematisch. Ausgehend vom Titel«Sexuelle Handlungen mit Kindern» kann dieser Titel nicht nur in Bezu
g zum Verschulden des Täters gesetzt werden; er lässt sich auch dahingehend missverstehen, die sexuellen Handlungen mit den beiden Opfern seien als solche «halb so schlimm» gewesen.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2. Bei der Gerichtsberichterstattung muss in jedem Einzelfall ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und der Respektierung grundlegender Prinzipien wie Unschuldsvermutung, Persönlichkeitsschutz und geordnetem Gang der Rechtspflege gefunden werden. Bei Sexualdelikten ist ein ganz besonders sorgfältiges Vorgehen der Medienschaffenden erforderlich. Dies gilt in noch vermehrtem Mass, wenn Minderjährige – sei es als Opfer oder Täter – betroffen sind.

3. Die Publikumsöffentlichkeit eines Prozesses entbindet die Medienschaffenden nicht von der Respektierung der berufsethischen Pflichten. Sowohl bei der Gerichtsöffentlichkeit wie bei der Medienöffentlichkeit ist dem Schutz der Privatsphäre der Betroffenen und dem Respekt vor der Menschenwürde der Betroffenen Rechnung zu tragen. Angesichts der unterschiedlichen Tragweite von Gerichtsöffentlichkeit und Medienöffentlichkeit kann das Ergebnis dieser Abwägung im Einzelfall abweichen. Die Gerichtsberichterstattung in den Medien sollte nicht nur einen Beitrag an einen möglichst offenen gesellschaftlichen Diskurs leisten, sondern sich gleichzeitig auch durch Fairness gegenüber den Prozessbeteiligten auszeichnen.

4. Das «Zofinger Tagblatt» hat mit seiner Berichterstattung die Ziffern 7 (Richtlinie 7.6) und 8 (Richtlinie 8.1) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verletzt. Durch die Veröffentlichung von Einzelheiten aus der Privat- und Intimsphäre des Angeschuldigten, die für das Verständnis der Leserschaft nicht notwendig waren, wurde eine Identifikation des Betroffenen über das nähere Umfeld hinaus wesentlich erleichtert. Damit verbunden war die Gefahr einer Stigmatisierung des Angeklagten aufgrund seiner öffentlich gemachten psychischen Beeinträchtigung und seines Status als IV-Bezüger.

5. Das «Zofinger Tagblatt» hat durch die für das Verständnis der Leserschaft nicht notwendige Nennung von Detailangaben über Sexualdelikte, bei denen zwei 11- bzw. 13jährige Brüder die Opfer waren, die Richtlinie 7.4 zu Ziffer 7 der «Erklärung» verletzt.