Nr. 12/2004
Entstellung von Informationen / Kommentarfreiheit / Diskriminierungsverbot

(«David» c. «Tages-Anzeiger») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 26. März 2004

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I. Sachverhalt

A. Am 15. Oktober 2003 berichtete Daniel Suter unter dem Titel «Anklagen gegen eine Anklageschrift» im «Tages-Anzeiger» über eine von der PR-Beraterin Doris Fiala organisierte Veranstaltung von «David, Das Zentrum gegen Antisemitismus und Verleumdung». Thema der Veranstaltung war der bevorstehende Prozess gegen den Geschäftsführer von «David», Frank Lübke. Dieser hatte Ende November 2002 einen von 138 Personen unterzeichneten offenen Brief «an Bundesrat, Parlament, Schweizerinnen und Schweizer» verfasst, der u.a. folgende Sätze enthielt: «Die abscheulichen Attentate von Kenia sind das letzte Beispiel für die islamistisch-arabisch-palästinensischen Wahnsinns-Schlächtereien gegen die jüdisch-israelische Zivilbevölkerung. (…) Der Islam bekennt sich klar dazu, die Weltherrschaft anzustreben.» In der Folge habe ein Schweizer Bürger palästinensischen Ursprungs Anzeige erstattet, der sich durch den Zürcher Politiker und Rechtsanwalt Daniel Vischer vertreten liess. In einem danebenstehenden Kommentar mit dem Titel «Doris Fialas Flaschengeist» kritisierte Daniel Suter den «eifernden Ton» der Veranstalter, «mit dem Lübke seiner Sache politisch bisher mehr geschadet als genützt hat». Weiter führte er aus: «Doris Fiala behauptet, die Anklage gegen Lübke sei Ðein frontaler Angriff auf das grundlegende Gut unseres Rechtsstaates, auf die Meinungsäusserungsfreiheitð. Das ist nicht nur dumm, sondern auch gefährlich. Wer die Meinungsäusserungsfreiheit so weit fasst, dass sie auch Tatsachenwidriges einschliesst, der führt einen frontalen Angriff auf den Rassismusartikel im Strafgesetzbuch. Alle Antisemiten werden frohlocken: Bald – so hoffen sie – dürfen auch sie wieder frei lügen, in Auschwitz seien keine Juden vergast worden und die Zionisten strebten nach der Weltherrschaft.»

B. Am 20. Oktober 2003 reichte die anwaltlich vertretene Organisation «David» beim Presserat gegen Daniel Suter und den «Tages-Anzeiger» Beschwerde ein. Die Beschwerdeführerin rügte, der Autor habe aufgrund einer klaren politischen Intention und einer vorgefassten Meinung Fakten falsch dargestellt. Ebenso bewerte der Kommentar nicht am Anlass vermittelte Fakten, sondern greife Doris Fiala gehässig an. «Die Überschrift ÐDoris Fialas Flaschengeistð weist schon darauf hin: Es geht um eine persönliche Abrechnung.» Der Autor werfe zudem «David» vor, die Meinungsäusserungsfreiheit so weit zu fassen, dass sie auch «Tatsachenwidriges» umfassen dürfe und impliziere damit klar, dass «David» dies im fraglichen Falle tue. «Damit nimmt er eine absolut unstatthafte Vorverurteilung des Angeklagten Frank Lübke – und de facto auch aller 138 Mitunterzeichner des betroffenen Offenen Briefes – vor.» «In seiner Schluss-Offensive erliegt Suter mit seiner Argumentation einem klassischen antisemitischen Stereotyp. Quintessenz seiner Ausführungen ist: Der Jude ist selber schuld am Antisemitismus.» Insgesamt habe Daniel Suter klar gegen die Ziffern 1 (Wahrheitspflicht), 3 (Entstellung von Informationen) und 8 (Diskriminierungsverbot) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» verstossen.

C. In einer Stellungnahme vom 24. November 2003 wies die durch den Rechtsdienst der Tamedia vertretene Redaktion des «Tages-Anzeigers» die Beschwerde als unbegründet zurück.

D. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder sonstwie von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen. Das – und nicht etwa die Tatsache, dass Daniel Suter der 3. Kammer des Presserates angehört – haben das Präsidium dazu bewogen, die Beschwerde selber zu behandeln.

E. Am 27. November 2003 erklärte der Presserat den Schriftenwechsel als geschlossen und teilte den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium, bestehend aus dem Präsidenten Peter Studer sowie den Vizepräsidenten Esther Diener-Morscher und Daniel Cornu behandelt.

F. Mit Schreiben vom 9. Januar 2004 orientierte der Presserat die Parteien, dass Vizepräsident Daniel Cornu per 31. Dezember 2003 zurückgetreten und per 1. Januar 2004 durch Sylvie Arsever ersetzt worden sei.

G. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 26. März 2004 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Die Beschwerdeführerin rügt schwergewichtig eine verzerrte Darstellung der Fakten (Ziffern 1 und 3 der «Erklärung»; vgl. die nachfolgende Erwägungen Ziffer 2 und 3) sowie eine Verletzung des Diskriminierungsverbots (Ziffer 8 der Erklärung; dazu die Erwägung Ziffer 4).

2. a) Die Beschwerdeführerin macht vorab geltend, Autor Daniel Suter sei es «in der kritisierten Berichterstattung augenscheinlich nicht darum (gegangen), ein wahrhaftiges Bild der Geschehnisse des beschriebenen Anlasses (Informationsveranstaltung von «David») wiederzugeben, sondern um eine einseitige Stellungnahme gegen diese Organisation.» «Um dieses Ziel zu erreichen, setzte er falsche Fakten und unhaltbare persönliche Interpretationen.»

b) Gemäss ständiger Praxis des Presserates (Stellungnahme 3/96) kann aus der «Erklärung» keine Pflicht zu «objektiver» Berichterstattung abgeleitet werden. Deshalb geht der Vorwurf einer «einseitigen Stellungnahme» – selbst wenn man die Interpretation der Beschwerdeführerin teilen wollte – in berufsethischer Hinsicht von vornherein fehl.

Zudem gehört es nicht zu den Aufgaben des Presserates, zwischen den Parteien umstrittene Faktenbehauptungen in Medienberichten auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen (Stellungnahme 21/2003). Der Presserat ist nicht in der Lage, ein umfangreiches Beweisverfahren zur Klärung komplexer Sachverhalte durchzuführen und kann deshalb nicht näher auf die divergierenden Darstellungen der Parteien eingehen. Teilweise handelt es sich dabei ohnehin bloss um unterschiedliche Wertungen und Interpretationen derselben Sachverhalte.

Immerhin entkräftet die Redaktion des «Tages-Anzeigers» einen der gewichtigeren Vorwürfe der Beschwerdeführerin, entgegen der Berichterstattung von Daniel Suter sei die von ihm als «dumm» gewertete Äusserung – die Anklage gegen Frank Lübke sei ein frontaler Angriff gegen die Meinungsäusserungsfreiheit – an der Veranstaltung nie gefallen. Schon gar nicht stamme sie von Doris Fiala. Der von dieser PR-Beraterin offensichtlich persönlich unterzeichneten Einladung der PR-Agentur «relations & more…» vom 3. Oktober 2003 ist jedoch wörtlich zu entnehmen: «Denn: Anzeige und Anklage sind in letzter Konsequenz ein frontaler Angriff auf das grundlegende Gut unseres Rechtsstaates, auf die Meinungsäusserungsfreiheit.» Unter diesen Umständen lag es innerhalb der weit zu fassenden Grenzen der Kommentarfreiheit, diese nachweislich gemachte Äusserung als «dumm» zu bewerten.

3. a) Im Zusammenhang mit dem Kommentar unter dem Titel «Doris Fialas Flaschengeist» beanstandet die Beschwerdeführerin «David» darüber hinaus neben dem Titel insbesondere den Vorwurf, dass Doris Fiala die Meinungsfreiheit so weit fasse, dass sie auch Tatsachenwidriges einschliesse. Damit nehme der Kommentator «eine absolut unstatthafte Vorverurteilung des Angeklagten (…) vor».

b) Der «Tages-Anzeiger» entgegnet dazu, der Kommentar habe in erster Linie davor gewarnt, die Meinungsäusserungsfreiheit so weit zu fassen, dass unter ihrem Deckmantel auch Tatsachenwidriges gesagt werden darf. Zudem vertrete Daniel Suter im Gegensatz zur Beschwerdeführerin die Auffassung, dass der offene Brief Lübkes Tatsachenwidriges enthalten habe. Es sei nicht wegzudiskutieren, «dass im offenen Brief behauptet wird, Ðder Islamð (und nicht der Islamismus) bekenne sich dazu, die Weltherrschaft anzustreben». Hingegen sei es etwas ganz anderes
, ob damit auch Art. 261bis StGB (Rassismustrafnorm) verletzt worden sei. Diese Frage habe der Kommentar ausdrücklich offen gelassen.

c) Der Presserat hat in seinen Stellungnahmen zur Kommentarfreiheit wiederholt darauf hingewiesen, dass sich ein Kommentar in den Grenzen des berufsethisch Zulässigen bewegt, wenn sowohl die Wertung wie die ihr zugrundeliegenden Fakten für das Publikum erkennbar sind, und wenn sich die Wertung zudem auf eine genügende sachliche Grundlage stützt (vgl. die Stellungnahmen 3/98, 16/99, 17/00 und 29/01). Vorliegend sind sowohl die Wertung (zusätzlich auch formal durch die Aufteilung zwischen Hauptartikel und Kommentar getrennt) wie auch die ihr zugrundeliegende faktische Grundlage für die Leserschaft des «Tages-Anzeigers» klar erkennbar. Insbesondere wurden die im Zusammenhang mit dem Strafverfahren offenbar wichtigsten Passagen aus dem offenen Brief von Frank Lübke und insbesondere der umstrittene Satz «Der Islam bekennt sich klar dazu, die Weltherrschaft anzustreben» im Artikel zitiert. Überdies weist der Kommentar mit dem Satz «Ob er auch gegen die Rassismus-Strafnorm verstossen hat, wird im Dezember vom Richter zu entscheiden sein» zudem ausdrücklich auf das noch hängige Strafverfahren hin. Deshalb kann von einer unzulässigen Vorverurteilung offensichtlich nicht die Rede sein.

4. Soweit die Beschwerdeführerin schliesslich behauptet, Quintessenz der Ausführungen von Daniel Suter sei «Der Jude ist selber schuld am Antisemitismus», womit Ziffer 8 der «Erklärung» (Diskriminierungsverbot) verletzt werde, ist diese Rüge offensichtlich unbegründet. Eine derartige Interpretation ist aus Sicht des unbefangenen Lesers unhaltbar. Denn der Autor weist in seinem Kommentar einzig darauf hin, dass aus seiner Sicht eine gefährliche Parallele in der Argumentation der Beschwerdeführerin «David» und der rassistisch und antisemitisch motivierten Gegnerschaft der Antirassismusstrafnorm besteht.

III. Feststellung

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.