Nr. 34/2004
Buchbesprechungen

(X. c. «NZZ am Sonntag») Stellungnahme des Schweizer Presserates vom 17. Juni 2004

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I. Sachverhalt

A. Am 8. Februar 2004 veröffentlichte die «NZZ am Sonntag» eine Buchbesprechung von Urs Rauber mit dem Titel «Kratzer am Denkmal des Flüchtlingsretters». Gegenstand war die von Shraga Elam verfasste, 2003 in der Schriftenreihe der «rechtsbürgerlichen Vereinigung Pro Libertate» erschienene Broschüre «Paul Grüninger – Held oder korrupter Polizist und Nazi-Agent?». In seiner Buchkritik führt Rauber aus, Elam untermauere seine Interpretation mit harten Dokumenten. «Er trägt starke Indizien zusammen, die zeigen, dass Grüninger Ðbei der illegalen Einreise von Flüchtlingen Geld kassierteð (…) Zweitens belegt Elam, dass Grüninger mit verschiedenen deutschen Nazis und Gestapo-Leuten eng zusammenarbeitete (…) Schliesslich deckt Elam auf, dass Grüninger wahrscheinlich Mitglied, sicher aber Sympathisant der 1940 verbotenen frontistischen Nationalen Bewegung der Schweiz (NBS) war. Entsprechend hart fällt sein Verdikt aus: ÐPaul Grüninger war ein Polizist, der im Dienst der Nazis stand.ð Diese für Aussenstehende irritierende, aber plausible Deutung des Falles ist erst durch Klärung eines weit verbreiteten Missverständnisses möglich: In den dreissiger Jahren wollten die Nazis die Juden Ðnurð vertreiben, während nach Kriegsausbruch und Wannseekonferenz (1942) die Vertreibungs- offiziell in eine Vernichtungspolitik überging. (…) Insofern lagen Paul Grüningers Judenrettungen zweifellos im Interesse Nazideutschlands, während sich die offizielle Schweiz – und mit ihr führende Exponenten des Schweizerischen Isrealitischer Gemeindebunds (SIG) – im Herbst 1938 der Aufnahme weiterer jüdischer Flüchtlinge widersetzten. Auch diese Fakten hat die Bergier-Kommission in ihrem Bericht in wissenschaftlich unzulässiger Weise heruntergespielt.»

B. Am 24. Februar 2004 erhob X. gegen diese Buchkritik, in der Paul Grüninger als Nazi-Agent und korrupter Polizeibeamter hingestellt worden sei, Beschwerde beim Presserat. «Der Artikel wurde im Sinn einer Beipflichtung einer ÐRechercheð (…) abgefasst. Dabei wurden auch unsere heutigen Historiker als unsauber Recherchierende beschimpft. Ähnliche, sich wiederholende Kampagnen sind bei der NZZ generell an der Tagesordnung.»

In einer Beschwerdeergänzung vom 3. März 2004 rügte X. die Ziffern 3, 5 und 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» als verletzt. Der Buchkritiker unterschlage die Anzahl der von Grüninger geretteten Juden, welche gemäss israelischen amtlichen Angaben bei 3600 liege. Die von Shraga Elam aufgestellten Behauptungen zu Paul Grüningers Motiven seien zudem nicht neu und absolut falsch. «Paul Grüninger war kein korrupter Polizist und stand nicht im Dienst der Nazis. Die NZZ hat die zweifelhaften Daten von Shraga Elam vorsätzlich zu einer Verleumdung Grüningers und zu ungerechtfertigten Anschuldigungen gegen die Bergier-Kommission und die heutigen Schweizer Historiker benutzt.»

C. In einer Stellungnahme vom 11. März 2004 wies der Redaktionsleiter der «NZZ am Sonntag», Felix E. Müller, die Beschwerde als unbegründet zurück. Urs Rauber habe in der Ausgabe vom 15. Februar 2004 «eine Broschüre über den Flüchtlingshelfer Paul Grüninger rezensiert, die von Shraga Elam verfasst und der Vereinigung Pro Libertate herausgegeben wurde. Die Herausgeberschaft wurde im Artikel korrekt als Ðrechtsbürgerliche Vereinigungð charakterisiert. (…) Die journalistische Form der Rezension will keine selbständige, recherchierte Auseinandersetzung mit einem Thema sein, sondern den Inhalt eines Buches möglichst genau wiedergeben – meist mit einer Wertung verbunden. Dies hat Urs Rauber getan. (…) Dass die Zahl der von Paul Grüninger geretteten Juden im Rahmen einer Buchbesprechung nicht genannt wird – wie viele andere Zahlen und Daten – hat nichts mit ÐUnterschlagungð zu tun, sondern mit der legitimen Auswahl von Fakten, Behauptungen und Meinungen, die ein Rezensent im Rahmen einer Buchbesprechung von knapp 100 Zeilen wiedergeben und bewerten will. (…) Dass die Ausführungen Shraga Elams zu Paul Grüninger Ðabsolut falschð seien, ist eine freie Behauptung von Herrn X. (…) Wie auch immer man sich zu Elams Interpretationen stellt, sind diese Gegenstand einer historischen Auseinandersetzung, die weder abgeschlossen noch entschieden ist, wie der Verfasser des Grüninger-Buches, Stefan Keller, aus Eigeninteresse behauptet.»

D. Das Presseratspräsidium übertrug die Beschwerde zur Behandlung der 3. Kammer, der Esther Diener-Morscher als Präsidentin sowie Judith Fasel, Gina Gysin, Peter Liatowitsch, Roland Neyerlin, Daniel Suter und Max Trossmann als Mitglieder angehören.

E. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 17. Juni 2004 und auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Es ist weder die Aufgabe des Presserates, noch verfügt er über die dazu notwendigen Mittel und Instrumente, zu historischen Kontroversen Stellung zu nehmen. Dementsprechend äussert sich die vorliegende Stellungnahme weder zu den von Shraga Elam in seiner Broschüre vertretenen Thesen, noch zu der daraus entstandenen öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Historiker Stefan Keller und Exponenten der Bergier-Kommission. Zu prüfen hat der Presserat deshalb einzig, ob die Buchbesprechung von Urs Rauber in der «NZZ am Sonntag» die Grenzen der Kommentarfreiheit überschritten und ob die Weglassung der «amtlichen» israelischen Zahl der von Paul Grüninger geretteten Juden Ziffer 3 der «Erklärung» (Unterschlagung wichtiger Informationselemente) verletzt hat.

2. Buchbesprechungen sind Teil der Kulturberichterstattung. Ebenso wie der Theater- und der Konzertkritik ist auch der Buchkritik ein grosser Spielraum einzuräumen. Danach sind auch subjektive Wertungen mit den berufsethischen Pflichten vereinbar, sofern die Wertungen für das Lesepublikum ebenso erkennbar sind wie die ihnen zugrundeliegenden Fakten (vgl. hierzu die Stellungnahmen 30 und 44/01).

3. Aus dem Artikel von Urs Rauber geht hervor, dass Shraga Elam Paul Grüninger bereits 1998 nicht nur eine nazifreundliche Gesinnung, sondern zudem auch vorgeworfen hatte, im Interesse der Nazis und zu seinem eigenen Vorteil gehandelt zu haben. Ebenso ist der Vorwurf an Stefan Keller und an Exponenten der Bergier-Kommission als Wertung Raubers erkennbar, wonach diese die Thesen Elams ignorierten, weil sie nicht ins Bild des anständigen und uneigennützigen Flüchtlingshelfers gepasst hätten. Ebenso sind die weiteren Wertungen des Rezensenten («harte» Dokumente, «starke Indizien, «wissenschaftlich unzulässigerweise heruntergespielt») für die Leserinnen und Leser als solche ersichtlich. Deklariert wird für die Leserschaft schliesslich auch, welcher politischen Ecke die Herausgeberin der Broschüre Elams zuzuordnen ist («rechtsbürgerliche Vereinigung Pro Libertate»). Insgesamt sind die vom Presserat definierten Anforderungen an eine kommentierende Berichterstattung erfüllt, weshalb weder eine Unterschlagung wichtiger Informationselemente noch ein Verstoss gegen das Gebot sachlich ungerechtfertigter Anschuldigungen festzustellen ist.

4. Der beanstandete Artikel enthält unbestrittenermassen keine genauen Angaben über die Anzahl der von Paul Grüninger geretteten Juden. Der Rezensent schreibt global von mehreren hundert Juden, die Grüninger illegal in die Schweiz einreisen liess. Demgegenüber beruft sich der Beschwerdeführer auf eine «amtliche» israelische Quelle, wonach die effektive Zahl 3600 Gerettete betrage. Abgesehen davon, dass der Presserat aufgrund der ihm vorliegenden Unterlagen nicht zu beurteilen mag, welche Betrachtungsweise zutreffend ist, war diese Zahl jedenfalls im Zusammenhang mit der Besprechung der Broschüre Elams nicht derart wichtig, dass ihre Weglassung als Verletzung von Ziffer 3 der «Erklärung» zu rügen wäre. Im Zentrum der neu aufgeflammten Kontroverse steht nämlich nicht die
genaue Zahl der geretteten Flüchtlinge, sondern die Motivlage des Polizeihauptmanns Grüninger, wie sie Elam im Gegensatz zu den meisten Fachhistorikern behauptet.

III. Feststellung

1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

2. Der Rezension von Büchern ist ebenso wie der Theater- und Konzertkritik ein grosser Spielraum einzuräumen. Deshalb sind selbst äusserst subjektive Wertungen mit den berufsethischen Pflichten vereinbar, sofern diese Wertungen für das Lesepublikum ebenso erkennbar sind wie die ihnen zugrundeliegenden Fakten.