Nr. 1/1998
Bilder zu sexueller Gewalt

(SJU-Frauenrat c. „FACTS“) Stellungnahmevom 20. Februar 1998

Drucken

I. Sachverhalt

A. Das Nachrichtenmagazin „Facts“veröffentlichte in seiner Ausgabe vom 20. März 1997 eine Titelgeschichte zum Thema sexueller Missbrauch von Kindern. Auf der Titelseite lautete der Titel: „Porno-Objekt Kind; der organisierte Missbrauch; das Schweizer Pädophilen-Netz“. Die Foto über der ganzen Tielseite zeigt Ober- und Unterkörper eines nur mit einer Unterhose bekleideten Kindes, die Hand eines hinter ihm stehenden Mannes greift in die Unterhose. Der Titel im Innern der Zeitschrift lautet: „Dreckige Deals mit Kindern“; das Foto der Titelseite wird nochmals gezeigt, weiter werden neben den Aufnahmen von drei Kinderschändern, dem Haus eines Bieler Ehepaars und einem Studio für die Aufnahme von Kinderpornos vier Bilder mit Kindern aus Pornovideos und drei Pornobilder aus dem Internet gezeigt. Auf den Pornovideo-Bildern sind die Gesichter zugedeckt respektive nicht erkennbar, die Geschlechtsteile abgedeckt. Auf den Internet-Bildern sind die Gesichter klar erkennbar. Der Text beschreibt sachlich verschiedene Fälle sexueller Ausbeutung von Kindern und das Wirken von Pornohändlern. Zusätzlich zum Text ist ein Interview mit Stefan Studer, Informationsbeauftragter bei Terre des Hommes und Co-Autor einer Studie über die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern in der Schweiz, abgedruckt.

B. Am 10. April 1997 wandte sich der Frauenrat der Schweizerischen Journalistinnen- und Journalisten-Union (SJU) mit einem von Frau Dore Heim, Frauensekretärin, unterzeichneten Schreiben wegen der Titelfoto und der Bebilderung des „Facts“-Artikels an den Presserat. In dem Schreiben heisst es, das Thema sei in dem Artikel „gut aufbereitet“gewesen, „frappierend“sei jedoch seine bildliche Umsetzung: „Für das Titelfoto wurde eine Übergriffsszene im Studio nachgestellt, deren bildliche Aussage das darstellt, was sie vorgibt zu verurteilen, nämlich die Lust am Missbrauch eines Kindes. (…) Die offenkundige Sensibilität im Umgang mit dem Thema, so wie es der Text zum Ausdruck bringt, wird schlicht konterkariert durch die Aussage der Bilder. Der gesamte Artikel wird ‘garniert’ mit Auszügen aus Pornovideos und Pornos aus dem Internet, sozusagen umrahmt von pornographischen Darstellungen.“Der Frauenrat der SJU erachtet, wie es in dem Schreiben heisst, die „Ästhetisierung des Übergriffs im Titelfoto“als „pornographisch“. Eine Berichterstattung über sexuelle Gewalt und Missbrauch an Kindern, „die den Missbrauch abbildet“, ohne sich für die Leserinnen und Leser sichtbar „mit dem Zielkonflikt (Information, Aufklärung contra Voyeurismus, Attraktion) auseinanderzusetzen, verstösst gegen die berufliche Ethik der Medienschaffenden“. „‘Das Recht der Öffentlichkeit darauf, die Wahrheit zu erfahren’wird im vorliegenden Fall zum Zweck der Sensation und Auflagensteigerung instrumentalisiert.“Es sei, so schreibt der Frauenrat der SJU, Kriterien der Menschenwürde, des Schutzes der Opfer und der Verhältnismässigkeit Genüge zu tun. Im vorliegenden Fall sei „keines dieser Kriterien beachtet“worden. Die „Erklärung der Pflichten und Rechte“ weise hier Lücken auf, die „dringendst behoben“werden sollten.

C. Das Präsidium des Presserates beschloss, auf das Schreiben des Frauenrats der SJU einzutreten und es zur Behandlung an die 3. Kammer zu überweisen. Dieser gehören an: Vizepräsident Reinhard Eyer, Catherine Aeschbacher, Marie-Therese Larcher, Adi Kälin und Christian Schwarz. Die 3. Kammer beschäftigte sich an ihren Sitzungen vom 11. Juni, 21. August, 20. November 1997 und 29. Januar 1998 mit dem Schreiben des Frauenrats.

D. Am 1. Mai und am 12. Juni 1997 bat Presseratssekretär Martin Künzi „Facts“-Chefredaktor Jürg Wildberger um eine Stellungnahme zu den vom Frauenrat der SJU erhobenen Kritiken und Fragen. Wildberger antwortete am 27. Juni, die Illustration eines Berichts über Kindsmissbrauch sei „naturgemäss eine Gratwanderung“. Da „in diesem Umfeld teilweise kaum vorstellbare Widerlichkeiten“ vorkämen und auch über Internet und Videos, „also per Bild“, verbreitet würden, halte er es für richtig, „die Realität nicht nur zu beschreiben, sondern auch abzubilden“. Die Grenzen lägen dort, wo die Bilder ins Voyeuristische abglitten – „diese Grenze hat Facts eindeutig respektiert.“Das Titelbild sei eine Studioaufnahme; gerade weil die Szene offensichtlich erkennbar nachgestellt sei, stelle das Foto nicht die Lust am Missbrauch szenisch dar, sondern deute das Problem lediglich an. Das Titelbild sei nicht pornographisch. Jürg Wildberger antwortet weiter, „selbstverständlich“sei eines der Hauptziele seiner Zeitschrift, gekauft zu werden. „Nicht nur bei Facts dient die Aufmachung eines Artikels auch dazu, die Leserschaft zu interessieren, sie in den Artikel hereinzuholen. Was daran zum vorneherein verwerflich sein soll, ist nicht einzusehen.“ „Facts“ habe aber bewusst darauf verzichtet, aus dem ihm zur Verfügung stehenden Bildmaterial „Härteres“zu zeigen; auch seien die Genitalbereiche per Computer verfremdet worden. Er weise den Vorwurf, seine Zeitschrift reproduziere den Missbrauch und die Gewalt, „in aller Schärfe“zurück. Kindmissbrauch verletze ohne Zweifel die Menschenwürde, doch müsse es zulässig sein, „mit Bildern auf diese Realität hinzuweisen“. Die Auswahl der Bilder sei „sehr zurückhaltend“getroffen worden. Die meisten Fotos zeigten den Kopf der Opfer nicht, die Bilder zum Thema Internet-Sex seien computerproduziert. Die Anzahl der Bilder sei nicht unverhältnismässig gewesen. Wildberger betont, „Facts“ habe somit mit der Bebilderung des Themas keine Regeln journalistischer Ethik verletzt.

E. Zu den Fragen der Wirkung von Bildern im Gegensatz zum geschriebenen Wort und der Bebilderung heikler Themen befragte die 3. Kammer an ihrer Sitzung vom 21. August 1997 Prof. Dr. Christian Doelker vom Pestalozzianum Zürich, Autor des Buches „Ein Bild ist mehr als ein Bild“, und Dr. Bernd Niebuhr, Chef der Bildredaktion der „Berner Zeitung“.

Prof. Doelker legte zunächst vier Thesen zu den Besonderheiten von Wort und Bild dar: 1. Das Bild ist konkret, das Wort ist abstrakt; 2. das Bild ist dem Raum zugehörig; 3. die emotionale Wirkung des Bildes ist unmittelbarer als beim Wort; 4. das Bild ist in seiner Bedeutung offen, das Wort ist festgelegt. Doelker sagte weiter, es gebe kein Wörterbuch für Bilder, keine Übersetzungsbücher der Wortsprache in Bildsprache. Das Wort werde gegenüber dem Bild überbewertet. Um ein Bild zu verstehen, brauche es eine umfassende Betrachtungsweise, müsse es im gesamten Kontext gesehen werden. Die abgebildete Wahrheit sei nur eine relative; was einmal so war, sei heute vielleicht nicht mehr so. Ein Bild dürfe nicht isoliert betrachtet werden. Empirische Forschungen hätten allerdings aufgezeigt, dass die durch ein Bild hervorgerufene emotionale Wirkung im Gedächtnis haften bleibe, während die aus einer Information gewonnene Erkenntnis vom Zuschauer rasch vergessen werde. Doelker betonte, ein Bild sei notwendig, wenn es eine über den Text hinausreichende Leistung erbringe. Entscheidend sei immer die Gesamtleistung, also die Kombination von Text und Bild. Die ethischen Regeln, welche für die Texte gelten, gälten mutatis mutandis auch für Bilder.

Zur Problematik von Bildern, wie sie im „Facts“-Artikel gezeigt werden (keine Köpfe, verfremdete Geschlechtsorgane, Internet-Fotos, Pornovideos, Studioaufnahme), sagte Prof. Doelker, letztlich komme es darauf an, ob die Menschenwürde gewahrt werde. Dabei sei im Einzelfall die Grenze oft schwierig zu ziehen. Ausgenommen den Aspekt des Persönlichkeitsschutzes sei es allerdings keine Lösung, zum Beispiel den Kopf abzudecken. Menschenwürde könnte nämlich gerade auch sein, das Gesicht zu zeigen.

Auch die Verwendung schwarzer Balken zur Abdeckung bestimmter Elemente auf einem Bild sei keine Lösung, da das Zensur
sei. Zur Abgrenzung von Aufklärung und Effekthascherei sei es aber zum Beispiel möglich, mit Bildabschwächung (z.B. schwarz-weiss, weniger nah) die Bildwirkung einzuschränken. Der journalistische Zweck, bestimmte Fakten zu belegen, werde damit immer noch erfüllt. Ein gestelltes Bild (Studioaufnahme) müsse in jedem Fall als solches deklariert werden. Gestellte Bilder seien aber problematisch, weil sie die Trennung zwischen Dokumentation und Fiktion verwischten; zudem gelte auch hier, dass die Wirkung des Bildes länger anhalte als der relativierende Text, wonach das Bild eine gestellte Aufnahme sei. Zu computerproduzierten Bildern sagte Doelker, er lehne die Verwendung solcher Bilder ab. Der Leser könne sich auch ohne Verwendung solcher Bilder etwas vorstellen, ohne zu falschen Vorstellungen zu kommen. Das Problem bei den computergestützten Bildern sei, dass die technischen Möglichkeiten der Digitalisierung auf geistiger Ebene noch nicht vollzogen seien.

Die Ausführungen von Prof. Doelker enthielten zusammenfassend folgende Feststellungen: – Durch das Bild werde mehr transportiert als durch das Wort. Das Bild sei direkter, ganzheitlicher. – Das Bild sei unentrinnbar. „Ich kann nicht lesen, aber dem Sehen entgehe ich nicht.“Was ich sehe, das glaube ich. – Nachgestellte Bilder erlaubten Beliebigkeit; sie könnten somit verniedlichen. Bilder hätten bisher Wirklichkeit belegt, könnten also auch eine Lüge im Wort decouvrieren; mit der Digitalisierung falle dies weg. Ein digitalisiertes Foto sei nicht mehr Realität, es verliere somit an Beweiskraft. – Die Leserin, der Leser dürfe nicht geringgeschätzt werden. Aus den drei Grundfragen der Philospohie – was ist wahr? was ist schön? was ist gut? – sei aus der Frage „was ist gut?“die Pflicht abzuleiten, sich immer zu fragen, was gegenüber dem Publikum verantwortbar sei.

Dr. Bernd Niebuhr, Bildchef der „Berner Zeitung“, führte in der Befragung aus, er plädiere dafür, die Realität abzubilden, was aber nicht unbedingt bedeute, das brutalste Bild zu publizieren. In jedem Fall sei der Schutz der Persönlichkeit der direkt Betroffenen zu respektieren. Auch sei darauf zu achten, was der Leserschaft zugemutet werden könne. Er habe die Erfahrung gemacht, dass städtische Leser weniger schnell schockiert seien als ländliche. Zudem gelte, dass je näher die Leser beim Geschehen seien, desto betroffener seien sie. Niebuhr sagte, er überlege sich stets zuerst, ob er selber das Bild sehen möchte, und ob die Leser dieses Bild zu sehen wünschten. Es gebe aber keine messerscharfen Grenzen, was ethisch zulässig sei und was nicht. Überlegungen würden aber immer dann angestellt, wenn ein Bild stutzig mache. Letztlich gehe es darum, Realität abzubilden, ohne dabei unnötig zu verletzen.

Niebuhr führte im weitern drei Funktionen des Bildes an: Informationsfunktion, Layoutfunktion, Unterhaltungs-/emotionale Funktion. Es gebe Bilder, die ohne Text auskämen (z.B. das sogenannte Seite-Drei-Girl). Rational sei aber die These, wonach ein Text durch Bilder kaputtgemacht werde, kaum zu begründen. Wenn Bilder allerdings emotional stark aufrüttelten, sei eine entsprechende Reaktion psychologisch verständlich. Farbbilder hätten eine wesentlich stärkere emotionale Wirkung als Schwarz-Weiss-Bilder. Im konkreten Fall würden Text und Bilder von einem gemischten Publikum wahrgenommen, weshalb eine – zwar nicht nachzuweisende – verkaufsfördernde Intention bei der Bildauswahl naheliege. Zur Verdeutlichung der Textaussage hätten eventuell ein bis zwei Bildbeispiele genügt.

Auf der Titelseite einer Zeitschrift brauche es in jedem Fall ein Bild. Bei gestellten Fotos müsse aber in der Bildlegende deklariert werden, dass sie gestellt seien. Computerproduzierte Bilder müssten stets als Montage gekennzeichnet werden. Täuschend echte Montagen sollten nicht verwendet werden, da das dokumentarisch verwendete Bild trotz aller heutigen technischen Möglichkeiten immer noch halbwegs den Anschein von Objektivität habe. Er sehe keinen Sinn darin, den Computer zu verwenden, um Realität nachzuahmen.

II. Erwägungen

1. Zur Beurteilung der vom Frauenrat der SJU erhobenen Rügen ist aus der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“zunächst die Präambel heranzuziehen, welche das Recht der Öffentlichkeit auf Kenntnis der Tatsachen und Meinungen, aber auch den Vorrang der Verantwortlichkeit der Medienschaffenden gegenüber der Öffentlichkeit herausstreicht. Weiter kommen Ziffer 1 der Erklärung („Die Journalistinnen und Journalisten … lassen sich vom Recht der Öffentlichkeit leiten, die Wahrheit zu erfahren.“), Ziffer 3 („… Sie bezeichnen unbestätigte Meldungen und Bildmontagen ausdrücklich als solche.“) Die „Erklärung der Pflichten und Rechte“enthält jedoch keine Punkte, die sich explizit zu „Menschenwürde“und „Pornographie“äussern; daher fällt es dem Presserat teilweise schwer, auf gewisse vom Frauenrat der SJU aufgeworfene Fragen einzutreten.

2. Prof. Doelker sagte im Hearing, das Bild sei unentrinnbar. Ein Bild zeigt einen bestimmten Augenblick der Realität, hält genau diesen einen Moment fest, erfasst, so weit es das gewählte Objektiv erlaubt, alle Facetten dieses einen Moments. Es ist konkret, direkt, genau – und ist dennoch, wie Doelker ausführte, in seiner Bedeutung offen. Das heisst: Es lässt Interpretation zu, es kann die Phantasie anregen, Diskussionen auslösen, Zustimmung oder Abscheu provozieren, Lächeln oder Traurigkeit auslösen, ein unglaubhaft wirkendes Faktum durch seine Abbildung Realität werden lassen. Aber es ist immer nur dieser eine Moment; morgen schon kann das, was gezeigt wird, anders sein.

Das Wort hingegen ist abstrakt. Aber ein Wort kann auch mehrere Bedeutungen haben, je nachdem wann, wie und wo es eingesetzt wird. Und die Bedeutung kann im Laufe der Zeit, der sprachlichen Entwicklung, der Moden ändern. Das heisst, die Festlegung ist einerseits nicht für eine oder ein paar Bedeutungen unumstösslich, anderseits nicht ein für alle Mal festgeschrieben. Auch das Wort lässt somit Interpretation zu, kann die Phantasie anregen, Diskussionen auslösen, Zustimmung oder Ablehnung provozieren. Es kann verständlich machen, einordnen, aufschlüsseln, analysieren, kommentieren – über den Moment hinaus.

Dem Bild können wir nicht entgehen. Wir können darüber hinwegsehen, aber das Bild, zumal dann, wenn es ein starkes, aussagekräftiges Bild ist, wenn es ein aufwühlendes Ereignis, ein schockierendes Faktum zeigt, wird uns früher oder später einholen. Ein Bild prägt sich zunächst oft mehr als Worte in den Köpfen ein. Denn über Worte können wir leicht hinweglesen; und später lesen oder nochmals lesen erfordert eine intellektuelle Anstrengung. Starke Worte werden, wenn sich die Erkenntnis einmal im Kopf festgesetzt hat, länger nachwirken als die durch das Bild ausgelöste Emotion – ausgenommen es sei ebenfalls ein starkes Bild. Starke Bilder aber sind rar.

3. Wäre somit das Wort aufs Ganze besehen in seiner Bewertung über das Bild zu stellen? Letztlich braucht es beide, das Wort und das Bild, manchmal das eine mehr, manchmal das andere, manchmal die Ergänzung des einen zum andern.

Jedoch: Die Menschen sehen heute immer mehr und immer lieber. Sie leben in einer Welt der Bilder: Augenmenschen in einer Bildergesellschaft. Die Wirklichkeit ist bild-haft geworden. Dem Druck nach vermehrter Visualisierung eines Ereignisses, eines Themas, diesem vom Fernsehen ausgelösten Druck (damit wollen wir keine Wertung verbinden, sondern nur festellen), kann heute keine Zeitung entgehen, schon gar nicht ein Magazin oder eine Zeitschrift, bei der das Publikum Visualisierung – Bilder – erwartet. Das Bild steht heute für das Publikum oft im Vordergrund; immer mehr ist es für die Leserschaft Einstieg auf eine Seite, dies in jedem Fall bei einer Zeitschrift/Nachrichtenmagazin. Das Bild ist somit bedeutend höher zu werten als früher.

4. Angesichts der Erwartungshaltung des Publikums stellt sich für die Medi
enschaffenden hinsichtlich des Umgangs mit Bildern zum einen die Frage nach der Notwendigkeit, zum andern nach der Verhältnismässigkeit und zum Dritten nach der Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit, wie sie in der Präambel der „Erklärung der Pflichten und Rechte“festgehalten ist („Die Verantwortlichkeit der Journalistinnen und Journalisten gegenüber der Öffentlichkeit hat den Vorrang vor jeder anderen.“).

So wie sich die Medienschaffenden angesichts der Fülle von Informationen fragen muss: „Was muss das Publikum wirklich wissen? Was soll es wissen?“, so müssen sie sich heute ebensosehr fragen: „Was muss es sehen? Was soll es sehen?“. Dies gilt für Zeitungen und Zeitschriften und das Fernsehen im gleichen Mass. Wenn eine Zeitschrift oder ein Magazin zum Zweck der Auflagesteigerung beim Auswählen der Bilder weniger streng vorginge, weil sie sich auf die Erwartung des Publikums nach Bildern abstützt, so stünde dies in krassem Gegensatz zu der auch für sie geltenden Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit.

Bereits in seiner Stellungnahme vom 20. Februar 1991 zu einem Artikel der „Schweizer Illustrierten“über die neue Droge „Free Base“schrieb der Presserat: „Der Journalist hat nicht nur eine Informationspflicht, er hat die Information gegenüber der Gesellschaft auch zu verantworten.“Zu fragen sei jeweils auch, ob das Recht auf Information schwerer wiege als die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Eine Publikation, die ein Gefahrenpotential enthalte, müsse „mindestens durch ein ebenbürtiges Bedürfnis der Gesellschaft nach dieser Information aufgewogen werden“.

5. Das Recht der Öffentlichkeit auf Information, auf Kenntnis der Tatsachen und Meinungen, das Recht auch, die Wahrheit zu erfahren (wie sie in der Präambel und in Ziffer 1 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“stipuliert werden), bedeutet, dass die Öffentlichkeit lesen und/oder sehen kann, wie die Wirklichkeit ist. Wie weit aber muss die Wirklichkeit nicht nur beschrieben, sondern auch bildlich gezeigt werden? Wieviele Bilder braucht es, wenn es denn die bildliche Darstellung der Wirklichkeit braucht? Muss das Schreckliche überhaupt im Bild gezeigt werden? Wann ist ein Bild nicht mehr Information, sondern Voyeurismus, Effekthascherei, Stillung von Sensationslust? Wäre ein „schlimmes“Bild weniger schlimm als drei oder vier „schlimme“Bilder zu einem Thema?

Und wie verhält es sich mit der Verwendung bildlich nachgestellter Szenen? Wie mit der Verwendung computergestützter Bilder? Wann ist ihre Verwendung zu rechtfertigen? In seiner Stellungnahme vom 2. August 1996 über die Arbeitsbedingungen von Pressefotografen schrieb der Presserat: „In einer Zeit, in der Bilder einen immer höheren Stellenwert in den Medien geniessen, darf den (Text-)Redaktionen nicht gleichgültig sein, unter welchen Bedingungen die Bilder entstehen.“

6. Bei heiklen Bildern zu heiklen Themen sollten sich Medienschaffende stets fragen: Was ist verantwortbar? Das heisst, wie Prof. Doelker es formulierte: bedenken, was man anrichtet. Doch was und wer entscheidet, ob ein Bild verantwortbar ist oder nicht? Menschenwürde und Persönlichkeitsschutz sind dabei die beiden Hauptkriterien.

Sexueller Missbrauch von Kindern ist unerträglich, grausam und in höchstem Mass verwerflich. Gleichzeitig aber ist er eine Realität. Es wäre falsch und führte zu nichts, dies zu verheimlichen. Es erscheint somit verständlich, dass in der bild-haft gewordenen Wirklichkeit diese Realität als Ergänzung zu einem sachlichen Text gezeigt wird. „Facts“ hat die Bilder nicht in einem effekthascherischen Sinn, nicht mit voyeuristischer Absicht ausgewählt. Stellten die Bilder eine Anleitung zu solch verwerflichem Handeln dar, wie sexueller Missbrauch von Kindern es ist, reizten sie zur Nachahmung, so wären sie klar abzulehnen. Dies tun sie aber im vorliegenden Fall nicht. „Facts“ bemühte sich bei der Auswahl der Bilder – mit einer Ausnahme, von der noch zu reden sein wird – um Wahrung von Menschenwürde und Persönlichkeitsschutz. Die Bilder ergänzen den Text, sie dokumentieren. Wohl aber hätten zu dieser Dokumentierung, zur Verdeutlichung der Textaussage ein oder zwei Bilder genügt. Bei sensiblen Themen sind Bilder mit grösster Zurückhaltung einzusetzen. Die Vorsicht, das Abwägen, die Zurückhaltung, deren sich Medienschaffende bei der schriftlichen Behandlung heikler Themen zu befleissigen haben, gilt auch gegenüber dem Bild. Die beabsichtigte Wirkung – Textergänzung und Dokumentation – geht verloren, wenn sie übertrieben wird. Es könnte dann nämlich der Eindruck entstehen, es sei bei der Anzahl der Bilder nicht der Zweck der Dokumentation im Vordergrund gestanden. Das „Hereinholen“der Leserschaft per Bilder, wie es „Facts“ im Grundsatz verständlicherweise anführt, darf gerade bei sensiblen Themen nicht das einzige Argument sein, auch nicht bei einer Zeitschrift/Nachrichtenmagazin. Die in der Präambel der „Erklärung der Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“angesprochen Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit gilt auch punkto Bilder.

Bei heiklen Bildern sollten Redaktorinnen und Redaktoren, die über die Auswahl entscheiden, ebenso Kolleginnen und Kollegen in der Redaktion gegenfragen wie sie ihre Texte zum Gegenlesen geben, um Fehler auszuschalten. Im übrigen wäre es wünschenswert, in der journalistischen Ausbildung und auch bei der täglichen Medienarbeit – zum Beispiel durch Diskussion im Redaktionskollegium – das Wissen um die Gesamtzusammenhänge zwischen Bild und Wort zu erweitern und zu schärfen.

7. Das Internet ist längst Teil der Wirklichkeit geworden. Sexueller Missbrauch von Kindern ist heute über Internet leider auch öffentlich zu – horribile dictu – „besichtigen“. Computerproduzierte Bilder bilden, so sagte Prof. Doelker, nicht mehr Realität ab, verlieren damit an Beweiskraft. Und sie können zu falschen Vorstellungen führen. Es ist nicht einzusehen, weshalb computerproduzierte Fotos eingesetzt werden sollen, um eine Realität, die man für abscheulich hält, nachzuahmen. Der Dokumentations-Effekt ist in diesem Fall überhaupt nicht mehr vorhanden. Was da wirklich noch gezeigt werden muss oder soll, ist nicht ersichtlich. „FACTS“ hat allerdings nicht selber Computerbilder produziert, sondern die Realität des Internet dokumentiert – was – mit der gebotenen Zurückhaltung (vgl. oben unter Ziff. 6 der Erwägungen) – berufsethisch zulässig ist.

Wer computerproduzierte Bilder veröffentlicht, sollte diese jedoch ausdrücklich als solche kennzeichnen. Computergestützte Bilder sind eine Art von Montage, jedenfalls etwas anderes als das übliche per Kamera hergestellte Foto. Bildmontagen sind laut Ziffer 3 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten““ausdrücklich als solche“zu „bezeichnen“. „Facts“ wies zwar mit der Titelzeile der Legende – „Internet-Sex“- darauf hin, dass es sich um Bilder aus dem Internet handelt, unterliess aber den ausdrücklichen Hinweis, dass es sich um computerproduzierte Bilder handelt. In diesem Punkt hat „Facts“ somit der journalistische Sorgfaltspflicht nicht Genüge getan.

8. Dasselbe gilt auch für das Titelbild. „FACTS“ gibt an keiner Stelle an, dass es sich um eine gestellte Aufnahme (Studioaufnahme) handelt. Wohl kann die Leserschaft aus der Art der Aufnahme schliessen, dass sie gestellt ist. Die journalistische Sorgfaltspflicht erforderte jedoch, dass dies auch ausdrücklich deklariert wird. Denn auch eine Studioaufnahme ist eine Montage – Montage der Wirklichkeit, bei der überdies für die Betrachterin/den Betrachter die Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion gefährlich verwischt wird.

Eine Studioaufnahme mit Menschen zu einem höchst sensiblen Thema ist grundsätzlich bedenklich. Sie ist in ihrer Art eine Manipulation. Das heisst: Personen mussten aktiv werden in einer Sache, die als höchst widerlich, abstossend, grausam und verwe
rflich zu beurteilen ist. Es ist zu fragen, ob bei den für das „FACTS“-Titelbild als Modell eingesetzten Personen, insbesondere dem Kind, die Menschenwürde geachtet wird. Angesichts der Verwerflichkeit des sexuellen Missbrauchs von Kindern ist diese Frage zu verneinen.

Das „FACTS“-Titelbild ist zudem aus einem zweiten Grund in hohem Masse fragwürdig: Die Brutalität, das Schreckliche des sexuellen Missbrauchs von Kindern wird in einer ästhetisierten Form dargestellt – und damit verniedlicht. Diese Verniedlichung grenzt an Verfälschung und kommt so in ihrer Art einer Verletzung von Ziff. 3 der „Erklärung“ gleich. „Facts“ hätte gut daran getan, auf dieses Bild zu verzichten, was jedoch keinesfalls besagen will, dass stattdessen eine Real-Aufnahme hätte publiziert werden sollen.

III. Feststellungen

1. Wir leben in einer Welt der Bilder. Der Zwang zur Visualisierung in der geschriebenen Presse ist durch den Einfluss des Fernsehens gestiegen. Das Bild ist heute grundsätzlich höher zu bewerten als früher. Die Leserschaft erwartet Bilder, und dies insbesondere bei einer Zeitschrift, bei einem Nachrichtenmagazin.

2. Nicht nur was die Medienschaffenden wie sagen, kann ihnen nicht gleichgültig sein, sondern auch, was sie wie zeigen. Grundsätzlich gelten für Bilder die gleichen berufethischen Regeln wie für Texte. Menschenwürde und Persönlichkeitsschutz sind in jedem Fall zu achten. Bei heiklen, sensiblen Themen sollen Bilder mit grösster Zurückhaltung und erst nach sorgfältiger Interessenabwägung eingesetzt werden. Die Veranwortung der Medienschaffenden gegenüber der Öffenlichkeit gilt auch in Bezug auf Bilder.

3. Computergestützte Bilder, nachgestellte Aufnahmen, Studioaufnahmen usw. sind in jedem Fall ausdrücklich als solche zu bezeichnen und damit für die Leserschaft klar erkenntlich zu machen.

4. Studioaufnahmen zu sensiblen Themen bergen die Gefahr der Verletzung der Menschenwürde in sich. Die bildlich-ästhetische Verniedlichung verbrecherischen Handelns kommt einer Entstellung von Tatsachen gleich.