Nr. 14/1998
Anhörung bei schwerwiegenden Vorwürfen / Verantwortlichkeit innerhalb einer redaktionellen Hierarchie

(Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich / B. / S. c. „Beobachter“) Stellungnahme des Presserates vom 10. Oktober 1998

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I. Sachverhalt

A. Am 14. Mai 1998 veröffentlichte der „Beobachter“ einen Artikel mit dem Titel „Was die Justiz vertuschen“ will. Darin wurde die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich beschuldigt, eine ihrer Mitarbeiterinnen zu Unrecht für ein Informationsleck verantwortlich gemacht zu haben, von dem ein „Blick“-Journalist im September 1997 profitiert hatte. Nachdem sie den Fehler vollständig auf sich genommen hatte, machte die Mitarbeiterin laut dem Artikel geltend, sie habe auf Veranlassung eines der Staatsanwälte, S., gehandelt.

B. Am 28. Mai 1998 gelangten die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, der 1. Staatsanwalt B. sowie Staatsanwalt S. mit einer Beschwerde an den Presserat. Darin machten die Beschwerdeführer eine Verletzung der Ziff. 1, 3 und 7 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“ durch den „Beobachter“ bzw. den Autor des Artikels, I., geltend.

C. Mit Schreiben vom 19. Juni 1998 beantragten B., Chefredaktor des „Beobachters“, und I., das Presseratsverfahren sei zu sistieren, bis die von der Gegenseite angekündigten Rechtsverfahren abgeschlossen seien oder bis von solchen Abstand genommen worden sei. Allenfalls sei das Verfahren einstweilen auf die Frage zu beschränken, ob die Redaktion des „Beobachters“ B. und S. vor der Publikation hätte anhören müssen.

D. Staatsanwalt M. bestätigte mit Schreiben vom 30. Juni 1998 namens der Beschwerdeführer, dass seitens von B. und S. durchaus die Absicht bestehe, ein zivil- oder strafrechtliches Verfahren einzuleiten. Es gehe den Beschwerdeführern mit der Beschwerde an den Presserat jedoch nicht darum, „Munition“ für ein rechtliches Vorgehen gegen die Beschwerdegegner zu erhalten. Eine Sistierung des Verfahrens auf unbestimmte Zeit widerspreche dem Zweck des Presserates, zu beanstandeten Publikationen Stellung zu nehmen, solange die Erinnerung des Publikums noch einigermassen frisch sei.

E. Das Presseratspräsidium entschied am 10. Juli 1998, auf die Beschwerde einzutreten, diese jedoch auf die Frage zu beschränken, ob die Redaktion des „Beobachters“ B. und S. vor der Publikation hätte anhören müssen. Es überwies die Beschwerde an die erste Kammer, der Roger Blum als Präsident und Sylvie Arsever, Sandra Baumeler, Klaus Mannhart und Enrico Morresi als Mitglieder angehören. Diese behandelte die Beschwerde an der Sitzung vom 21. August 1998 sowie auf dem Korrespondenzweg.

F. In seiner Stellungnahme vom 4. August 1998 machte B. geltend, der Entscheid über die Nichtanhörung der Beschwerdeführer sei nicht von I. sondern von der Chefredaktion in alleiniger Verantwortung getroffen worden. Es treffe zwar zu, dass die von der entlassenen Mitarbeiterin gegenüber der Staatsanwaltschaft erhobenen Vorwürfe derart schwerwiegend seien, dass sie den „Beobachter“ im Normalfall veranlasst hätten, die Beschwerdeführer vor der Veröffentlichung anzuhören und ihnen Gelegenheit zu geben, sich in der Zeitschrift dazu zu äussern. Der „Beobachter“ sei jedoch nach sorgfältigen Abklärungen zum Ergebnis gelangt, dass die detaillierten Schilderungen der Informantin ernst zu nehmen seien und nach einer neutralen Untersuchung rufen würden. Eine Konfrontation der Beschwerdeführer mit den Vorwürfen hätte eine solche Untersuchung jedoch praktisch verunmöglicht, da sich die Beschwerdeführer hätten absprechen können. In dieser besonderen Situation habe sich die Chefredaktion dafür entschieden, über die Vorwürfe der ehemaligen Mitarbeiterin zu berichten, jedoch jede Vorverurteilung zu vermeiden sowie die Leserschaft darüber zu informieren, dass sich die Staatsanwaltschaft ausnahmsweise nicht äussern konnte und den Justizbehörden vor der Veröffentlichung durch eine Vorausinformation Gelegenheit zu ersten Abklärungen und zu einer öffentlichen Stellungnahme zu geben. Die Justizdirektion habe vor dem Erscheinen des Artikels eine Pressemitteilung veröffentlicht, die auch die Darstellung der Staatsanwaltschaft zu den Ereignissen enthalte. Diese Mitteilung sei von der Tagespresse bei der Berichterstattung berücksichtigt worden.

II. Erwägungen

1. Die Einholung der Stellungnahme der Betroffenen als Teil der journalistischen Recherche ist vorab aus der berufsethischen Verpflichtung abzuleiten, nach der „Wahrheit“ zu suchen (Ziff. 1 der „Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten“). Sie ist auch die Konsequenz des allgemeinen ethischen Prinzips des „audiatur et altera pars“ (Stellungnahme Nr. 2/96 vom 31. Mai 1996 i.S. Traitement des sources, rectification d’informations inexactes et accès aux sources d’information, Sammlung der Stellungnahmen 1996, S. 30ff.). Wenn in einem Beitrag schwerwiegende Anschuldigungen gegen eine Person erhoben werden, ist der Betroffene vor der Publikation anzuhören und ihm Gelegenheit zu geben, seinen eigenen Standpunkt darzustellen (vgl. u.a. die Stellungnahmen Nr. 3/96 i.S. U. c. „Beobachter“ vom 26. Juni 1996, Sammlung der Stellungnahmen 1996, S. 43ff.; Nr. 4/96 i.S. H&Co. c. „Stadt-Anzeiger Opfikon-Glattbrugg vom 30.6.1996, Sammlung der Stelllungnahmen 1996, S. 55ff.; Stellungnahme Nr. 3/97 i.S. Rhyner/Marti c. „Weltwoche“ vom 1. Mai 1997, Sammlung der Stellungnahmen 1997, S. 36ff.).

2. Gegenüber einem Gesprächspartner, der sich der Recherche entzieht oder diese oder das Erscheinen eines Beitrags beeinflussen könnte, kann es zulässig sein, die Konfrontation bis kurz vor der Publikation hinauszuschieben oder dem Betroffenen sogar einen fertig redigierten Medienbericht vorzulegen. Die Kontaktnahme mit dem Betroffenen darf jedoch nicht zur bloss formellen Handlung verkommen. Der Journalist muss immer in der Lage zu sein, den Bemerkungen der befragten Person im Medienbericht noch angemessen Rechnung zu tragen.

3. Die vom „Beobachter“ vorgebrachten Rechtfertigungsgründe für den ausnahmsweisen Verzicht auf die Anhörung der Beschwerdeführer überzeugen nicht. Allein die Tatsache, dass Behörden die Tendenz haben, gemachte Fehler unter Verschluss zu halten, kann nicht dazu führen, diese systematisch unfair zu behandeln. Um eine „neutrale Untersuchung“ zu gewährleisten, hätte es genügt, die Justizdirektion vor der Staatsanwaltschaft über die vermuteten Missstände zu informieren. Es ist nicht einzusehen, weshalb der Justizdirektor erst unmittelbar vor der Publikation über die angeblichen Missstände hätte informiert werden können.

4. Selbst bei Berücksichtigung der vom „Beobachters“ angeführten Hypothesen kann dessen Vorgehen den oben unter Ziff. 1 dargelegten berufsethischen Anforderungen nicht genügen. Die von schweren Anschuldigungen betroffene Person muss die Möglichkeit haben, ihren Standpunkt im gleichen Medium darzustellen, in dem die Vorwürfe veröffentlicht werden. Diese Verpflichtung besteht auch dann, wenn der Standpunkt des Betroffenen von anderen Medien wiedergegeben wird.

5. Der „Beobachter“ hat seine Leserschaft darüber informiert, dass ausnahmsweise keine Stellungnahme bei der Zürcher Staatsanwaltschaft eingeholt wurde. Diese Information könnte an sich positiv gewürdigt werden, wenn nicht der Zusatz „(…) Der Justizdirektion lag der Text jedoch vor Erscheinen vor“ zweideutig wäre. Beim unbefangenen Leser konnte durch diesen Zusatz der unzutreffende Eindruck entstehen, die Justizdirektion habe die vom „Beobachter“ veröffentlichte Darstellung mehr oder weniger bestätigt. So oder so konnte diese redaktionelle Anmerkung die Einholung der Stellungnahme der Betroffenen keinesfalls ersetzen.

6. Nach Auffassung des „Beobachters“ ist der Entscheid über die Nichtanhörung der Zürcher Staatsanwaltschaft allein vom Chefredaktor Ivo Bachmann zu verantworten. Der Presserat kann sich diesem Standpunk nicht anschliessen. Jede Journalistin, jeder Journalist ist zur Einhaltung der berufsethischen Regeln ver
pflichtet. Auch eine anderslautende Weisung eines Chefredaktors kann von dieser Pflicht grundsätzlich nicht entbinden (Ziff. 10 der „Erklärung der Pflichten“).

III. Feststellungen

1. Wenn in einem Beitrag schwerwiegende Anschuldigungen gegen eine Person erhoben werden, ist der Betroffene vor der Publikation anzuhören und ihm Gelegenheit zu geben, seinen eigenen Standpunkt darzustellen. Die Kontaktnahme mit dem Betroffenen darf nicht zur bloss formellen Handlung verkommen. Der Journalist muss immer in der Lage zu sein, den Bemerkungen der befragten Person im Artikel noch angemessen Rechnung zu tragen. Die von schweren Anschuldigungen betroffene Person muss die Möglichkeit haben, ihren Standpunkt im gleichen Medium darzustellen, in dem die Vorwürfe veröffentlicht werden. Diese Verpflichtung zur Anhörung besteht auch dann, wenn der Standpunkt des Betroffenen von anderen Medien wiedergegeben wird.

2. Jede Journalistin, jeder Journalist ist zur Einhaltung der berufsethischen Regeln verpflichtet. Auch eine anderslautende Weisung eines Chefredaktors kann von dieser Pflicht grundsätzlich nicht entbinden.