Nr. 92/2020
Wahrheit / Trennung von Fakten und Kommentar / Unterschlagen wichtiger Informationselemente / Anhören bei schweren Vorwürfen / Sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen

(van der Hoeven c. «Berner Zeitung»)

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I. Sachverhalt

A. Am 23. Mai 2020 erschien in der «Berner Zeitung» (BZ) ein Artikel von Michael Feller unter dem Titel «Die One-Man-Show bei Shnit geht weiter». Untertitel: «Kurzfilmfestival Shnit. Festivaldirektor Olivier van der Hoeven geriet nach der Finanzierungskrise in die Kritik – jetzt taucht er wieder auf: Als Präsident des Stiftungsrats. Was ist los bei Shnit?».

Darin wird zuerst rekapituliert, dass das Kurzfilmfestival seit längerem in Schwierigkeiten stecke. 2019 hätten die Stadt, die Burgergemeinde und der Kanton Bern die Fördergelder von 190’000 Franken kurz vor Festivalstart «gestrichen», weil «Shnit» die erforderlichen Unterlagen zu spät und unvollständig eingereicht habe. Der verantwortliche Festivaldirektor Olivier van der Hoeven habe daraufhin sein Amt abgegeben, sich auf die künstlerische Leitung zurückgezogen, jetzt aber tauche er plötzlich als Präsident des Stiftungsrates wieder auf.

Ein für Januar angekündigtes neues Team sei nicht aufgetaucht, hingegen sei ein Stiftungsrat nach dem anderen zurückgetreten. Nur einer sei geblieben: van der Hoevens Bruder. Für die Antwort auf die Frage «Was ist los bei Shnit?» wird der «Kulturmanager» Attila Gaspar zitiert, der vor dem letzten Festival Geschäftsführer geworden sei, aber die Organisation kurz nach dem Festival bereits wieder verlassen habe. Dieser spricht von einem «sinkenden Schiff, das im Sturm noch hätte umgebaut werden sollen», während es in voller Fahrt auf eine Insel zusteuere. Mangelnde Professionalisierung – so der Artikel weiter – sei schon länger ein Problem gewesen, 2016 habe das Bundesamt für Kultur seinen Beitrag von 70’000 Franken zurückgezogen wegen mangelhafter Strukturen. Statt in professionelle Strukturen habe das Festival staatliche Unterstützung in Preisgelder investiert, dies bei gleichzeitig gratis arbeitenden Mitarbeitern. 2019 habe das Festival einmal mehr nur dank halsbrecherischer Zustände funktioniert, wenig Personal, hoher Arbeitsdruck, deswegen viele Wechsel, viel Know-how-Verlust. Das ganze Festival hänge nur an van der Hoeven. Dieser sei – so Gaspar – ein gescheiter Kopf, ein Reisser, aber er habe das Team nicht, um eine beständige Organisation aufzubauen.

Das habe sich van der Hoeven nun aber offenbar zur Aufgabe gemacht. Er habe darüber zwar mit der BZ zunächst nicht reden wollen. Schliesslich habe er geschrieben, bei der Präsentation der neuen Leitung werde ersichtlich werden, wer welche Geschicke wie leiten werde. Es sei voraussichtlich unerheblich, wer Mitglied des Stiftungsrates sei. Die grösste Geldgeberin, die Stadt Bern – so der Artikel weiter – sehe das anders, sie verlange eine klare Trennung von strategischer Verantwortung und operativer Umsetzung. Bisher habe Shnit kein Fördergesuch eingereicht für das Festival, das am 20. Oktober stattfinden solle.

B. Am 26. Mai 2020 reichte Olivier van der Hoeven Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Der Beschwerdeführer (im Folgenden BF) macht geltend, der Artikel verletze in insgesamt 20 Fällen die Richtlinien 1.1 (Wahrheitssuche), 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar), 3.8 (Anhörung zu schweren Vorwürfen), 4.6 (Recherchegespräche) und 7.1 (Schutz der Privatsphäre) zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»).

a. Die Verpflichtung zur Wahrheitssuche (Richtlinie 1.1) sei verletzt worden, indem er als «Festivaldirektor» der 2019-Ausgabe von Shnit bezeichnet worden sei. Er habe sich damals ausdrücklich als künstlerischer Direktor vorgestellt.
b. Die Unterstützungsgelder der Stadt Bern seien damals nicht «gestrichen» worden, denn es habe kein laufender Vertrag bestanden, aus dem Gelder hätten herausgestrichen werden können. Das Ausbleiben des Geldes habe nichts mit ihm zu tun gehabt, sondern mit Handlungen oder Nichthandlungen des Geschäftsleiters und des Stiftungsrats, was ein der Beschwerde beigelegter Brief des Präsidialdepartements der Stadt Bern belege.
c. Der Vorwurf, 2019 Unterlagen zu spät und unvollständig eingereicht zu haben, sei unwahr (Richtlinie 1.1), das belege der gleiche Brief, und es sei ein schwerer Vorwurf im Sinne von Richtlinie 3.8, zu dem er hätte angehört werden müssen.
d. Ebenso unwahr sei die Feststellung im Artikel, wonach der BF «die Krise [2019, der Presserat] zu verantworten hatte». Auch das stimme nicht und es sei ein schwerer Vorwurf, zu dem er hätte angehört werden müssen.
e. Richtlinie 1.1 sei weiter verletzt mit der Bemerkung, das Bundesamt für Kultur habe seine Festivalsubvention 2017 zurückgezogen. Das BAK habe für eine Vierjahresperiode das Shnit neu nicht mehr berücksichtigt, aber nichts Zugesprochenes zurückgezogen.
f. Die Bemerkung, man habe statt in professionelle Strukturen in Fördergelder investiert, beinhalte eine Vermengung von Fakten und Kommentar (Richtlinie 2.3), denn der Autor habe bis zum Jahr 2016 keinen Zugang zu Finanzunterlagen gehabt. Zudem handle es sich hier um einen schweren Vorwurf, zu dem er hätte angehört werden müssen (Richtlinie 3.8) und um eine Falschaussage: Das Festival habe immer weniger Preisgeld vergeben und dafür 35’000 Franken in eine professionelle Buchhaltung investiert.
g. Dass Shnit 100’000 Franken Preisgeld ausschütte, während das Festival gleichzeitig nur von gratis arbeitenden Mitarbeitern möglich gemacht werde, beinhalte eine Verletzung von Richtlinie 2.3, eine Vermischung von Fakten und Kommentar. 100’000 Franken seien zum letzten Mal 2016 ausgeschüttet worden, hier werde der Leser getäuscht.
h. Dass mehrere Geschäftsführer versucht hätten, das Festival zu strukturieren, aber jeweils bald wieder weg gewesen seien, sei unwahr und damit ein Verstoss gegen Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche). Man könne aus dem Handelsregister ersehen, dass es nur zwei Geschäftsführer gegeben habe: den BF selber und den von der BZ zitierten Gaspar.
i. Auch der Satz, wonach der BF die einzige Konstante gewesen sei in den letzten Jahren, sei falsch. Es brauche 180 Personen zur Ausrichtung des Festivals, viele davon seien seit Jahren dabei.
j. Dass er dem Autor auf dessen Fragen gesagt habe: «Bis zum Festival gibt es nichts zu berichten» sei falsch. Als Beleg zitiert der BF aus einem Mail an den Autor, in welchem er allerdings erklärt, weshalb er eine Medienberichterstattung über das Festival zum damals gegebenen Zeitpunkt für «extrem Projektschädigend» erachte. Zuerst müsse das OK informiert sein. Eine Berichterstattung komme «bis auf Weiteres zu früh». Später führt er an, ungenaue Medienberichte könnten die Projektfinanzierung und -Planung behindern.
k. Auch die Bezeichnung «die grösste Geldgeberin, die Stadt Bern» sei falsch. Die Daten seien frei zugänglich: 2018 sei der Kanton Bern der grösste Geldgeber gewesen, 2019 sei es eine private Stiftung gewesen sowie eine Notfinanzierung in Form eines Darlehens von privater Seite …
l. … und auch das Datum «das am 20. Oktober starten sollte» sei falsch. Das Festival habe noch nie an einem Dienstag begonnen, es starte am 15. Oktober.

C. Am 19. August 2020 nahm die Rechtsabteilung der TX Group im Namen der «Berner Zeitung» (Beschwerdegegnerin, im Folgenden BG) in einem 13-seitigen Schreiben Stellung zur Beschwerde. Sie beantragt Nichteintreten auf die Beschwerde, weil darin ein mögliches zivilrechtliches Verfahren als «möglicherweise unumgänglich» bezeichnet werde. Art. 11 Absatz 1 des Geschäftsreglements des Presserates verbiete in einem solchen Fall das Eintreten.

Materiell beantwortet die BZ die Beanstandungen folgendermassen
a. Die Bezeichnung «Festivaldirektor» sei nicht falsch. Der BF sei über eineinhalb Jahrzehnte als das Gesicht und als «Direktor» des Festivals bekannt gewesen. Der Ausdruck «Festivaldirektor» beruhe auf wahren Tatsachen. Selbst wenn man davon ausgehe, dass «Artistischer Direktor» zum fraglichen Zeitpunkt die genaue Bezeichnung gewesen wäre, entspreche dies im Sinne der presserätlichen Praxis – wenn überhaupt – einer Ungenauigkeit, aber nicht einem regelrechten Verstoss gegen die Wahrheitspflicht.
b. Streichung der Fördergelder der Stadt Bern: Dies entspreche der Wahrheit: Es gehe um Gelder, die dem Shnit-Festival früher zugewiesen worden sind und in diesem Jahr nicht, das laufe auf eine Streichung hinaus. Vor allem aber schreibe der BF selber, die Unterstützung sei zuerst zugesichert und dann mündlich wieder abgesprochen worden. Das bedeute nichts anderes, als dass sie gestrichen wurde.
c. Zu spätes Einreichen der Unterlagen: Dass die Unterlagen unvollständig und zu spät eingereicht worden seien, belege die Aussage der Leiterin der städtischen Abteilung Kultur der Stadt Bern gegenüber der BZ. Der vom BF beigelegte, «zu grossen Teilen zensierte» Brief, der das Gegenteil beweisen soll, enthalte nichts, was dieses Gegenteil belege. Es sei weder die Wahrheitspflicht verletzt und erst recht nicht die Verpflichtung zur Anhörung bei schweren Vorwürfen. Denn hier gehe es nicht um «illegale oder vergleichbare Handlungen», welche der Presserat für die Pflicht zur Anhörung voraussetze. Im Übrigen habe die BZ den BF mehrfach mit Fragen konfrontiert, welche der BF zu beantworten verneint habe, erst unmittelbar vor der Veröffentlichung des Artikels habe der BF einige Fragen beantwortet. Die Anhörung sei vom BF selber verhindert worden.
d. Der Vorwurf, der BF habe die Krise im Jahr 2019 zu verantworten, sei sachlich richtig. Das Unterstützungsgesuch bei der Stadt hätte laut der Quelle der BZ bei der Stadt Bern eingereicht werden müssen noch bevor schliesslich der Geschäftsführer Gaspar eingestellt worden sei. Die Verspätung und die Unvollständigkeit des Gesuchs lägen demnach in des BF Verantwortung. Und aus dem vom BF beigelegten Brief seien die meisten Passagen zwar unkenntlich gemacht worden, aber eine Bestätigung seiner Aussagen sei aus dem lesbaren Rest nicht ersichtlich. Und auch hier gehe es nicht um «schwere Vorwürfe» im Sinne von Richtlinie 3.8 zur «Erklärung», abgesehen davon sei es der BF gewesen, der das Gespräch zu diesen Themen abgelehnt habe.
e. Dass das Bundesamt für Kultur seine Festival-Unterstützung zurückgezogen habe, sei entgegen der Behauptung des BF sehr wohl wahr. Die BZ zitiert dafür den BAK-Filmchef Ivo Kummer mit der Aussage in einer früheren BZ-Ausgabe: «Wir vermissen bei diesem Festival (…) sowie professionelle Strukturen»: Dies sei Teil der Begründung gewesen, weshalb das BAK die zuvor vier Jahre lang gewährte Unterstützung gestrichen habe.
f. Dass Fördergelder in Preisgelder investiert worden seien statt in professionelle Strukturen und dass der Autor der BZ gar keine Einsicht in die Unterlagen bis 2016 haben konnte, sei falsch. Dazu zitiert die BZ einen früheren Artikel, aus dem hervorgeht, dass der BF Preisgelder gekürzt hat, um eine finanzielle Lücke zu decken. Die betreffenden Aussagen seien seinerzeit vom BF abgesegnet worden, damit entfalle der Vorwurf des Kommentierens in Unkenntnis der genauen Sachverhalte (RL 2.3). Die Anhörungspflicht entfalle aus den bereits genannten Gründen und eine Persönlichkeitsverletzung sei angesichts der öffentlichen Gelder, um die es hier gehe, nicht erkennbar.
g. Die Bemerkung, wonach das Festival «zwischenzeitlich» 100’000 Franken an Preisgeldern ausgeschüttet habe, während das Festival von einer Schar von gratis arbeitenden Mitarbeitern getragen werde, sei sehr wohl zutreffend, auch wenn der BF geltend mache, dass in der Kritik nicht korrekt unterschieden werde zwischen Arbeitnehmern und ehrenamtlichen Helfern. Der BF schreibe selber, dass das Festival acht Jahre lang ausschliesslich von Ehrenamtlichen durchgeführt worden sei. Auch heute noch würden verantwortungsvolle Tätigkeiten von nicht Bezahlten durchgeführt, die Grenze sei fliessend. Die Feststellung, dass das Festival von unentgeltlicher Arbeit getragen werde, sei nach wie vor korrekt und werde auch vom Zeugen Gaspar bestätigt. Weiter habe man nie behauptet, es seien in diesem Jahr 100’000 Franken ausgeschüttet worden, man habe bewusst «zwischenzeitlich» geschrieben und damit die «zeitlichen Verhältnisse» gerade nicht «verdreht».
h. Dass sich «mehrere Geschäftsführer» an der Aufgabe versucht hätten, das Festival zu strukturieren und bald wieder weg gewesen seien, treffe zu, auch wenn sich im Handelsregister neben dem BF nur einer finde. Zum einen stütze man sich dabei auf die Aussage des zitierten Gesprächspartners Attila Gaspar, der Einsicht in die Verhältnisse gehabt habe und zum anderen könnten Geschäftsführer auch Personen sein, die führend in der Organisation tätig waren, ohne im Handelsregister eingetragen zu sein. Es sei in diesem Abschnitt darum gegangen, dass es in der Leitung viele Wechsel gegeben habe. Diese Aussage bleibe wahr und sei von einer glaubwürdigen Quelle gestützt.
i. Dass der BF «die einzige Konstante der letzten Jahre» gewesen sei, entspreche der Wahrheit. Auch hier stützt sich die BZ auf die Quelle Attila Gaspar, welcher darauf hinwies, dass es unter den 180 Mitarbeitenden ständige Wechsel und damit ständigen Verlust von Know-how gegeben habe. Weiter macht die BZ geltend, es sei unbestreitbar, dass van der Hoeven, der BF, die prägende Figur des Festivals seit 2003 sei, worauf dieser selber ausdrücklich hinweise.
j. Die Aussage im Artikel, der BF habe auf Anfrage gesagt, bis zum nächsten Festival gebe es nichts zu berichten, verstosse nicht gegen Richtlinie 4.6 (Recherchegespräche). Der Autor habe mehrfach versucht, mit dem BF über die fraglichen Themen zu sprechen, dieser habe mehrfach abgelehnt, am 20. Mai 2020 mit einer SMS, die der Beschwerdeantwort beigelegt wird («Merci fürs Nachfragen. Zuerst sollte wieder die reguläre Sitzung (…) durchgeführt werden können, was momentan noch nicht erlaubt ist (…) Ich denke, es wird dann auch eine Pressemitteilung über die diesjährige Ausgabe (…) verschickt werden. Vorher gibt es wohl noch nichts zu berichten.»). Zwei Tage danach habe er dennoch einige Fragen schriftlich beantwortet. Genau so stehe es auch im Artikel.
k. Wenn der BF anhand der Zahlen von 2019 behaupte, die Stadt Bern sei – anders als im Artikel behauptet – nicht die grösste Geldgeberin gewesen, dann liege das im Ergebnis auf der Hand, weil die Stadt ja ihre Unterstützung in diesem Jahr zurückgezogen habe. Wenn im Jahr zuvor der Kanton den grössten Anteil gestellt habe, dann sei dies nur im Rahmen eines Verstosses gegen das kantonale Kulturförderungsgesetz möglich gewesen, welches vorschreibe, dass der Kanton höchstens gleich viel ausschütten könne wie andere private oder öffentliche Institutionen. Es sei mit Recht davon ausgegangen worden, dass die Stadt Bern bisher grundsätzlich die grösste Geldgeberin gewesen sei.
l. Dass das Festivaldatum im Artikel nicht korrekt angegeben worden sei, treffe zu. Dies entspreche aber einem Irrtum und nicht einem Verstoss gegen die Wahrheitspflicht.

D. Am 15. September 2020 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg sowie den Vizepräsidenten Casper Selg und Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 31. Dezember 2020 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Der Presserat tritt auf die Beschwerde ein. Der BF spricht zwar davon, dass eine Klage «eventuell unumgänglich sei», falls als Folge des kritischen Artikels Unterstützungen zweier möglicher Geldgeber ausblieben. Gemäss der konstanten Praxis des Presserates reicht die «eventuelle» Wahrnehmung des Rechts auf ein Gerichtsverfahren nicht, um ein Eintreten wegen eines gerichtlichen Parallelverfahrens zu verweigern.

2. Wenn der Beschwerdeführer, der seit 2003, also seit 16 Jahren, als «Spiritus Rector», als führende Kraft des Festivals agiert, als «Festivaldirektor» bezeichnet wird, dann ist dies auch dann nicht falsch, wenn ihm kurz vor der Ausgabe 2019 ein Geschäftsführer beigestellt wird und er selber künftig als «Artistic Director» bezeichnet werden soll.

3. Die Stadt Bern hat das Festival seit vielen Jahren unterstützt. Wenn diese Unterstützung nicht mehr zugesprochen wird, ist sie nach üblichem Sprachgebrauch «gestrichen» worden. Dies gilt auch, wenn die Stadt sie zunächst nochmals bewilligt hatte, wie der BF in einem entsprechenden Schreiben der Stadt belegt. Aus diesem geht – trotz extensiver Abdeckung des Textes – hervor, dass man das Festival «noch einmal» unterstütze, trotz eines inakzeptablen Zustandes, und zwar tue man dies nur ausnahmsweise, um die vielen Menschen zu schützen, die sich bereits lange mit der Vorbereitung beschäftigt hätten. Kurz darauf wurde die zugesprochene Unterstützung dann eben doch noch «gestrichen». Es liegt somit kein Verstoss gegen Richtlinie 1.1 vor.

4. Der Vorwurf, das Kurzfilmfestival habe seine Unterlagen zu spät und unvollständig eingereicht, entspricht nicht einem schweren Vorwurf im Sinne von Richtlinie 3.8, der eine Anhörung nötig machen würde. Gestützt auf die Praxis des Presserats ist ein Vorwurf schwer, wenn ein illegales oder vergleichbares Handeln vorgeworfen wird. Zudem macht die BZ glaubhaft, dass der Autor den BF mehrfach erfolglos um Stellungnahmen gebeten hat. Weiter geht aus dem vom BF selber eingereichten Schreiben der städtischen Präsidialdirektion – trotz der extensiven Abdeckung – hervor, dass die Stadt mit dem Ablauf des Gesuchs zur Unterstützung sehr unzufrieden war. Der Vorwurf entstellt damit auch nicht Tatsachen, daher liegt auch hier kein Verstoss gegen die Ziffer 3 der «Erklärung» vor.

5. Der Beschwerdeführer bezeichnet die Feststellung der BZ, er habe die finanzielle Krise, d. h. das Fehlen von 190’000 Franken an Fördergeldern, zu verantworten, als falsch (Verstoss gegen Richtlinie 1.1 – Wahrheitssuche) und als schweren Vorwurf, zu dem er hätte angehört werden müssen, sowie als Verstoss gegen die Ziffern 3 (Unterschlagen wichtiger Elemente) und 7 (sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigung) der «Erklärung». Er habe die Fördergelder der Stadt bewilligt erhalten, erst der danach eingesetzte Geschäftsführer und der Stiftungsrat hätten die Zusagen wieder verloren. Er habe die Krise nicht zu verantworten. Dagegen wendet die BZ erneut ein: kein «schwerer» Vorwurf im Sinne von Richtlinie 3.8, zudem habe der BF die Gelegenheiten zur Stellungnahme nicht genutzt. Weiter: Ein vollständiges Gesuch um Unterstützungsgelder hätte der Stadt schon lange vor der Einsetzung eines Geschäftsführers so kurz vor Beginn des Festivals vorgelegt werden müssen. Dafür sei der BF verantwortlich, was im Übrigen auch die Quelle Attila Gaspar bezeuge. Der Presserat folgt dieser Argumentation, nicht zuletzt auch aufgrund des Schreibens des Präsidialamtes, das von «mehrfachen kritischen Gesprächen» mit dem BF spricht und von einem «inakzeptablen Umstand», der dazu führe, dass nur mit Rücksicht auf andere betroffene Personen ausnahmsweise noch einmal eine Unterstützung gewährt werde. Es liegt somit kein Verstoss gegen Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche), Ziffer 3 (Unterschlagen wichtiger Informationselemente) und Ziffer 7 (sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigung) der «Erklärung» vor.

6. Wenn das Bundesamt für Kultur eine bisher gesprochene Unterstützung nicht mehr gewährt, dann ist die Formulierung «hat zurückgezogen» nicht falsch. Im konkreten Fall ohnehin nicht, wenn der zuständige Verantwortliche des Bundesamtes zitiert worden war mit der Begründung: «Wir vermissen bei diesem Festival eine nationale Ausstrahlung sowie professionelle Strukturen.» Das ist nicht eine Erklärung für einen normalen «Entscheid für andere Festivals», sondern die Begründung für das Zurückziehen einer Unterstützung. Kein Verstoss gegen Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche).

7. «Statt in professionelle Strukturen investierte das Festival die staatliche Unterstützung in Preisgelder.» Dieser Satz verstösst laut BF gegen Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar), gegen die Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) und gegen Ziffer 7 (sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen) der «Erklärung». Er trage der Tatsache nicht Rechnung, dass erstens Geld auch aus anderen Quellen in die Preisgelder geflossen sei als aus Fördergeldern, dass zweitens 35’000 Franken in die Professionalisierung der Buchhaltung investiert und dass drittens die Preisgelder in den letzten Jahren massiv reduziert worden seien, von 100’000 im Jahr 2016 auf 30’000 im Jahr 2019. Die BZ entgegnet, in einem früheren Artikel habe der BF die Aussage ausdrücklich bestätigt, wonach er die Preisgelder gekürzt habe, um eine entsprechende Finanzierungslücke zu füllen, womit e contrario belegt werden soll, dass eben doch öffentliche Gelder für Preisgeld genutzt worden seien. Ebenso entspreche die Reduktion um 70’000 Franken genau der Summe, die an Unterstützung vom BAK weggefallen sei.

Unter dem Strich ist diese Frage für den Presserat nicht schlüssig zu entscheiden, es steht Aussage gegen Aussage, ein Verstoss gegen Ziffer 7 (sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen) der «Erklärung» und Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) ist jedenfalls nicht belegt. Richtlinie 3.8 (Anhörung bei schweren Vorwürfen) entfällt wieder: Die Möglichkeit der Stellungnahme wurde nicht genutzt.

8. «Zwischenzeitlich schüttete Shnit, das nur dank gratis arbeitenden Mitarbeitern durchgeführt werden kann, 100’000 Franken aus.»: Dieser Satz verstösst laut BF gegen die Trennung von Fakten und Kommentar (Richtlinie 2.3), weil der Eindruck entstehe, es würden aktuell noch solche Preisgelder ausgerichtet und weil der Tatsache nicht Rechnung getragen werde, dass die allermeisten Filmfestivals mit freiwilligen Helfern arbeiteten. Die BZ weist darauf hin, dass ausdrücklich gesagt werde, dass «zwischenzeitlich», also nicht aktuell, 100’000 Franken Preisgelder ausgerichtet worden seien und dass nie behauptet worden sei, die Mitarbeit von Freiwilligen sei aussergewöhnlich. Der BF selber weise darauf hin, dass in den ersten acht Jahren nur Freiwillige am Festival mitgearbeitet hätten. Die Unterscheidung des BF zwischen Ehrenamtlichen und Mitarbeitenden ändere nichts daran, dass das Festival wesentlich von Freiwilligen getragen werde. Das bestreitet auch der BF nicht, dem ist entsprechend zuzustimmen. Ebenso der Feststellung, dass der Ausdruck «zwischenzeitlich» deutlich signalisiert, dass die Zahlung von 100’000 Franken nicht in der Gegenwart, sondern früher einmal stattgefunden hat. Somit liegt kein Verstoss gegen Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) vor.

9. Wenn die BZ schrieb, mehrere Geschäftsführer hätten versucht, das Kurzfilmfestival zu strukturieren und seien bald wieder weg gewesen, dann sind damit – wie die BG richtig festhält – nicht unbedingt nur im Handelsregister aufgeführte Personen mit dieser Funktion gemeint, sondern Personen, die geholt worden sind, um sich um das professionelle Geschäftsgebaren des Festivals zu kümmern. In dieser Beziehung liegt kein Verstoss gegen die Wahrheitssuche (Richtlinie 1.1) vor und auch nicht gegen das Gebot, keine wichtigen Elemente von Informationen zu unterschlagen. Wie viele derartige Personen sich in dieser Rolle versucht haben, wird von der BG nicht angeführt. Laut dem BF waren es nur er selber und Attila Gaspar, laut der BZ sollen es laut Attila Gaspar mehrere gewesen sein. Zu diesem Aspekt steht Aussage gegen Aussage. Der Presserat kann keinen Verstoss gegen Richtlinie 1.1 oder gegen Ziffer 3 der «Erklärung» feststellen.

10. Dass der BF Olivier van der Hoeven die einzige Konstante der letzten Jahre gewesen sei, ist eine journalistische Bewertung der Fakten, die der Presserat aus der Gesamtsicht des vorliegenden Materials als zulässig und schlüssig erachtet. Gerade zuvor, unter 9., hat der BF selber erklärt, es habe nie einen Geschäftsführer ausser ihm und dem wenige Monate amtierenden Attila Gaspar (geschweige denn einen anderen Artistic Director) gegeben. Schon das berechtigt zum fraglichen Schluss. Somit liegt auch hier kein Verstoss gegen Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) vor.

11. Der Beschwerdeführer bestreitet, je gesagt zu haben, dass es «bis zum nächsten Festival nichts zu berichten» gebe. Die BZ legt ein SMS vor, in welchem er – offenbar als Antwort auf verschiedene Anfragen – schreibt: «Merci fürs Nachfragen». Dann folgt die Erläuterung, dass das Organisationskomitee zur Zeit coronabedingt keine Sitzungen abhalten könne, dass bis dahin administrative Arbeiten durchgeführt und Finanzierungsangelegenheiten bearbeitet würden. Und dann, als Antwort auf die Frage des Autors: «Ich denke, es wird dann auch eine Pressemitteilung über die diesjährige Ausgabe verfasst und verschickt werden. Vorher gibt es wohl noch nichts zu berichten. Lg, Olivier». Der Autor hat die fragliche Passage zwar nicht wörtlich zitiert, ausser dem Satzteil «nichts zu berichten». Auch ist die zeitliche Angabe «bis zum nächsten Festival» ungenau, der BF hatte gemeint bis zu den Ankündigungen über das nächste Festival. Aber der Vorwurf des BF «Die Behauptung, dass bis zum Festival nichts zu berichten sein wird ist von Herrn Feller erfunden und entspricht nicht der Wahrheit» trifft nicht zu. Es gab die Aussage «wohl nichts zu berichten» auf Anfragen des BZ-Autors. Auch wird im Artikel ergänzt, dass der BF zwei Tage später dennoch einige Antworten gegeben habe. Damit besteht weder ein Verstoss gegen Richtlinie 4.6 noch gegen die Wahrheitspflicht.

12. Ob die Stadt Bern die grösste Geldgeberin oder nur eine der grössten ist, bleibt offen. Zum einen ist der BG recht zu geben, wenn sie sagt, die beiden vom BF angeführten Jahre 2018 und 2019 seien aufgrund spezieller Umstände gesondert zu betrachten. Was die Jahre zuvor angeht, sind die dem Presserat vorliegenden Akten nicht schlüssig. Es bleibt Aussage gegen Aussage, somit liegt kein Verstoss gegen Richtlinie 1.1 (Wahrheitssuche) vor.

13. Dass das Festival 2020 nicht am 20. Oktober starten würde, sondern am 15. war schon zur Zeit der Publikation des Artikels bekannt. Diese Information war falsch. Aber es war – gemäss ständiger Praxis des Presserates – ein Fehler, ein Irrtum, der bei gründlicher Arbeit nicht passieren darf, aber es war nicht ein vollwertiger Verstoss gegen die Wahrheitspflicht.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Die «Berner Zeitung» hat mit dem Artikel «Die One-Man-Show bei Shnit geht weiter» vom 23. Mai 2020 die Ziffern 1 (Wahrheit), 2 (Trennung von Fakten und Kommentar), 3 (Unterschlagen wichtiger Informationselemente, Anhören bei schweren Vorwürfen), 4 (Recherchegespräche) und 7 (sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.