Nr. 57/2021
Schutz der Privatsphäre / Anonymisierung / Unschuldsvermutung / Fairness

(X. c. «Thurgauer Zeitung»)

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I. Sachverhalt

A. Am 18. März 2021 erschien in der «Thurgauer Zeitung» (TZ) ein Text von Barbara Hettich unter dem Titel «‹Es war so grusig›». Untertitel: «Ein bereits Vorbestrafter soll ein 13-jähriges Mädchen sexuell missbraucht haben. Er stand Anfang Monat vor den Schranken des Bezirksgerichts Arbon.» Im ersten Abschnitt wird der Richter zitiert, welcher das Dilemma dieses Falles beschreibt: Die Wahrscheinlichkeit, dass der Beschuldigte die Tat begangen habe, sei grösser als die seiner Unschuld. Aber die stichhaltigen Beweise hätten gefehlt, deswegen habe das Gericht im Zweifel für den Angeklagten auf Freispruch entschieden. «Wir dürfen uns nicht von unserem subjektiven Empfinden leiten lassen», habe der Richter erklärt.

In der Folge wird das von der Anklage behauptete Delikt beschrieben, eine Vergewaltigung, begangen anlässlich eines Probetrainings in der Halle eines Kanu-Clubs. Das Opfer habe die Tat anschliessend verdrängt, aus Scham, wie das Mädchen sage, heute versuche es, das Geschehene in einer Therapie aufzuarbeiten. Der Angeklagte umgekehrt weise entschieden jede Schuld von sich. Sein Verteidiger zweifle an den Behauptungen des Opfers. Erinnerungslücken würden mit sogenannten «Flashbacks» aufgefüllt, diese entstammten aber der Fantasie, die Staatsanwaltschaft habe «schlampig» untersucht, mit Suggestivfragen gearbeitet, entlastende Beweise nicht berücksichtigt. Es stehe Aussage gegen Aussage, weswegen er einen Freispruch gefordert habe.

Eines stehe aber fest, so der Text weiter: Trotz seiner Vorstrafen im Zusammenhang mit Kindern und dem damit verbundenen Entzug der Trainerlizenz habe er seine Frau zu deren Trainings begleitet und sie bei ihrer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen unterstützt. Er habe vor der Tat Kontakt zum Opfer gesucht, das Mädchen sei sein beliebtestes Foto-Sujet gewesen, sein ihm vorgeworfenes Vorgehen sei mit seinen früheren Vorgehensweisen vergleichbar, auch was Alter und Aussehen der Opfer betreffe.
Abschliessend wird wieder der Richter zitiert, der davon gesprochen habe, dass er einen solch aussergewöhnlichen Fall hinsichtlich der Amnesie des Mädchens in diesem Ausmass noch nie erlebt habe. Dessen Aussagen seien für ihn zwar widerspruchsfrei und realitätsnah gewesen, aber «leider detailarm». «Auch wenn sich jemand schon zweimal an Kindern vergriffen hat, ist dies kein Beweis, dass er es ein drittes Mal getan hat.» Das Gericht habe nicht ausschliessen können, dass es bei der therapeutischen Erinnerungsfindung und der polizeilichen Befragung suggestive Einflüsse gegeben habe und dadurch Pseudoerinnerungen entstanden seien. Eines aber habe die Verhandlung gezeigt: Der Mann habe aus seinen ersten Verurteilungen nichts gelernt.

B. Am 19. März 2021 reichte Rechtsanwalt X. namens des freigesprochenen Beschuldigten Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er macht geltend, der Artikel verletze die Ziffer 7 (Schutz der Privatsphäre) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung»), insbesondere sei sein Mandant ungenügend anonymisiert worden, das Unschuldsprinzip sei verletzt und das Gebot der Fairness.

Die ungenügende Anonymisierung sieht der Beschwerdeführer (BF) zum einen darin, dass im Bericht als Tatort «ein Thurgauer Kanu-Club» genannt werde. Davon gebe es im Thurgau nur einen, in Romanshorn. Dieser und mit ihm seine Vorstands- und Clubmitglieder seien von dieser Nennung direkt betroffen. Die Nennung des Bezirksgerichts Arbon als Ort des Prozesses verstärke diese Identifikation, Straftaten würden immer am Ort der Tat beurteilt. Damit sei die Nähe zu Romanshorn gegeben, der dortige Kanu-Club als Tatort identifiziert.

Das Unschuldsprinzip sieht der BF damit verletzt, dass der Beschuldigte nicht nur als unschuldig zu gelten habe, sondern er sei auch tatsächlich freigesprochen worden. Zwar gebe die Autorin die diesbezüglichen Bemerkungen des Richters wahrheitsgemäss wieder, das hindere die Autorin aber nicht, dieselbe Verletzung wie der Richter zu begehen. Worin diese besteht, wie und wo im Text, beschreibt der BF aber nicht. Es ist davon auszugehen, dass er damit die Zweifel an der Unschuld des (freigesprochenen) Beschuldigten meint, welche der Richter ausdrücklich erwähnt hat. Der BF schreibt lediglich wieder, dass der Kanu-Club in Mitleidenschaft gezogen werde, weil er im Zusammenhang mit einem sexuellen Verbrechen erwähnt werde, obwohl der Beschuldigte freigesprochen worden sei.

Das Fairnessprinzip sieht der BF dadurch verletzt, dass über die Zweifel des Gerichts an der Tatbegehung nicht berichtet werde, obwohl dies geschätzte neunzig Prozent der Urteilsbegründung ausgemacht habe. Es werde nicht über die Problematik der Flashback-Erinnerungen berichtet, nicht darüber, dass das Gericht die Staatsanwaltschaft gerügt habe, nicht darüber, dass mittels Suggestivfragen und Psychotherapie die Gefahr von Pseudoerinnerungen erhöht worden sei. Was für die Öffentlichkeit interessant gewesen wäre, so der BF zusammenfassend, habe die Autorin verschwiegen. Stattdessen sei sie in Stereotype verfallen. Um nicht objektiv berichten zu müssen und ihren Bericht emotional aufladen zu können, habe sie sich mit dem Opfer solidarisiert. Schliesslich beklagt der BF, dass die Autorin sein Plädoyer in schriftlicher Form (39 Seiten) nicht habe entgegennehmen wollen, dasjenige der Privatklägerin aber sehr wohl.

C. Mit Beschwerdeantwort vom 12. Mai 2021 beantragte der Chefredaktor der «Thurgauer Zeitung», David Angst, die Beschwerde sei abzuweisen.

Zum Vorwurf der ungenügenden Anonymisierung macht die Beschwerdegegnerin (BG) geltend, die Anonymisierung diene gemäss Ziffer 7 der «Erklärung» dem Schutz von Personen, nicht von Vereinen. Selbst wenn man aufgrund des Zeitungsberichts herleiten könnte, um welchen Kanu-Club es sich gehandelt habe, könne man ohne erhebliches Zusatzwissen nicht auf die Person des Beschuldigten schliessen.

Das Unschuldsprinzip sieht die BG nicht verletzt. Dass trotz des Freispruchs noch Zweifel an der Unschuld des Beschuldigten geblieben seien, sei nicht die persönliche Meinung der Autorin, sondern das habe der Richter selber ausdrücklich gesagt und begründet. Dies sei ein bemerkenswerter Teil des Urteils gewesen und habe erwähnt werden müssen. Dieser Zweifel an der Unschuld des Angeklagten gehe nicht auf einen Fehler der Journalistin zurück, diese berichte nur, was vor Gericht gesagt worden sei.

Zur Fairness: Was die angeblichen Weglassungen im Text betrifft, verweist die TZ darauf, dass die Autorin die Thematik der Flashback-Erinnerungen entgegen der Behauptung des BF ausdrücklich angeführt habe. Sie habe bei den notwendigen Kürzungen nicht nur Aspekte weggelassen, die den Beschuldigten allenfalls weiter hätten entlasten können, sondern umgekehrt auch solche, die seine Seite in schlechterem Licht gezeigt hätten. Etwa den Umstand, dass die Honorare seines Anwalts zusammengekürzt wurden, weil sie als übertrieben erschienen seien. Die Behauptung, die erfahrene Gerichtsberichterstatterin habe Schriftliches nur von der Nebenklägerin, nicht aber vom Verteidiger entgegengenommen, sei «schlicht falsch». Vor allem aber seien alle wichtigen Argumente des Entlastungsplädoyers im Artikel angesprochen. Die BG zitiert die dafür massgebenden Textstellen.

D. Am 18. Mai 2021 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde von der Geschäftsführerin Ursina Wey behandelt.

E. Die Geschäftsführerin hat am 24. August 2021 in Absprache mit dem Präsidium des Presserats folgendermassen Stellung genommen:

II. Erwägungen

1. Mangelnde Anonymisierung: Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, sein Mandant sei nicht genügend anonymisiert worden. Er nennt nur den Kanu-Club. Der TZ ist recht zu geben, wenn sie feststellt, dass sich der Persönlichkeitsschutz nicht auf einen Verein erstreckt, auf dessen Gelände etwas Gravierendes passiert oder eben nicht passiert sein könnte. Ziffer 7 (Privatsphäre) der «Erklärung» schützt den oder die direkt Involvierten, nicht aussenstehende Dritte und schon gar nicht juristische Personen oder allgemein Institutionen, die nicht direkt involviert sind. Und sein Mandant war, um dies trotz allem zu erwähnen, genügend anonymisiert. Seine Aktivität in einem Kanu-Club macht ihn nicht für weitere Kreise hinaus erkennbar.

2. Verletzung des Unschuldsprinzips (Richtlinie 7.4): Die Feststellung des Beschwerdeführers trifft zu, wonach die Unschuld des Beschuldigten in gewissem Zweifel belassen wird, obwohl er nicht nur nicht verurteilt, sondern ausdrücklich freigesprochen worden ist. Allerdings bezieht sich die Unschuldsvermutung auf die Phase vor einem rechtsgültigen Urteil. Hier liegt ein Urteil vor, niemand macht geltend, dieses sei nicht rechtsgültig. Wenn das Gericht «in dubio pro reo» entscheidet, kann dies ein wichtiger Teil des Urteils sein, über das zu berichten ist, insbesondere auch die Begründung dieses Entscheids zugunsten des Angeklagten. Für die Phase nach dem Urteil verlangt die vom BF angerufene RL 7.4 «Rücksichtnahme auf die Familie und die Angehörigen des Verurteilten …». Diese Anforderung hat, mutatis mutandis, auch hier zu gelten. Ihr ist aber mit einer hinreichenden Anonymisierung des Beschuldigten und mit einer konzisen Zusammenfassung der Argumente zu seiner Verteidigung Genüge getan.

3. Verletzung des Fairnessprinzips: Der TZ ist zuzustimmen, wenn sie feststellt, dass fast sämtliche der vom BF als unfairerweise weggelassen kritisierten Elemente im Bericht sehr wohl Erwähnung fanden. Stichwortartig gilt:
– Zweifel des Gerichts an der Tatbegehung: im Bericht erwähnt.
– Problematik der Flashbackerinnerungen des Opfers: im Bericht erwähnt.
– Rügen des Gerichts an die Staatsanwaltschaft: im Bericht als «Kritik» erwähnt.
– Aussagen des Mädchens von Gericht als ungenügend erachtet: im Bericht erwähnt.
– Suggestivfragen und deren Problematik: im Bericht erwähnt.
Alle diesbezüglichen Vorwürfe des Beschwerdeführers treffen so nicht zu.
Was nicht erwähnt wurde, sind prozedurale Einzelheiten, die für den Anwalt des Beschuldigten von Belang waren, die der Autorin aber in ihrer kurzen Zusammenfassung eines langen Verfahrens nicht von grösserer Bedeutung erschienen: Das entspricht einem unproblematischen journalistischen Ermessensentscheid.
Zu den beiden weiteren Vorwürfen:
– Dass die Autorin sich von der einen Seite schriftliches Material habe geben lassen, vom BF aber nicht, wird von der TZ bestritten: Hier steht Aussage gegen Aussage, die Frage kann der Presserat nicht entscheiden.
– Schliesslich der Vorwurf des BF, wonach die Autorin sich mit dem Opfer solidarisiert habe, um nicht objektiv berichten zu müssen und ihren Bericht emotional aufladen zu können: Der Presserat sieht keine Textstelle, die diesen sehr schweren Vorwurf belegen würde. Die Autorin berichtet hier nicht über einen «Freispruch erster Klasse», sondern über einen Freispruch «in dubio». Dem trägt der Text angemessen Rechnung.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Die «Thurgauer Zeitung» hat mit dem Gerichtsbericht «‹Es war so grusig›» die Ziffer 7 (Schutz der Privatsphäre / Unschuldsvermutung) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.