Nr. 38/2021
Wahrheit / Unterschlagen wichtiger Informationen / Anhören bei schweren Vorwürfen / Berichtigung

(X. c. «Neue Zürcher Zeitung»)

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I. Sachverhalt

A. Am 15. Dezember 2020 erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ) ein Artikel von Simon Hehli unter dem Titel «Tantra- und Drogen-Psychiater bangen um Krankenkassengelder – doch ihren Feinden ist das noch lange nicht genug». Lead: «Sie therapieren psychisch Kranke mit Rauschmitteln, sexuelle Handlungen sind dabei nicht tabu: Die Methoden der «Kirschblüten»-Ärzte sind hoch umstritten, manchen gelten sie als Sekte. Nun haben sie einen empfindlichen Rückschlag erlitten.»

Der Artikel verweist darauf, dass die beschriebenen umstrittenen Heilmethoden zurückgehen auf den 2017 verstorbenen Arzt Samuel Widmer und dem, was dieser «echte Psychotherapie» und «Psycholyse» genannt habe. Dabei würden Anästhesiemedikamente, aber auch illegale Drogen eingesetzt, um Zugang zu verdrängten Gefühlen und Fähigkeiten der Patienten zu erlangen. Bisher seien «Kirschblüten»-Ärzte von der Grundversicherung der Krankenkassen honoriert worden, das könne sich nun aber ändern. Die Eidgenössische Kommission für allgemeine Leistungen und Grundsatzfragen (ELGK) bezeichne deren Leistungen seit neuem als «nicht mehr kassenpflichtig», weil ihre Methoden weder wirksam noch zweckmässig seien. Zu diesem Urteil habe auch eine Stellungnahme der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie beigetragen, welche von einer «Heilslehre» spreche, die den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nicht mehr erhebe. Insbesondere kenne die «echte Psychotherapie» keine Grenzen, auch eine sexuelle Beziehung zwischen Therapeut und Patientin sei dort kein absolutes Tabu. Ähnlich habe sich auch der Krankenkassenverband «Santésuisse» geäussert.

Danach wird im Artikel die Gegenseite zitiert: Die «Kirschblüten»-Psychiater, die in der Ärztegesellschaft «Avanti» zusammengeschlossen seien, bestritten laut einem Schreiben, dass «echte Psychotherapie» ein spezifisches Therapieverfahren sei. Hier gehe es vielmehr um eine weltanschauliche Haltung, die dem therapeutischen Tun zugrunde liege. Dieses Missverständnis hätte – gemäss «Avanti» – beseitigt werden können, wenn die ELGK sie überhaupt angehört hätte. Das sei aber nicht der Fall gewesen. Das wiederum treffe – so der Artikel weiter – laut einem Sprecher des Bundesamtes für Gesundheit aber nicht zu, ein Schreiben der Gesellschaft «Avanti» habe die Kommission im Verfahren sehr wohl berücksichtigt. Im Weiteren beschreibt der Artikel Klagen von «Avanti» über Gerüchte und Verleumdungen, welche von Seiten zweier Psychiater vorgebracht würden. Es gebe effektiv einen langanhaltenden Konflikt mit zwei Berufskollegen, welche die Praktiken der «Avanti»-Ärzte seit Jahren kritisieren und darauf hinarbeiteten, dass diese nicht mehr praktizieren und vor allem keinen psychiatrischen Notfalldienst mehr leisten dürften.

Schliesslich weist der Artikel auf einen politischen Vorstoss im Kanton Solothurn hin, welcher endlich Klarheit im Umgang mit den «Kirschblüten»-Ärzten verlange. Laut Aussagen von ehemaligen Anhängern der Gruppe sei es bei Grossgruppentherapien zu sexuellen Übergriffen unter Drogeneinfluss gekommen. Als Beispiel für die dadurch entstehenden Gefährdungen werden zwei Fälle aus Deutschland zitiert, einer über Sex in der Therapie, der zweite von 2009 über zwei Tote bei Therapie mit Rauschmitteln.

B. Am 23. Dezember 2020 reichte X. Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er tue dies im Namen von fünf weiteren Mitgliedern von «Avanti», dafür unterbreitet er aber keine Vollmachten. Der Beschwerdeführer (BF) macht geltend, der Artikel der NZZ verletze die zur «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») gehörenden Richtlinien 1.1 (Wahrheitssuche), 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar), 3.8 (Anhören bei schweren Vorwürfen) und 5.1 (Berichtigungspflicht).

Schon der Lead, der von «sexuellen Handlungen» spricht, sei falsch, rufschädigend und nenne keine Quellen. «Avanti» stelle schon seit 2019 auf seiner Website klar, dass diese Ärztegesellschaft die geltenden Gesetze und Standesregeln respektiere. Insbesondere dürften demnach «sexuelle Kontakte zwischen Therapeut und Klient im Rahmen der asymmetrischen Therapiebeziehung nicht stattfinden, da diese dem Patienten oder der Patientin schaden».

Die Anschuldigungen seitens der beiden Psychiater hätten nicht nur dazu geführt, dass der eine von ihnen aufgrund deren Kritik gebüsst worden sei, sondern der Solothurner Regierungsrat habe aufgrund einer Interpellation auch «amtlich» festgestellt, dass die Anschuldigungen allesamt haltlos seien. Insbesondere sei dort auch festgestellt, es sei nicht richtig, dass Kranke mit Rauschmitteln therapiert worden seien.

Dass die «Kirschblütler» einen Rückschlag erlitten hätten, weil die ELGK die «echte Psychotherapie» nicht mehr als kassenpflichtig bezeichne, sei ebenfalls falsch: Die so bezeichnete Methode sei keine Therapie, die je kassenpflichtig gewesen sei.

Im Weiteren seien die «Kirschblütler» und «Avanti» nicht dasselbe, würden aber im Artikel in einen Topf geworfen, auch hätten die Praktiken, die in Deutschland stattgefunden haben sollen, erstens mit «Avanti» nichts zu tun und zweitens seien sie auch nicht wahr, die entsprechenden Verfahren seien mittlerweile eingestellt.

Die Berichterstattung der NZZ verletze mit alledem die Richtlinie 3.8, weil «Avanti» zu den schweren Vorwürfen nie angehört worden sei; Richtlinie 1.1 sei verletzt, weil der Autor die leicht auffindbaren Daten (Erklärung auf der «Avanti»-Website, Antwort der Solothurner Regierung) nicht gesucht und beachtet habe; das Verbinden von Vorkommnissen, die nichts miteinander zu tun hätten, bedeute eine Verletzung von Richtlinie 2.3 (Vermischung von Fakten und Kommentar) und die NZZ habe auch nichts berichtigt, was Richtlinie 5.1 verletze.

C. Mit Beschwerdeantwort vom 4. März 2021 beantragten der Anwalt der NZZ und der Autor des Artikels, die Beschwerde sei abzuweisen. Gegenstand des Artikels sei ein «Update» über die neuesten Entwicklungen um die häufig thematisierten «Kirschblütler» gewesen, insbesondere darüber, dass die «echte Psychotherapie» nicht mehr von der Grundversicherung der Krankenkassen übernommen werde.

Der Lead mit der Bemerkung, sexuelle Handlungen seien nicht tabu, werde auf der Homepage der «Avanti-Ärztegesellschaft» ausdrücklich bestätigt. Dort heisse es, eine sexuelle Beziehung zwischen Therapeut und Klient schade in aller Regel dem Klienten, doch «darf man die Wahrnehmung einer solchen Möglichkeit nicht von vornherein ausschliessen, weder durch ein Tabu, noch durch ein Verbot. Der stimmige Umgang muss jedes Mal in einer lebendigen und wahrhaftigen Auseinandersetzung (…) herausgeschält werden». Die Aussage im Lead «sexuelle Handlungen sind dabei nicht tabu» sei damit korrekt.

Die Behauptung, «Avanti»-Ärzte setzten keine Rauschmittel ein, der Solothurner Regierungsrat habe das «amtlich» festgestellt, sei ebenfalls falsch: Zum einen habe der Regierungsrat nichts «amtlich festgestellt», sondern nur den Stand von Ermittlungen rapportiert. Das komme keiner offiziellen Stellungnahme zur inhaltlichen Frage gleich. Und die «Avanti-Ärztegesellschaft» berufe sich – etwa auf ihrer Website – nach wie vor auf die Theorie der «echten Psychotherapie» von Samuel Widmer. Dieser habe die Anwendung von Rauschmitteln empfohlen und betrieben. Rauschmittel seien im Übrigen nicht unbedingt nur illegale Betäubungsmittel.

Dass der Entscheid der ELGK nicht neu sei, weil «echte Psychotherapie» schon zuvor nicht als Heilmethode klassifiziert und damit auch nicht honoriert worden sei, bestreitet die NZZ nicht. Sie hält dazu fest, die Grenzen in dieser Hinsicht seien immer schon schwer zu ziehen und nachzuvollziehen gewesen, der Entscheid der Kommission habe in diesem Sinne vor allem eine notwendige Klärung gebracht. Etwas anderes behaupte der Artikel nicht.

Die behauptete Nähe von «Kirschblütlern» und «Avanti» sei nicht, wie von den BF behauptet, eine unzulässige Behauptung, sondern sie bestehe offensichtlich. Das zeige schon ein Blick auf die beiden Homepages, die je mehrfach aufeinander verwiesen.

Die Schilderung von zwei konkreten Einzelschicksalen aus Deutschland habe den einzigen Zweck gehabt, die Leserschaft vor der Gefährlichkeit der beschriebenen Methoden zu warnen. Es sei klar ersichtlich gewesen, dass es nicht um Fälle bei «Avanti»-Ärzten in der Schweiz gehe, sie zeigten aber auf, dass die Propagierung der «echten Psychotherapie» sektenartige Züge aufweise und offensichtlich vor illegalem Drogenkonsum und Gruppensex mit Therapeuten nicht zurückschrecke.

Zusammenfassend sei der Vorwurf eines Verstosses gegen die Pflicht zur Wahrheitssuche (Richtlinie 1.1) unbegründet, eine Aufdatierung im Rahmen eines Presseartikels könne nicht auf sämtliche zugänglichen Daten zurückgreifen, wie etwa die Stellungnahme einer Kantonsregierung auf eine Interpellation. Die im Artikel erwähnten Fakten stimmten.

Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) sei ebenfalls nicht tangiert, alle Fakten und Meinungen seien klar getrennt und zugeordnet. Und die Pflicht zur Anhörung (Richtlinie 3.8) sei nicht verletzt, weil «Avanti» im Artikel ausführlich zu Wort komme, zwar nicht nach einer direkten Anhörung, sondern gestützt auf schriftliche Stellungnahmen, die über die Zeit immer gleich gelautet hätten. Schliesslich könne von einem Verstoss gegen die Berichtigungspflicht (Richtlinie 5.1) nicht die Rede sein, es sei gar nie ein Antrag auf Berichtigung eingegangen. Zudem sei der Artikel materiell einwandfrei.

D. Am 16. März 2021 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus der Präsidentin Susan Boos sowie den Vizepräsidenten Dominique von Burg und Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 10. Juni 2021 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Richtlinie 1.1 zur «Erklärung» verlangt, dass die Informationstätigkeit die Beachtung aller verfügbaren Daten bedinge. Damit gemeint sind alle für das zu behandelnde Thema vernünftigerweise erforderlichen Daten, nicht alle irgendwie erdenklichen. Der Beschwerdegegnerin NZZ ist zuzustimmen, dass dies bei der vorliegenden Fragestellung nicht bedeuten kann, dass auch Interpellationen und Antworten von Kantonsregierungen zu berücksichtigen sind. Hinzu kommt hier, dass die vom Beschwerdeführer zitierten Antworten auf die fragliche Interpellation nicht wie behauptet alle Behauptungen «als haltlos» bezeichnen. Sie weisen im Wesentlichen nur darauf hin, dass Verfahren mangels Beweisen eingestellt worden seien. Richtlinie 1.1 ist damit ebensowenig verletzt wie mit der Darstellung der NZZ, wonach bei den «Kirschblütlern» Sex in der Therapie «kein Tabu» sei. Die Behauptung des BF, wonach diese Behauptung in einem Statement auf der «Avanti»-Webseite widerlegt sei, ist offensichtlich falsch. Der dafür angegebene Link führt zu einem Text «Zum Inzesttabu», in welchem das erwähnte Zitat nicht enthalten ist. Hingegen findet sich unter «Echte Psychotherapie» der Satz: «Obwohl in aller Regel eine sexuelle Beziehung zwischen Therapeut und Klient dem Klienten schadet und deshalb darauf verzichtet werden muss, darf man die Wahrnehmung einer solchen Möglichkeit nicht von vornherein ausschliessen, weder durch ein Tabu, noch durch ein Verbot. Der stimmige Umgang muss jedes Mal in einer lebendigen und wahrhaftigen Auseinandersetzung von Du zu Du herausgeschält werden, da sonst die Lebendigkeit der Beziehung verloren geht.» Die entsprechenden Darstellungen der NZZ («kein Tabu») sind durch das Beweismittel des BF nicht widerlegt, sondern bestätigt.

2. Wenn die NZZ davon ausging, dass «Kirschblütler» und «Avanti-Ärztevereinigung» miteinander verbunden sind, oder – wie der BF das umschreibt – wenn die NZZ sie «in einen Topf wirft», so entspricht dies nicht einer Vermischung von Bericht und Kommentar, sondern es ist als Tatsachendarstellung im Bericht zu werten. Die beiden Gruppen sind eng verbunden, nehmen gegenseitig aufeinander Bezug, die Ärztegemeinschaft «Avanti» beruft sich auf ihrer Website ausdrücklich und zuvorderst auf die «echte Psychotherapie» und die «Psycholyse» des verstorbenen «Kirschblüten»-Anführers Widmer, auf der «Kirschblüten»-Webseite sind auch «Avanti»-Stellungnahmen zu lesen. Somit liegt kein Verstoss gegen die Richtlinie 2.3 (Trennung von Fakten und Kommentar) vor.

3. Angesichts der Tatsache, dass die Ärztegesellschaft «Avanti» und die «Kirschblütler» zu den schweren, im Sinne von illegalen Vorwürfen (Drogen und Sex in der Therapie) schon verschiedentlich und immer gleich Stellung genommen haben und diese Position im Artikel auch deutlich abgebildet wurde, ist dem Erfordernis der Anhörung (RL 3.8) knapp Genüge getan. Die übrigen, neuen Elemente, die der Artikel aufbringt, entsprechen nicht «schweren» Vorwürfen im Sinne der Praxis des Presserates. Ein Verstoss gegen die Richtlinie 3.8 liegt ebenfalls nicht vor.

4. Eine Pflicht zur Berichtigung (Richtlinie 5.1) ist ebenfalls nicht gegeben. Der Presserat kann keine Verletzung der Wahrheitspflicht erkennen, entsprechend gibt es nichts zu berichtigen. Abgesehen davon hat der Beschwerdeführer offenbar auch keinen Antrag auf Berichtigung bei der NZZ gestellt. Das müsste er aber, der Presserat kann diese nicht anordnen. Somit liegt auch kein Verstoss gegen Richtlinie 5.1 vor.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Die «Neue Zürcher Zeitung» hat mit dem Artikel «Tantra- und Drogen-Psychiater bangen um Krankenkassengelder – doch ihren Feinden ist das noch lange nicht genug» die Ziffern 1 (Wahrheit), 2 (Kommentar), 3 (Unterschlagen wichtiger Informationen) und 5 (Berichtigungspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.