Nr. 23/2021
Entstellung von Tatsachen

(Aratnam c. «Schweizerzeit»)

Drucken

I. Sachverhalt

A. Vorgeschichte: Am 9. August 2020 veröffentlichte die «SonntagsZeitung» ein Interview mit dem Titel «Es sollte Integrationskurse für Schweizer geben». Darin nahm der aus Sri Lanka stammende Basler Soziologe Ganga Jey Aratnam Stellung zu Fragen, die sich zur Begrenzungsinitiative der SVP und, generell, zum Thema Migration stellen. Der Tenor der Antworten ist anerkennend bis bewundernd, was die Leistung der Schweiz im Bereich der Integration von Migranten, Migrantinnen betrifft. So etwa nach folgender Frage kurz nach Beginn des Interviews: «In der Schweiz gibt es keine Ghettos wie in Frankreich, keine brennenden Asylheime wie in Ostdeutschland. Und das trotz über einer Million Einwanderer allein innerhalb der letzten fünfzehn Jahre. Wie kommt das?» Die Antwort des Soziologen Aratnam: «Der Föderalismus hilft, gerade im Asylbereich. Die Asylsuchenden werden per Zufallsprinzip auf die Kantone verteilt. Sie können nicht sagen ‹Mein Onkel wohnt im Kanton Thurgau, ich will auch dahin.› Das ergibt eine Streuung, was eine Ghettoisierung verhindert und die Vielfalt fördert.» Aratnam geht im Interview weiter davon aus, dass die Zahl von Personen mit Migrationshintergrund noch erheblich zunehmen werde, egal was an Gesetzen beschlossen werde («Ist die Vielfalt einmal erreicht, kann man sie nicht mehr stoppen»), allein schon angesichts der Zahl von Ehen zwischen SchweizerInnen und AusländerInnen oder der grossen Zahl von Kindern von Migrantenfamilien. In diesem Zusammenhang machte er dann die Bemerkung, welche verschiedenenorts für Aufsehen sorgen sollte, wonach nicht nur Ausländer, sondern auch Schweizer und Schweizerinnen Integrationskurse besuchen müssten, um den Umgang mit AusländerInnen zu lernen, was angesichts der zahlenmässigen Entwicklung unumgänglich sei, spätestens – beispielsweise – wenn man sich im Altersheim von ausländischen Pflegepersonen umgeben finde.

Zur vorliegenden Beschwerde: Am 21. August 2020 veröffentlichte das (nach eigener Deklaration) bürgerlich-konservative Magazin «Schweizerzeit» online einen Artikel des früheren Bankmanagers, Ökonomieprofessors und SVP-Mitglieds Hans Geiger mit dem Titel «Es sollte Integrationskurse für Einheimische geben», «Die Provokation des Migrationsforschers». Im Lead wird auf die Frage des SonntagsZeitung-Journalisten hingewiesen («Können Sie nachvollziehen, dass [der Kulturwandel] einige Alteingesessene überfordert?»), worauf Aratnam erwidert habe, das verstehe er, deswegen sollte es Integrationskurse für Einheimische geben.

In seinem Artikel kombiniert Geiger eigene Gedanken zur Integration mit Gedanken, die er von Aratnam zitiert. Zunächst weist er darauf hin, dass die eben zitierte Äusserung Aratnams viel harsche Kritik ausgelöst habe, vor allem aus traditionell bürgerlichen Kreisen, einen Aufschrei, den er nicht verstehen könne. Er sei – schreibt Geiger dann – auch ein alteingesessener Überforderter. Er müsse im Integrationskurs dann zum Beispiel den Balkan-Slang lernen, oder ruhig zu bleiben, wenn er von Minderjährigen frech geduzt werde. Denn, wie Aratnam sage, wenn die Einheimischen sich nicht anpassten, würden sie zu Verlierern im eigenen Land. Der Autor charakterisiert Aratnam daraufhin als «kühlen Wissenschafter», der nach 25 Jahren im Land ein Bewunderer der Schweiz sei, welche mit Vielfalt gut umgehe. Aratnam lege dar, dass Migration kein globales Thema sei: Während global nur 3,5 Prozent der Menschen migrierten, sei der Anteil von Migranten in der Schweiz 30 Prozent.

Unter dem Zwischentitel «Da liegt er falsch» stellt Geiger dann fest, im Interview sei von «über einer Million Einwanderern in den letzten fünfzehn Jahren» die Rede. Das sei grundfalsch. Eigentlich seien es doppelt so viel. Nur wenn man diejenigen subtrahiere, die auswanderten, komme man auf eine Million. Es mache aber einen Unterschied für die Institutionen, ob eine oder zwei Millionen hierherkämen, die alle integriert werden müssten. Angesichts dessen und der jährlich eingebürgerten 40’000 Personen sei die integrative Leistung der Schweiz einmalig. Geiger spricht im Folgenden anerkennend über einzelne Thesen Aratnams, etwa mit der Feststellung, Aratnam habe recht, wenn er sage, die Integrationsprobleme zeigten sich vor allem ganz unten und ganz oben auf der sozialen Leiter. Geiger führt dazu selber das Beispiel eines Amerikaners an, der nach acht Jahren als operativer Chef der Credit Suisse genauso kein Wort Deutsch spreche oder verstehe wie ein eritreischer Asylbewerber. Schliesslich kommt Geiger unter dem Zwischentitel «Da liegt er hoffentlich falsch» auf Aratnams These zu sprechen, wonach die Vielfalt nicht mehr zu stoppen sei, wenn sie mal da sei. Er stellt zunächst fest, es sei schön, dass Aratnam zu ähnlichen Erkenntnissen komme wie die SVP. Es bleibe nur die Angst, dass er effektiv richtig liegen könnte, wenn er behaupte, «die Einwanderung lässt sich auch mit neuen Gesetzen nicht mehr bremsen». Wer seiner Prognose glaube, so schliesst Geiger seinen Artikel, «sollte sich rasch für einen Integrationskurs für Einheimische anmelden».

B. Mit Eingabe vom 19. November 2020 reichte Ganga Jey Aratnam, vertreten durch die Organisation «Fairmedia», Beschwerde gegen diesen Artikel der «Schweizerzeit» beim Schweizer Presserat ein. Der Beschwerdeführer (BF) macht eine Verletzung der Ziffer 3 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (im Folgenden «Erklärung») geltend, der Artikel unterschlage wesentliche Informationen und er entstelle Tatsachen und zwar im Abschnitt mit dem Zwischentitel «Da liegt er falsch».
Er geht dabei davon aus, dass Geigers Artikel von Anfang an darauf ausgelegt sei, die Thesen des Beschwerdeführers zu widerlegen und ihn als Wissenschaftler zu disqualifizieren. Das zeige etwa die Bemerkung, Aratnam sei ein «kühler Wissenschaftler» während er gleichzeitig seine Bewunderung für die Schweiz zeige. Damit werde ein Widerspruch zu wissenschaftlicher Herangehensweise konstruiert. Geigers Sichtweise impliziere, dass der BF das Thema jeweils falsch erkenne oder nicht richtig einordne.

Dies zeige sich insbesondere an der Stelle, an welcher Geiger festgestellt habe, Aratnam liege «grundfalsch», als er angesichts von einer Million Einwanderern in fünfzehn Jahren auf die in der Schweiz nicht existierenden Ghettos angesprochen werde. Zwar schreibe Geiger dort die Million Einwanderer nicht Aratnam zu (diese Behauptung war effektiv vom Interviewer gekommen, Geiger schreibt: «Im Interview ist die Rede von …»), er, Aratnam, gehe auf diesen Teil der Frage auch gar nicht ein, aber der Zwischentitel («Da liegt er falsch») nehme diese Zuordnung faktisch vor und weise die Qualifikation «grundfalsch» dem BF zu.

Der BF konzediert in seiner Begründung, dass er in seiner Antwort auf die Frage nach der Zahl der Einwanderer gar nicht eingegangen ist und dass die genannte Zahl auch gar nicht falsch sei, dass aber die Qualifikation von «grundfalsch» auf ihn gemünzt gewesen sei und ihn damit auf seinem Paradegebiet – Zahlen zur Migration – diskreditiere.

C. Gemäss Art. 13 Abs. 1 des Geschäftsreglements behandelt das Presserats-präsidium, bestehend aus Dominique von Burg, Präsident, sowie Casper Selg und Max Trossmann, Vizepräsidenten, Beschwerden, auf die der Presserat nicht eintritt.

D. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 12. April 2021 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Gestützt auf Art. 11 Abs. 1 seines Geschäftsreglements tritt der Presserat nicht auf eine Beschwerde ein, wenn diese offensichtlich unbegründet ist. Das ist hier der Fall.

Der Beschwerdeführer geht davon aus, dass der Artikel von Hans Geiger von Anfang an darauf ausgelegt sei, ihn als Wissenschaftler zu diskreditieren. Das träfe zu, wenn die zum Beleg dafür angeführten Bemerkungen effektiv alle ironisch gemeint gewesen wären. Das könnte man vielleicht annehmen, wenn in der «Schweizerzeit» mit ihrer migrationskritischen Haltung davon die Rede ist, dass jemand sich selber als «alteingesessener Überforderter» bezeichnet, der dann halt in Integrationskurse gehen müsse, um Balkan-Slang zu lernen. Wenn danach aber unter dem Titel «Ein Bewunderer der Schweiz» Anerkennendes über den Wissenschaftler Aratnam geäussert wird, vor allem wenn Thesen von ihm wiedergegeben werden, die sich offensichtlich mit denen des Schreibenden decken (Integration kein globales Thema, 3,5 Prozent Migranten weltweit versus 30 Prozent in der Schweiz), dann ist für den Presserat nicht ersichtlich, dass hier nur ironisch-diskreditierend über jemanden geschrieben wird.

2. Was die vom BF ausdrücklich monierte Stelle in Geigers Text angeht, so enthält dessen Zwischentitel «Da liegt er falsch» einen Fehler. Es ist in der Tat nicht «er», der BF gewesen, der die Million Eingewanderter erwähnt hat, sondern der Interviewer.

Im Text danach schreibt Geiger dann aber korrekterweise auch nur, «im Interview» sei die Rede gewesen von dieser Million und nicht davon, Aratnam habe von einer Million gesprochen. Der Sachverhalt wird damit erstens im Text selber nicht falsch formuliert, und zweitens ist der BF mit dem Autor ja auch einverstanden, was seine inhaltliche Bewertung in diesem Kontext angeht (Zitat Beschwerdeschrift: «… sei hier erwähnt, dass die Zahl … auch nicht per se falsch ist»). Das heisst, der Autor Geiger behauptet gar nichts, was die inhaltliche Position des BF «in seinem Paradegebiet – dem Aufzeigen von Zahlen zur Migration» (Zitat Beschwerdeschrift) – infrage stellen würde.

Damit fragt sich nur, ob der Zwischentitel mit seiner falschen Zuordnung allein einen Verstoss gegen die Ziffer 3 der «Erklärung» bildet. Der Presserat macht in seiner konstanten Praxis die Unterscheidung zwischen einem handwerklichen journalistischen Fehler und einem Verstoss gegen die Wahrheitspflicht, von der die Ziffer 3 der «Erklärung» eine Ausgestaltung bildet. Wenn ein Sachverhalt grundsätzlich korrekt dargestellt wird, in einer Schlagzeile aber eine falsche Zuordnung erfolgt, sieht der Presserat darin in der Regel einen handwerklichen Fehler. Wenn im vorliegenden Fall die falsche Zuordnung wirklich intendiert gewesen wäre, hätte der folgende Text anders lauten müssen. Zwar spricht der Autor auch dort von «grundfalsch» bezogen auf die Million Zuwanderer, er tut dies aber in einem Zusammenhang, in welchem er – wieder – die Grundüberlegungen des BF weitgehend teilt. Beispiele: Die Zahl von Zuwanderern; die Relevanz der Zahl derer, die jährlich das Schweizer Bürgerrecht erhalten; der Umstand, dass Integration bei einigen funktioniert, bei anderen nicht; dass das Problem ganz unten und ganz oben liegt; dass die Schweizer dazwischen im Sandwich stecken: Das alles sind Bestätigungen von Aussagen des Soziologen Aratnam, die Geiger selber teilt. Und unter dem Zwischentitel «Da liegt er hoffentlich falsch» stellt der Autor abschliessend fest, dass Aratnam nur beschreibe, was die «SVPler» schon lange sagten. Um dann zur Feststellung zu kommen, dass es traurig wäre, wenn Aratnam mit seiner Prognose, wonach sich die Einwanderung auch mit neuen Gesetzen nicht mehr bremsen liesse, recht behielte.

Kurz: Der Presserat geht nicht davon aus, dass der Autor des Artikels seinen ganzen Text darauf angelegt hatte, den Beschwerdeführer zu diskreditieren. Daher ist der Zuordnungsfehler in dem einen Zwischentitel zwar als journalistische Ungenauigkeit zu werten, aber nicht als Verstoss gegen die Ziffer 3 der «Erklärung».

Die Beschwerde ist somit offensichtlich unbegründet.

III. Feststellung

Der Presserat tritt auf die Beschwerde nicht ein.