Nr. 13/2021
Wahrheit / Berichtigungspflicht / Fairness

(X. c. «Neue Zürcher Zeitung»)

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I. Sachverhalt

A. Am 2. August 2020 erschien in der «Neuen Zürcher Zeitung» (NZZ) ein Artikel von Angelika Hardegger mit dem Titel «Tierärzte verdienen jeden zweiten Franken mit Antibiotika» und dem Untertitel «Eine Studie zur Kälbermast bestätigt einen alten Verdacht: Veterinäre haben kaum Interesse, den Einsatz von Antibiotika bei Nutztieren zu senken». Im folgenden Text wird darauf verwiesen, dass zu hoher Antibiotika-Einsatz in der Fleischbranche auch für die Menschen sehr schädlich sei, dass sich daran aber trotz politischer Initiativen wenig ändere, solange die Tierärzte mit den Margen auf Antibiotika mehr verdienten, je mehr sie davon verschrieben. Jetzt zeige eine Studie, wie gross der Anreiz sei: Bei gewissen Mastbetrieben generierten Tierärzte mehr als die Hälfte ihres Umsatzes (53 Prozent) durch den Verkauf von Antibiotika. Der Text erläutert danach, welche praktischen negativen Folgen dies insbesondere bei der Kälbermast habe, es wird verglichen mit den Zuständen im Ausland, wo etwa in Skandinavien Ärzte nur Rezepte ausstellten, ohne an den Medikamenten zu verdienen, es wird der höchste Tierarzt der Schweiz zitiert, der zu bedenken gibt, dass die dortigen Verhältnisse nicht mit der Schweiz vergleichbar seien, dass aber angesichts der Antibiotika-Resistenzen auch in der Schweiz ein Umdenken im Gang sei.

B. Am 10. September 2020 reichte X. (Beschwerdeführer, BF) Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Er macht geltend, der Titel des Artikels verletze die Ziffern 1 (Wahrheitsgebot) und 5 (Berichtigungspflicht) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») sowie deren Fairnessgebot.

Er bezeichnet die Schlagzeile als «reisserisch und schamlos übertrieben». Sie entspreche nicht den Erkenntnissen aus dem Artikel selber und erst recht nicht den Tatsachen, wie sie im Moment in der Schweiz bestehen. Die NZZ leite die Behauptung, «jeder zweite Franken» werde mit Antibiotika verdient aus dem Satz im Artikel her, wonach bei gewissen Mastbetrieben Tierärzte mehr als die Hälfte des Umsatzes (53 Prozent) durch den Verkauf von Antibiotika generierten. «Gewisse Mastbetriebe» seien aber nicht alle Mastbetriebe. Wenn im Weiteren generell von «Tierärzten» die Rede sei, dann komme dazu, dass nicht alle Tierärzte Mastbetriebe betreuten. Und selbst wenn man nur auf Tierärzte abstelle, die Mastbetriebe betreuten, seien diese jeweils nur «einer von vielen Betrieben», die der Arzt besuche. Schliesslich verwechsle die NZZ auch noch Umsatz mit Gewinn, wenn sie schreibe, die Tierärzte «verdienten» jeden zweiten Franken mit Antibiotika. Die Schlagzeile sei angesichts all dessen unwahr und verletze damit die Ziffer 1 der «Erklärung».

Die Ziffer 5 der «Erklärung» (Berichtigungspflicht) sieht der BF damit verletzt, dass die NZZ auf die Beschwerden von Tierärzten und deren Verband nicht eingetreten sei. Allein er selber habe der NZZ erfolglos zweimal geschrieben.

Das Fairnessgebot werde dadurch verletzt, dass die NZZ nicht nur hier, sondern zuvor schon verschiedentlich negativ über das Veterinärwesen berichtet und insbesondere auf die Nutztierwirtschaft «eingeprügelt» habe.

C. Mit Beschwerdeantwort vom 20. November 2020 beantragten die Inlandchefin der NZZ, Christina Neuhaus, und Simon Jakob vom Rechtsdienst (Beschwerdegegner, BG) Ablehnung der Beschwerde.

Sie machen geltend, der Titel des Artikels sei im Zusammenhang mit dem Untertitel/Lead zu lesen. Dieser mache deutlich, dass der Titel sich auf die Kälbermast beziehe. Die Verkürzung im Titel sei zulässig, weil sie durch den Untertitel unmittelbar präzisiert und ergänzt werde. Der BF habe recht, wenn er feststelle, dass sich der Titel auf den Satz im Artikel beziehe, der davon spreche, dass bei gewissen Mastbetrieben Tierärzte mehr als die Hälfte des Umsatzes (53 Prozent) durch den Verkauf von Antibiotika generierten. Dass mit «gewisse Mastbetriebe» die Kälbermast gemeint sei, ergebe sich dann zwei Sätze später. Der Inhalt der Schlagzeile sei also nicht sorgfaltswidrig.

Hinzu komme, dass es zentrale Aufgabe des Journalismus sei, Informationen in verständlicher Form zu vermitteln, welche die Leserschaft auch animiere, sich in einem folgenden Artikel vertieft mit einem Thema zu beschäftigen. Dazu müsse ein Titel kurz und bündig sein und die wesentlichste Aussage des Artikels wiedergeben. Damit sei zwangsläufig eine gewisse Verkürzung verbunden, wobei der Titel wahr und fair bleiben müsse. Das sei im vorliegenden Fall eingehalten worden.

Was die Verwendung des Verbs «verdienen» im Titel angeht, so sei auch dieses im Sinne einer umgangssprachlichen Verkürzung korrekt verwendet worden. Eine differenzierte Aufgliederung in Umsatz, Kosten, Gewinn könne jedenfalls in einem Titel nicht erwartet werden. Insgesamt liege keine Verletzung der Wahrheitspflicht vor.

Was die Ziffer 5 der «Erklärung», die Berichtigungspflicht, betreffe, so habe weder der BF noch vor ihm die Gesellschaft der Schweizer Tierärztinnen und Tierärzte (GST) je einen Antrag auf eine Berichtigung gestellt. Diese wäre angesichts des bereits Gesagten auch nicht angebracht gewesen. Bereits am 13. August 2020 hätten aber schon verschiedene Interessenvertreter des Veterinärwesens in einem Leserbrief zum Artikel Stellung nehmen können, die NZZ habe auch mit dem Geschäftsführer der GST Kontakt gehabt, man habe auch ihr einen Leserbrief angeboten, sie habe aber darauf verzichtet.

Dass die NZZ mit den übrigen Medien auf die Nutztierwirtschaft einprügle und damit gegen das Fairnessprinzip verstosse, bestreitet die Redaktion. Die NZZ verfolge die agrarpolitischen Debatten aus verschiedenen Blickwinkeln und unter klarer Trennung von Bericht und Kommentar. Dem Fairnessprinzip werde Rechnung getragen.

D. Am 15. Dezember 2020 teilte der Presserat den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium behandelt, bestehend aus dem Präsidenten Dominique von Burg sowie den Vizepräsidenten Casper Selg und Max Trossmann.

E. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 31. März 2021 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.

II. Erwägungen

1. Die Beschwerde richtet sich ausschliesslich gegen den Titel des Artikels. Dass Tierärzte jeden zweiten Franken mit Antibiotika verdienen, ist eine Aussage im Titel, die so allgemein nicht stimmt und die so generell auch nicht mit dem Inhalt des Artikels übereinstimmt. Es sind nur bestimmte Tierärzte und auch die nur im Rahmen ihrer Tätigkeit speziell in der Kälbermast, von denen später die Rede ist, sowohl im Artikel wie auch in der Studie, auf die er sich bezieht. Nun titelt die NZZ allerdings auch nicht, «Die Tierärzte verdienen …», sondern sie lässt den bestimmten Artikel weg und schreibt «Tierärzte verdienen …». Damit tönt sie an, dass nicht die Gesamtheit aller Tierärzte gemeint ist.

Damit stellt sich die Frage, ob der Titel in seiner Verkürzung und in der Verbindung mit seinem Untertitel (Lead) dennoch als zulässige Verkürzung gelten kann, wie die NZZ das geltend macht.

Das Präsidium des Presserates hat diese Frage kontrovers diskutiert und ist zum Schluss gekommen, dass zum einen die Relativierung im Titel durch das Fehlen des bestimmten Artikels, zum andern die Reduktion auf die «Studie zur Kälbermast» im Untertitel als Präzisierung knapp ausreichen, um nicht von einer unzulässigen Verallgemeinerung und damit eigentlichen Verletzung der Wahrheitspflicht im Titel auszugehen. Der Presserat berücksichtigt dabei, dass die Studie, welche die NZZ ihrer Antwort beilegte, die wirtschaftlich bedeutende Rolle der Umsätze mit Antibiotika für sogenannte Nutztierpraxen herausstreicht. Nutztierpraxen sind Tierarztpraxen, die einen beträchtlichen bis überwiegenden Teil ihrer Umsätze mit Kälbermastbetrieben sowie sogenannten Fresser- und Munimastbetrieben machen. Und mehr als die Hälfte des Umsatzes mit diesen Mastbetrieben erzielen solche Tierärzte mit dem Verkauf von Antibiotika.

Der Presserat macht in seiner Praxis einen Unterschied zwischen einer journalistischen Ungenauigkeit und einer eigentlichen Verletzung der Wahrheitspflicht. Stark verkürzende, weit gehende Titel sind möglichst frühzeitig (bereits im Untertitel oder Lead) zu relativieren (so die Entscheide 46/2019, 54/2018, 4/2011, 58/2007). Die weit gehende Verallgemeinerung im Titel beurteilt er aufgrund der Relativierungen in Titel und Lead als journalistische Ungenauigkeit.

2. Dasselbe gilt für die Verwendung des Wortes «verdienen»: Der 53-Prozent-Anteil, welchen die betreffenden Veterinäre Mastbetrieben für Antibiotika in Rechnung stellen, ist in der Tat nicht reiner Verdienst, sondern Umsatz. Auch hier sieht der Presserat im Rahmen der Verkürzung in einem Titel keine Falschaussage, sondern eine zwar ungenaue, aber gerade noch zulässige Umschreibung von Umsatz.

Die Ziffer 1 der «Erklärung» ist damit knapp nicht verletzt.

3. Der Beschwerdeführer macht geltend, die NZZ sei ihrer Berichtigungspflicht nicht nachgekommen. Gemäss Ziffer 5 der «Erklärung» hätte dies unverzüglich zu erfolgen, sobald die Redaktion einen Fehler feststellt. Mehrere Personen und die Gesellschaft der Schweizer Tierärztinnen und Tierärzte haben bei der NZZ interveniert, sie auf die Schlagzeile angesprochen. Da der Presserat aber hinsichtlich der Schlagzeile nicht auf eine Falschaussage entscheidet, entstand entsprechend auch keine Verpflichtung zur Richtigstellung. Die Ziffer 5 der «Erklärung» ist nicht verletzt.

4. Der Beschwerdeführer sieht das in der «Erklärung» festgehaltene Fairnessprinzip verletzt, weil der vorliegende kritische Bericht gegenüber den Veterinären sich einreihe in ein allgemeines «Einprügeln der Medien» auf das Veterinärwesen. Ob dieser Vorwurf berechtigt ist, kann der Presserat nicht beurteilen, da ihm dafür keine Belege vorgelegt wurden. Eine Verletzung des Fairnessprinzips kann nicht festgestellt werden.

III. Feststellungen

1. Der Presserat weist die Beschwerde ab.

2. Die «Neue Zürcher Zeitung» hat mit dem Artikel «Tierärzte verdienen jeden zweiten Franken mit Antibiotika» vom 2. August 2020 die Ziffern 1 (Wahrheit) und 5 (Berichtigungspflicht) sowie das Fairnessprinzip der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» nicht verletzt.