I. Sachverhalt
A. Am 3. August 2003 berichtete Lukas Egli für die «SonntagsZeitung» über eine «Krisenstimmung» an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) in Birmensdorf. Mitarbeiter aller Hierarchiestufen würden dem Direktor gravierende Führungsmängel vorwerfen. Zudem sei das Arbeitsklima miserabel. Ein der «SonntagsZeitung» vorliegender Schlussbericht einer durch den ETH-Rat eingeleiteten Administrativuntersuchung habe die Vorwürfe weit gehend bestätigt. Trotzdem sei der ETH-Rat untätig geblieben und habe der Bundesrat bei der Beantwortung einer parlamentarischen Interpellation dem «umstrittenen Direktor» das Vertrauen ausgesprochen. Der WSL-Direktor konnte in einem kurzen Interview zu den Vorwürfen Stellung nehmen. Er wies die Vorwürfe als unzutreffend zurück.
B. Am 10. August 2003 druckte die «SonntagsZeitung» eine Reihe von Leserbriefen zur Berichterstattung der Vorwoche ab. In einem kurzen redaktionellen Text wies die «SonntagsZeitung» darauf hin, Angestellte der WSL hätten ihrem Direktor mit einer «organisierten Leserbrief-Aktion» den Rücken gestärkt. «Der Brief wurde per E-Mail an sämtliche WSL-Mitarbeiter verschickt mit der Aufforderung, die Protestnote zu unterstützen – per Mausklick. Um Mitunterzeichner zu werden, genügte es, das E-Mail an den Absender, einen WSL-Kadermann, zu retournieren. 140 von rund 500 Angestellten haben den Brief auf diese Weise elektronisch quittiert – ein Anteil, der WSL-intern als hoch gewertet wird.»
C. Am 7. September 2003 berichtete die «SonntagsZeitung» unter dem Titel «Harte Kritik am ETH-Rat» und dem Untertitel «Aufsichtspflicht gravierend vernachlässigt» über eine Aufsichtsbeschwerde, die ein Zürcher Rechtsanwalt im Auftrag eines WSL-Kaderangestellten beim Bundesrat eingereicht habe. Der Anwalt werfe darin dem ETH-Rat vor, ein «inquisitorisches Verfahren» gegen seinen Klienten zu decken. Der WSL-Direktor habe Mitarbeiter – auch ehemalige – aufgefordert, seinen Klienten schriftlich zu denunzieren. Der Direktor habe «40 teils anonyme Dokumente» zusammengetragen, die er dem Angeschuldigten mit der Aufforderung zur Stellungnahme zugestellt habe. Der Rechtsanwalt habe sich in der Folge an den ETH-Rat gewandt. Statt die ihm unterbreiteten Fragen zu beantworten, habe dieser versichert, dass der WSL-Direktor sein volles Vertrauen geniesse. Laut der Aufsichtsbeschwerde führe der WSL-Direktor ein Verfahren, bei dem er sich «gleichzeitig als Untersuchungsrichter, Ankläger und Richter in eigener Sache versteht». «Das Vorgehen spotte jeglicher Rechtsstaatlichkeit». «Die Aufsichtsbeschwerde wirft einmal mehr Fragen zu den Führungsqualitäten des Direktors auf. (…) Zwar stellte der ETH-Rat dem WSL-Direktor einen Coach zur Seite. Doch statt eines externen Betreuers setzte er einen Stiftungsratskollegen ein.» Auf seiner Homepage führe der WSL-Direktor fein säuberlich sämtliche Mitgliedschaften auf – mit Ausnahme der Stiftung, in welcher er mit dem genannten Coach sitze.
D. Am 17. September 2003 gelangte die WSL durch ihren Medienbeauftragten Fredi Lüthin mit einer Beschwerde gegen den Artikel der «SonntagsZeitung» vom 7. September 2003 an den Presserat. Trotz der erneut schweren gegenüber ihm erhobenen Vorwürfen sei der WSL-Direktor darin nicht zu Wort gekommen. Entgegen der Darstellung des Artikels führe der Direktor zudem auch die Mitgliedschaft in der fraglichen Stiftung auf seiner Homepage auf. Eine entsprechende Berichtigung durch die «SonntagsZeitung» sei nicht erfolgt, obwohl sie bereits am 9. September 2004 auf den Fehler aufmerksam gemacht worden sei.
E. In einer Stellungnahme vom 13. November 2003 wies die durch den Rechtsdienst der Tamedia AG vertretene «SonntagsZeitung» die Beschwerde als unbegründet zurück, soweit darauf einzutreten sei. Der Artikel vom 7. September 2003 habe zur Hauptsache von der Kritik am ETH-Rat gehandelt. Anders als im Artikel vom 3. August 2003 sei es nur nebenbei um Vorwürfe an die Adresse des WSL-Direktors gegangen. Die Leserschaft habe sich dazu auf der Grundlage des konkreten Ausgangssachverhalts eine eigene Meinung bilden können. Eine Konfrontation des WSL-Direktors mit den Werturteilen des Anwalts der Gegenpartei sei nicht erforderlich gewesen. Ebenso sei der Vorwurf der Verletzung der Berichtigungspflicht unbegründet, da entgegen der Darstellung der Beschwerdeführerin dem Homepage-Eintrag gerade nicht zu entnehmen sei, dass der WSL-Direktor Mitglied des Stiftungsrates sei. Denn der auf der Homepage vermerkte Umstand, dass er Leiter einer Forschungsstelle dieser Stiftung sei, lasse keineswegs den Schluss zu, dass er auch dem Stiftungsrat angehöre.
F. Gemäss Art. 10 Abs. 7 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserates kann das Präsidium zu Beschwerden, die in ihren Grundzügen mit vom Presserat bereits früher behandelten Fällen übereinstimmen oder sonstwie von untergeordneter Bedeutung erscheinen, abschliessend Stellung nehmen.
G. Am 19. November 2003 erklärte der Presserat den Schriftenwechsel als geschlossen und teilte den Parteien mit, die Beschwerde werde vom Presseratspräsidium, bestehend aus dem Präsidenten Peter Studer sowie den Vizepräsidenten Esther Diener-Morscher und Daniel Cornu behandelt.
H. Mit Schreiben vom 9. Januar 2004 orientierte der Presserat die Parteien, dass Vizepräsident Daniel Cornu per 31. Dezember 2003 zurückgetreten und per 1. Januar 2004 durch Sylvie Arsever ersetzt worden sei.
I. Das Presseratspräsidium hat die vorliegende Stellungnahme per 3. März 2004 auf dem Korrespondenzweg verabschiedet.
II. Erwägungen
1. Die Beschwerdeführerin erhebt drei Rügen: Eine Unterlassung der Anhörungspflicht (Richtlinie 3.8 zur «Erklärung»; nachfolgend Ziffer 2 der Erwägungen), die Verletzung der Wahrheitspflicht (Ziffer 1 der «Erklärung») sowie damit zusammenhängend die Unterlassung einer gebotenen Berichtigung (Ziffer 5 der «Erklärung; nachfolgend Ziffer 3 der Erwägungen).
2. a) Die Beschwerdeführerin sieht die Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» verletzt, weil der WSL-Direktor im Artikel vom 7. September 2003 trotz der erneuten auch ihm gegenüber erhobenen schweren Vorwürfen diesmal nicht Gelegenheit erhalten habe, dazu Stellung zu nehmen. Denn Vorwürfe, wie er führe «ein inquisitorisches Verfahren», «denunziere» den davon betroffenen Mitarbeiter und das ganze Verfahren «spotte jeder Rechtsstaatlichkeit», seien massiv.
b) Die «Sonntags-Zeitung» wendet dazu ein, der WSL-Direktor sei im Artikel vom 7. September 2003 nicht im Zentrum der Kritik gestanden. Sie habe die Vorwürfe zudem nicht direkt erhoben, sondern lediglich Vorwürfe eines Anwalts wiedergegeben, deren Grundlagen die Beschwerdeführerin nicht bestreite. Die Leserschaft sei also über einen zutreffenden Sachverhalt informiert worden und habe erfahren, was der Anwalt der Gegenseite davon hält. Sie habe auch ohne Statement des WSL-Direktors erkannt, dass dieser die Sache bestimmt anders sehe. Die Anhörungspflicht bestehe bei Tatsachendarstellungen, die jemandem ein Tun vorwerfen, das rechtlich oder moralisch verwerflich ist, und nicht bei subjektiven Werturteilen über feststehende Tatsachen. «Werden Meinungen, Wertungen und dergl. publiziert, kann auf eine Anhörung verzichtet werden, wenn die Leserschaft aufgrund der korrekten Sachverhaltsdarstellung selber feststellt, dass man es mit einer Qualifikation zu tun hat, die der Adressat der Kritik mit Sicherheit nicht teilt.» Diese Voraussetzungen seien vorliegend erfüllt gewesen, weshalb die Konfrontation der Gegenseite mit den Vorwürfen des Anwalts nicht erforderlich gewesen sei.
c) Richtlinie 3.8 lautet: «Aus dem Fairnessprinzip und dem ethischen Gebot der Anhörung beider Seiten (ÐAudiatur et altera parsð) leitet sich die Pflicht der Journalistinnen und Journalisten ab, Betroffene vor der Publikation schwerer Vorwürfe anzuhören
. Deren Stellungnahme ist im gleichen Medienbericht kurz und fair wiederzugeben. Ausnahmsweise kann auf die Anhörung verzichtet werden, wenn dies durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt ist. Der von schweren Vorwürfen betroffenen Partei muss nicht derselbe Umfang im Bericht zugestanden werden wie der Kritik. Aber die Betroffenen sollen sich zu den schweren Vorwürfen äussern können.»
Eine Anhörung des WSL-Direktors war dementsprechend vorliegend dann unabdingbar, falls die an ihm geäusserte Kritik schwere Vorwürfe im Sinne der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» enthielt. Dies gilt unabhängig davon, ob dieser im beanstandeten Artikel vom 7. September 2003 im Zentrum stand oder nicht (vgl. z.B. die Stellungnahmen 14/1999 und 14 und 25/2001) und ob Vorwürfe von der Redaktion oder einem Dritten erhoben werden (49/2002).
d) Auch wenn ihre Leserschaft, wie dies die «SonntagsZeitung» geltend macht, Vorwürfe einer Partei in einem hängigen Verfahren möglicherweise mit einer gewissen Vorsicht aufnehmen wird, ändert dies nichts daran, dass die mit der Richtlinie 3.8 bei schweren Vorwürfen sowohl zur vollständigen Information des Publikums wie auch unter Fairnessgesichtspunkten angestrebte minimale Berücksichtigung der Argumente beider Seiten vorliegend nicht gewährleistet war. Zumal nicht nur die Wertungen der Parteien, sondern auch der diesen zugrundeliegende Sachverhalt offenbar zumindest in einem zentralen Punkt auseinandergehen. Aufgrund der Vorwürfe des Rechtsanwalts erhält die Leserschaft den Eindruck, der WSL-Direktor habe das beanstandete («inquisitorische» und «jeglicher Rechtsstaatlichkeit spottende») Verfahren von sich aus inszeniert, um mit Hilfe von «Denunziationen» einen unliebsamen Mitarbeiter loszuwerden. Demgegenüber machte die Beschwerdeführerin in einem am 14. September 2003 von der «SonntagsZeitung» abgedruckten Leserbrief geltend, dass der WSL-Direktor für die gegen den Mitarbeiter geführte Untersuchung einen offiziellen Auftrag gehabt habe. Selbst der Autor der Artikel, Lukas Egli, räumte in einem E-Mail an WSL-Pressesprecher Fredi Lüthin nachträglich ein, dass es angezeigt gewesen wäre, dem WSL-Direktor auch im Artikel vom 7. September 2003 eine Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, zumal es sich um neue Vorwürfe gehandelt habe. «Ich bitte Sie, diese Unterlassungssünde, hinter der keine böse Absicht steht, zu entschuldigen. Ich hatte meine Recherche so auf den ETH-Rat fokussiert, dass die WSL beinah aus dem Blickfeld geriet.» Dieser Auffassung kann sich der Presserat nur anschliessen und dementsprechend eine Verletzung der Richtlinie 3.8 zur «Erklärung» feststellen.
3. a) Die Parteien streiten sich weiter darüber, ob die Passage im Artikel vom 7. September 2003 «Auf seiner Homepage führt X. sämtliche Stiftungsmitgliedschaften auf, mit Ausnahme der Y.-Stiftung, in welcher er mit Coach Z. sitzt» unwahr ist und deshalb nachträglich hätte berichtigt werden müssen. Der Autor sei rechtzeitig auf den Fehler hingewiesen worden.
b) Die «SonntagsZeitung» entgegnet dazu, wer den Homepageeintrag anschaue, könne daraus nicht entnehmen, dass der WSL-Direktor Mitglied der Y.-Stiftung sei. Er werde darin als Leiter einer Forschungsstelle aufgeführt, die anscheinend zur Y.-Stiftung gehöre. Dieser Hinweis zwinge nicht zum Schluss, der WSL-Direktor sei auch Y.-Stiftungsrat. Da die Darstellung der «SonntagsZeitung» damit korrekt gewesen sei, habe sich eine Berichtigung erübrigt. Eine solche habe die Beschwerdeführerin zudem nie ausdrücklich verlangt, sondern bloss einen Leserbrief zum Abdruck eingereicht.
d) Auch wenn für den Presserat aus den ihm vorliegenden Unterlagen nicht eindeutig ersichtlich wird, ob nun der WSL-Direktor sowohl Leiter einer Forschungsstelle der Y.-Stiftung und gleichzeitig auch Stiftungsrat ist oder nicht, lässt sich jedenfalls zweierlei feststellen: Zum einen fällt auf, dass sich der Homepageeintrag hinsichtlich der Y.-Stiftung tatsächlich von den anderen Einträgen insofern unterscheidet, als bei den anderen Stiftungen jeweils die Zugehörigkeit zum Stiftungsrat klar vermerkt ist. Zum anderen kann aber trotz dieser Unklarheit entgegen der Darstellung des «SonntagsZeitungs»-Artikels vom 7. September 2003 keine Rede davon sein, dass die «Mitgliedschaft» bei der Y.-Stiftung auf der Homepage gänzlich unterschlagen würde. Denn abgesehen davon, dass die Verwendung des Terminus «Mitgliedschaft» im Zusammenhang mit einer Stiftung fachsprachlich nicht passend erscheint, geht aus dem Eintrag «Leiter der (…) Forschungsstelle für angewandten Natur- und Umweltschutz der Y.-Stiftung» doch zumindest hervor, dass der WSL-Direktor offensichtlich eine enge Beziehung mit dieser Stiftung hat.
Selbst wenn man von der Sachverhaltsdarstellung der «SonntagsZeitung» ausgeht, hätte – angesichts des zumindest implizit erhobenen Vorwurfes eines verheimlichten Interessenkonfliktes – auf diesen Umstand bereits im ursprünglichen Artikel oder wenigstens in einer nachträglichen Präzisierung hingewiesen werden müssen. Denn auch mit dem Abdruck des Leserbriefs der Beschwerdeführerin in der «SonntagsZeitung» vom 14. September 2003 ändert sich grundsätzlich nichts daran, dass Journalisten gemäss Ziffer 5 der «Erklärung» unrichtige Fakten von sich aus und nicht erst auf ausdrückliche Aufforderung zu berichtigen haben. Die Veröffentlichung eines Leserbriefs stellt keinen vollwertigen Ersatz für eine redaktionelle Berichtigung dar. Denn ein Leserbrief gibt bloss die Meinung des Autors wieder, die sich nicht mit der Sicht der Redaktion decken muss. Aus Sicht der Leserschaft ist es deshalb wünschenswert, wenn sie über den tatsächlichen Sachverhalt informiert wird, sei dies in Form einer «Anmerkung der Redaktion» zum Leserbrief oder als separate Berichtigung der Zeitung.
Die Redaktion der «SonntagsZeitung» hatte spätestens mit der Zustellung des Leserbriefs der Beschwerdeführerin Kenntnis davon, dass ihre Sachverhaltsdarstellung zumindest unscharf war und hätte deshalb zumindest die geforderte «Anmerkung zum Leserbrief» veröffentlichen sollen. Umgekehrt mag es aus Sicht der betroffenen Redaktion trotzdem etwas kleinlich erscheinen, dass die Beschwerdeführerin die formelle Verletzung der Berichtigungspflicht in ihrer Beschwerde an den Presserat noch rügt, nachdem sie doch immerhin ihre Faktendarstellung mit dem Abdruck des Leserbriefes öffentlich machen konnte.
III. Feststellungen
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.
2. Angesichts der von der «SonntagsZeitung» wiedergegebenen schweren Vorwürfe eines Dritten hätte sie den WSL-Direktor auch vor der Publikation des Berichts vom 7. September 2003 anhören und dessen Stellungnahme kurz wiedergeben müssen, auch wenn dieser nicht im Zentrum der Kritik stand.
3. Die «SonntagsZeitung» hätte ihre zumindest unscharfe Darstellung über einen angeblich unterschlagenen Interessenkonflikt des WSL-Direktors entweder mit einer separaten Richtigstellung oder in einer entsprechenden Anmerkung zum Leserbrief der Beschwerdeführerin präsizieren müssen.