Nr. 29/2011
Berichtigung / Gegendarstellung / Nachträgliche Anonymisierung in Online-Medien und digitalen Archiven

I. Sachverhalt

A. Bei der Beratung der Stellungnahme 26/2010 setzte sich die 3. Kammer des Presserates mit den unerwünschten Folgen der digitalen Verbreitung von Informationen auseinander. Ein Beschwerdeführer beanstandete die Veröffentlichung eines verkürzenden Titels auf «Tages-Anzeiger Online». Die Redaktion gab dem Wunsch prompt nach. Trotzdem war die Schlagzeile noch einige Zeit weiterhin in ihrer ursprünglichen Form im Internet auffindbar. Darüber beschwerte sich der Betroffene beim Presserat. Für die 3. Kammer stellte sich die Frage, was berufsethisch in derartigen Situationen von einer Redaktion zu fordern und was technisch machbar ist, welche Anforderungen an die Verknüpfung von Berichtigung/Gegendarstellung mit dem ursprünglichen Text zu stellen sind sowie ob und falls ja, unter welchen Voraussetzungen jemand von einer Redaktion die (nachträgliche) Anonymisierung eines Berichts verlangen kann. Die 3. Kammer beschloss, die Fragen dem Plenum zu unterbreiten.

B. An seiner Sitzung vom 1. September 2010 beauftragte das Plenum des Presserats gestützt auf Art. 6 Abs. 2 des Geschäftsreglements die 3. Kammer, eine grundsätzliche Stellungnahme zu diesen Themen auszuarbeiten.

C. Die 3. Kammer hörte am 17. November 2010 Simon Canonica (Rechtsdienst Tamedia), Nathalie Glaus (Anwaltsbüro Glaus & Partner), Andreas Thut (NZZ Online), sowie Hansi Voigt (Chefredaktor «20 Minuten Online») als Expert/innen an. Zudem führten Mitglieder der Kammer am 11. Februar 2011 ein Gespräch mit Daniel Schönberger (Leiter Rechtsabteilung Google Schweiz) und eines mit Jürg Mumprecht (Geschäftsführer der Schweizerischen Mediendatenbank – SMD).

Laut den angehörten Experten sind Begehren auf Änderungen im Archiv nicht sehr häufig (bei Tamedia rund 10 Gegendarstellungen und 100 Korrigenda jährlich, bei der SMD 4 bis 5 Änderungsbegehren monatlich). Die Begehren nähmen in letzter Zeit jedoch zu. Bei offensichtlichen inhaltlichen Fehlern werde rasch und unbürokratisch reagiert. Dann würden die eigenen Internet-Artikel korrigiert und die Datenbanken beauftragt, Änderungen vorzunehmen.

Simon Canonica (Tamedia) sagte, ob eine Korrektur oder Löschung vorgenommen werde, sei in der Regel nicht von der technischen Machbarkeit abhängig, sondern davon, ob das Begehren rechtlich begründet sei. Es gebe bei Tamedia dazu keine allgemeingültigen Hausregeln. Je nach Redaktion werde mit Änderungsbegehren unterschiedlich umgegangen. Rein technisch seien Korrekturen nicht sehr aufwändig. In den meisten Fällen gehe es um Anonymisierung und damit darum, dass ein Artikel über die Suche des Namens nicht mehr erscheint. Die schnelle Umsetzung von berechtigten Änderungsbegehren sei im Interesse von Tamedia, da dies eine Klage verhindern könne.

SMD und Google akzeptieren Änderungsbegehren nach eigenen Angaben nur vom Urheber der Information, also von den Medienhäusern, oder wenn Änderungen gerichtlich angeordnet sind. Eine Änderung werde dann innert weniger Tage vorgenommen. Ändern Redaktionen die Artikel im Internet, werde die neue Version übernommen und die alte sei nach kurzer Zeit über Google nicht mehr zu finden, sagte Daniel Schönberger. Wie schnell der Google Cache gelöscht wird, hängt davon ab, wie häufig der Webcrawler von Google eine Website abtastet. Bei Newsseiten, die mehrmals täglich abgetastet werden, ist der alte Text spätestens nach einem Tag überschrieben. Bei eher statischen Seiten könne es zwei bis drei Wochen dauern. Der Inhaber der Webseite könne das Verfahren aber beschleunigen, indem er über das von Google zur Verfügung gestellte Webmastertool die Löschung des fraglichen Textes bei Google beantrage.

Anders sieht es für Jürg Mumprecht (SMD) aus. Zwar sei es technisch kein Problem, ein PDF nachträglich abzuändern, wenn es auch je nach verwendeter Software mit einigem technischen Geschick möglich sei, die ursprüngliche Fassung wieder zu rekonstruieren. Das PDF-Dokument sei jedoch ein historisches Dokument, wie eine Zeitung im Papierarchiv. Abgeändert werde deshalb grundsätzlich nur das Textfile, nicht aber das PDF-Dokument mit demselben Artikel. Damit sei gewährleistet, dass die Originalversion – mit einem Vermerk zur vorgenommenen Änderung – weiterhin zugänglich sei. Das PDF-Dokument sei über die Suche nicht erschlossen. Da die SMD-Artikel durch ein Passwort geschützt sind, werden sie von Google nicht übernommen.

Dass die ursprüngliche Version der Artikel auf anderen Internetseiten weiter abrufbereit ist, stellt laut Simon Canonica in der Praxis kaum ein Problem dar. Wenn die Betreiber der Seite auf die Korrektur aufmerksam gemacht würden, passten sie den Artikel ohne Weiteres an.

Gegendarstellungen werden laut Andreas Thut (NZZ) im Internet in einer Box neben den Lauftext gestellt. Korrekturen würden in der Regel nicht besonders gekennzeichnet, da die Texte online ohnehin laufend aktualisiert würden. Zusätzlich zur Änderung im Internet würden die Mediendatenbanken avisiert. Laut Simon Canonica verfährt Tamedia ähnlich. Auch für die SMD ist es laut Jürg Mumprecht technisch kein Problem, Gegendarstellungen und Berichtigungen mit dem ursprünglichen Artikel zu verlinken. Gerade Berichtigungen seien je nach ihrem Titel aber nicht immer als solche erkennbar. Deshalb sei die SMD auf Informationen der Medienhäuser angewiesen. Mit einer permanenten Aktualisierung der SMD sei aber noch lange nicht gewährleistet, dass sich Journalist/innen bei ihrer Recherche auf korrekte Informationen stützten. Medienschaffende informierten sich auch bei anderen Datenbanken wie Factiva (Reuters), Genios und APA sowie Argus und Pressemonitoring.

Glaus & Partner raten den Klienten gemäss Nathalie Glaus häufig davon ab, eine Gegendarstellung und/oder Berichtigung zu verlangen, da dies eine erneute Veröffentlichung zum Thema mit Namen zur Folge hätte. Eine gute Alternative sei es, die Gegendarstellung und/oder Berichtigung nur fürs Archiv und fürs Internet zu verlangen. Würde in Mediendatenbanken die Verlinkung zwischen Ursprungsberichten und Gegendarstellungen/Berichtigungen konsequent gewährleistet, wären Löschungen nicht mehr vordringlich, sagte Glaus. Wichtig sei es, dass Änderungen möglichst rasch umgesetzt würden, da sich falsche Informationen im Internet sehr schnell verbreiten könnten.

Tamedia bietet laut Simon Canonica bei aktuellen Artikeln Hand zur nachträglichen Anonymisierung, wenn das Begehren berechtigt erscheint. Bei Archivberichten akzeptiere Tamedia hingegen keine Begehren auf nachträgliche Anonymisierung und/oder Berichtigung. Generell seien solche Begehren sehr selten. Andreas Thut ist kein solches Begehren bekannt.

D. Ende 2010 hat mit dem Amtsgericht Luzern-Land erstmals ein Schweizer Gericht die SMD gestützt aufs Datenschutzgesetz gezwungen, einen 2008 publizierten Artikel mit einem nachträglichen Vermerk zu versehen. Mehrere Medien hatten seinerzeit zutreffend berichtet, einer öffentlich bekannten Person drohe ein Strafverfahren. Da ein Gutachten den Prominenten entlastete, leitete der Staatsanwalt dann doch kein Verfahren ein; das aber meldete nur noch eine Lokalzeitung. Da die Entlastung in der SMD nicht ersichtlich war, klagte der Betroffene erfolgreich, das Archiv sei zu verpflichten, die ursprünglichen Texte mit einem Vermerk zu ergänzen. Das Gericht argumentierte: Die Meldungen in der SMD seien zwar zur Zeit ihres Erscheinens richtig gewesen, heute aber seien sie es nicht mehr («Richtigkeit in der Zeit»). Das Anbringen des Vermerks belaste die SMD «nicht übermässig». Das Gericht befahl und formulierte die Ergänzung in zwei Sätzen.

E. Die 3. Kammer – ihr gehören Esther Diener-Morscher als Präsidentin an sowie Claudia Landolt Starck, Jan Grüebler, Peter Liatowitsch, Markus Locher, Max Trossmann und Daniel Suter – hat den Entwurf der Stellungnahme an ihrer Sitzung vom 16. März 2011 sowie auf dem Korrespondenzweg diskutiert.

F. Das Plenum des Presserats hat die Stellungnahme an seiner Sitzung vom 11. Mai 2011 verabschiedet.

II. Erwägungen

1. a) Gemäss Artikel 1 Absatz 4 seines Geschäftsreglements erstreckt sich die Zuständigkeit des Schweizer Presserates auf den redaktionellen Teil oder damit zusammenhängende berufsethische Fragen sämtlicher öffentlicher, periodischer und/oder auf die Aktualität bezogener Medien.

b) In der Stellungnahme 36/2000 hat sich der Presserat dazu geäussert, inwieweit er sich zuständig sieht, via Internet verbreitete Inhalte zu beurteilen. Er bejaht seine Zuständigkeit dann, wenn die veröffentlichten Inhalte einen journalistischen Produktionsprozess durchlaufen haben: «Auch Portale, Suchmaschinen und Websites von Unternehmen betreiben Quasi-Journalismus, ohne die journalistischen Definitionsmerkmale und Regeln einzuhalten. Deshalb gelten als Online-Journalismus jene Inhalte, die nach professionellen journalistischen Kriterien selektioniert und bearbeitet worden sind, damit sie dem Publikum öffentlich vermittelt werden können: Websites von Offline-Medien (Zeitungen, Zeitschriften, Nachrichtenagenturen, Radio- und Fernsehstationen etc.), die auch online auftreten, spezielle journalistische Online-Angebote (Online-Magazine, -Zeitungen, -Agenturen), Online-Medienbüros und die auf diesen Websites publizierten Inhalte.»

Soweit die Betreiber von Suchmaschinen wie Google und Online-Datenbanken wie SMD journalistische Inhalte nicht selber produzieren, sondern diese bloss erschliessen und zugänglich machen, ist es mithin nicht Aufgabe des Presserates, deren Verhalten zu beurteilen.

c) In der Stellungnahme 38/2003 hat es der Presserat abgelehnt, auf eine Beschwerde einzutreten, bei der es um einen Ende 2000 von «L’Impartial» veröffentlichten Artikel über einen Betrugsprozess ging. Einer der Beteiligten beschwerte sich zweieinhalb Jahre nach der Veröffentlichung beim Presserat, sein Name werde im Bericht zu Unrecht genannt. Suche man im Online-Archiv der Zeitung mit seinem Namen, sei der Artikel weiterhin zu finden, begründete er die späte Beschwerde. Der Presserat begründete seinen Entscheid mit dem Ablauf der Beschwerdefrist und dem Argument, dem Beschwerdeführer wäre es offen gestanden, die Beschwerde rechtzeitig einzureichen. Ohnehin könne der Presserat im Gegensatz zu einem Zivilgericht die nachträgliche Anonymisierung oder Berichtigung eines Medienberichts nicht verbindlich anordnen. Diesen Standpunkt hat der Presserat in der Stellungnahme 13/2011 jüngst bestätigt.

d) Die Archivierung veröffentlichter Medienberichte – auf Papier oder digital – berührt die journalistische Tätigkeit – Recherchieren, Redigieren und Publizieren – bloss mittelbar. Medienarchive sind zwar ein unentbehrliches Hilfsmittel für die journalistische Recherche, doch werden Archivare nicht allein deshalb zu Journalisten. Die berufsethischen Normen der «Erklärung» äussern sich denn auch nicht zur Archivierung von Medienberichten und die Praxis des Presserats, nicht auf Beschwerden gegen Archivberichte einzutreten, die nach Ablauf der Beschwerdefrist von sechs Monaten seit der Publikation (Artikel 10 Absatz 1 des Geschäftsreglements) eingehen, erscheint deshalb auch insofern konsequent.

e) Trotz diesen Einschränkungen kann der Presserat die Auswirkungen, welche die Umstellung von Papierarchiven zu digitalen Archiven für die Gewährleistung des Persönlichkeitsschutzes und insbesondere auf das «Recht auf Vergessen» hat, nicht einfach ignorieren. Gemäss der Präambel zur «Erklärung» sollten sich die Journalistinnen und Journalisten immer auch der Konsequenzen ihrer Tätigkeit für die Gesellschaft bewusst sein. Die journalistische Verantwortung erstreckt sich mithin auch auf unerwünschte Nebenwirkungen der Digitalisierung von Medienarchiven. Zwar gehen Gesuche, Archivberichte nachträglich zu ändern, laut den angehörten Experten noch nicht allzu häufig in den Redaktionen ein, doch haben entsprechende Begehren in jüngster Zeit zugenommen. Und nachdem bereits auch ein erstes Gerichtsurteil zu einem Einzelfall vorliegt, erscheint es sinnvoll, dass der Presserat als Selbstkontrollorgan der Branche nach generellen Antworten sucht und aufzeigt, welche berufsethischen Folgerungen aus der Digitalisierung von Medienarchiven zu ziehen sind. Und damit diese Erwägungen nicht folgenlos bleiben, hat das Presseratsplenum zudem beschlossen, in begründeten Ausnahmefällen von der Beschwerdefrist von sechs Monaten seit der Erstpublikation abzuweichen. Dies dann, wenn der Beschwerdeführer geltend macht, ein Bericht sei ausnahmsweise nachträglich zu anonymisieren oder zu aktualisieren und sofern er sich zuerst mit einem begründeten Gesuch an das Medium wendet und danach vor Ablauf von sechs Monaten seit der Ablehnung seines Gesuchs an den Presserat gelangt.

2. Die Umstellung von Papierarchiven auf digitale Archive hat unter anderem zur Folge, dass der Zugriff für die Recherche heute wesentlich einfacher und schneller ist als früher. Das führt auch dazu, dass Informationen aus älteren Beiträgen relativ einfach und häufig ungeprüft erneut an die Öffentlichkeit gelangen. Für die Medienschaffenden bedeutet dies, dass sie bei ihren Recherchen kritisch ihre Quellen überprüfen und dass sie Informationen von mehreren Seiten bestätigen lassen. Dies, um zu verhindern, dass sie Fehlinformationen ungeprüft recyclieren. Die Verantwortung dafür kann nicht an Archivare delegiert werden.

In Bezug auf archivierte Medienberichte stellt sich aus berufsethischer Sicht die Frage, wie beispielsweise gewährleistet werden kann, dass Medienschaffende bei ihrer Recherche eine allfällige Berichtigung oder Gegendarstellung zu einem Artikel ebenfalls zur Kenntnis nehmen. Und wie steht es bei digitalen Archiven mit dem «Recht auf Vergessen» und mit einem Anspruch auf nachträgliche Aktualisierung? Welche berufsethischen Pflichten bestehen hier für Journalistinnen und Journalisten, Redaktionen und die in ihrem Auftrag geführten elektronischen Archive?

Berufethisch geht es bei diesen Fragen in erster Linie um die Ziffern 5 (Berichtigung) und 7 (Persönlichkeitsschutz) der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten». Die Berichtigung wird nachfolgend zusammen mit der Gegendarstellung in Ziffer 3 der Erwägungen behandelt. Sinngemäss ebenfalls unter die Berichtigungspflicht fällt die Frage, ob Archive nachträglich zu aktualisieren sind (Erwägung 4). Beim Persönlichkeitsschutz geht es um die Identifizierung/Anonymisierung (Richtlinie 7.2 zur «Erklärung»; Erwägung 5) sowie um das «Recht auf Vergessen» (Richtlinie 7.5 zur «Erklärung»; Erwägung 6).

3. a) Die Ziffer 5 der «Erklärung» auferlegt den Journalistinnen und Journalisten die Pflicht, «jede von ihnen veröffentlichte Meldung zu berichtigen, deren materieller Inhalt sich ganz oder teilweise als falsch erweist». Gemäss der Richtlinie 5.1 zur «Erklärung» nehmen Journalistinnen und Journalisten die Berichtigungspflicht unverzüglich von sich aus wahr. Die Berichtigung ist an keine bestimme Form gebunden (Stellungnahme 50/2008). Immerhin hat der Presserat aber in der Stellungnahme 38/2010 festgehalten, dass die Redaktion in einer für die Leserschaft erkennbaren Weise richtig stellen sollte, dass eine zuvor veröffentlichte Tatsachenbehauptung falsch war.

b) Für aktuelle Medienberichte von Online-Medien genügt es aus Sicht des Presserats, die für herkömmliche Medien entwickelten Grundsätze zu beachten. Bei relevanten Berichtigungen, die über die Korrektur von blossen Unschärfen sowie für das Verständnis des Publikums nicht wesentlichen Fakten hinausgehen, sollten die Redaktionen vorzugsweise einen zusätzlichen Vermerk anbringen, anstatt bloss die vorherige Version zu überschreiben. Denn allein aufgrund des Datums der letzten Aktualisierung nimmt der Nutzer die Berichtigung meistens nicht als solche wahr.

c) Sowohl für die Information des Publikums, aber auch im Hinblick auf weitere Recherchen von Journalisten ist es zudem unabdingbar, Berichtigungen und Gegendarstellungen mit den ursprünglichen Berichten zu verknüpfen, wie dies der Presserat bereits in der Stellungnahme 46/2001 gefordert hat. Gemäss den Ausführungen der Experten im Hearing ist die entsprechende Verlinkung technisch ohne Weiteres machbar. Entscheidend für die konsequente Umsetzung ist vielmehr das Problembewusstsein und die Professionalität in den Redaktionen: Zu einer umfassenden Berichtigung gehört es im Zeitalter von Internet und elektronischen Archiven zwingend, insbesondere die SMD und weitere Archive, die regelmässig mit den eigenen Medienberichten bedient werden, auf die Korrektur/Gegendarstellung und auf das Erfordernis einer Verlinkung mit dem Originalbericht hinzuweisen.

4. a) Informationen, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung eines Medienberichts korrekt waren, sind unter Umständen aus heutiger Sicht nicht mehr richtig oder zumindest nicht vollständig. Ist deshalb zu fordern, dass online zugängliche Berichte in Medienarchiven stetig aktualisiert werden sollten? Falls der Inhalt zum Zeitpunkt der Veröffentlichung richtig war, ist dies in den meisten Fällen nicht angebracht. Archive haben eine wichtige Funktion, nicht nur für Journalisten. Änderungen in Archiven verfälschen die historischen Informationen. Texte sollten in ihrer ursprünglichen Form, auch wenn sie nicht (mehr) richtig sind, im Archiv ersichtlich sein. Vorauszusetzen ist weiter, dass Archivberichte immer mit einem Datum zu versehen und damit auch für Laien als nicht aktuell erkennbar sind. Wenn sich Journalistinnen und Journalisten bei ihren Recherchen auf Archivberichte abstützen, sollten sie zudem immer prüfen, ob eine einst korrekte Information auch heute noch unverändert korrekt ist oder ob sie bei einer neuerlichen Veröffentlichung aktualisiert werden müsste.

b) Bei besonders begründeten, stossenden Fällen ist es ausnahmsweise angebracht, einen Artikel mit einem zusätzlichen Vermerk zu versehen. Geht bei einer Redaktion ein entsprechendes Gesuch ein, bietet sich bei der Prüfung neben dem Verhältnismässigkeitsprinzip die Richtlinie 7.6 zur «Erklärung» als Massstab an: Danach ist bei vorangegangenen Berichten über ein hängiges Straf- oder Ermittlungsverfahren auch dann erneut in verhältnismässiger Weise zu berichten, wenn dieses mit Nichteröffnung, Einstellung oder Freispruch endet. Analog zu dieser Bestimmung erscheint es ausnahmsweise gerechtfertigt, einen Archivartikel mit einem Aktualisierungsvermerk zu ergänzen, sofern der Sachverhalt einem der in Richtlinie 7.6 genannten Fälle entspricht oder sofern die Persönlichkeit des Gesuchstellers sonstwie verletzt erscheint. Zudem muss der Betroffene glaubhaft machen, dass sein gesellschaftliches Ansehen oder wirtschaftliches Fortkommen bei Unterlassen der Aktualisierung in ungerechtfertigter Weise beeinträchtigt wird. Keinesfalls berechtigt aber die ausnahmsweise Aktualisierung eines Archivberichts den Gesuchsteller dazu, einen Medienbericht nachträglich nach eigenem Gusto umschreiben zu lassen. Ebenso wie bei einer Berichtigung ist schliesslich auch bei einer nachträglichen Ergänzung eines archivierten Medienberichts der ursprüngliche Text nicht einfach zu überschreiben, sondern stattdessen ein aktualisierender Vermerk anzubringen.

Beim Fall der dem unter Abschnitt D. des Sachverhalts zusammengefassten Urteil des Amtsgerichts Luzern-Land zugrunde lag, waren die Artikel, wonach eine öffentlich bekannte Persönlichkeit «im Visier der Justiz ist», zum Zeitpunkt der Veröffentlichung korrekt. Die meisten Medien haben es jedoch in der Folge unterlassen, zu berichten, dass schliesslich doch kein Strafverfahren eröffnet wurde. In sinngemässer Anwendung der Richtlinie 7.6 sollten sich Redaktionen in derartigen Fällen bereit erklären, bei den betreffenden Artikeln einen Vermerk anzubringen, ähnlich demjenigen, den das Gericht angeordnet hat.

5. Ebenso wie bei Berichtigung und Gegendarstellung genügt es auch bei der Frage, ob ein online veröffentlichter aktueller Bericht (nachträglich) zu anonymisieren ist, auf die bestehenden Regeln (insbesondere die Richtlinie 7.2 – Identifizierung) zurückzugreifen. Wie von Simon Canonica im Hearing angeführt besteht bei Online-Medien – im Gegensatz zu herkömmlichen Printmedien – analog zur inhaltlichen Berichtigung die Möglichkeit einer nachträglichen Korrektur, wenn sich erst unmittelbar nach der Veröffentlichung herausstellt, dass eine identifizierende Berichterstattung nicht angebracht war. So begrüssenswert diese Möglichkeit an sich ist, entbindet sie die Redaktionen nicht davon, bereits vor der erstmaligen Publikation eines Medienberichts sorgfältig zu prüfen, ob eine Namensnennung/Identifizierung angebracht ist.

6. a) Besonders kontroverse Diskussionen hat die Frage ausgelöst, ob und falls ja unter welchen Voraussetzungen, die Redaktionen veranlassen sollten, einen identifizierenden Archivbericht gestützt auf das «Recht auf Vergessen» nachträglich zu anonymisieren, wenn die Identifizierung aus heutiger Sicht nicht mehr gerechtfertigt erscheint.

b) Der Presserat hat sich in der Stellungnahme 22/2008 erstmals mit dem «Recht auf Vergessen» auseinandergesetzt, welches einen Bestandteil des Persönlichkeitsschutzes bildet. Es geht darum, eine vollzogene Gerichts- oder Verwaltungsstrafe oder eine damit vergleichbare Information nach längerer Zeit in den Medien nicht wieder aufzuwärmen, sondern Vergangenes ruhen zu lassen, um die gesellschaftliche Reintegration zu fördern. Auch das Löschen einer Vorstrafe im Strafregister dient diesem Ziel. Die Richtlinie 7.5 zur «Erklärung» lautet: «Verurteilte haben ein ‹Recht auf Vergessen›. Das gilt erst recht nach Einstellung eines Verfahrens und nach Freispruch. Das ‹Recht auf Vergessen› gilt aber nicht absolut. In verhältnismässiger Art und Weise darf über frühere Verfahren berichtet werden, sofern ein überwiegendes Interesse dies rechtfertigt. Beispielsweise, wenn ein Zusammenhang zwischen früherem Verhalten und aktueller Tätigkeit besteht.»
In der bisherigen Presseratsdiskussion über das «Recht auf Vergessen» ging es um die Frage, unter welchen Umständen es gerechtfertigt ist, dass Medien über eine länger zurückliegende Verurteilung erneut berichten. Digitale Archive verbreiten die darin gespeicherten Informationen hingegen nicht aktiv, sondern machen diese bloss zugänglich. Um an die Information heranzukommen, braucht es eine aktive Suche – die im Zeitalter von Internet und Suchmaschinen allerdings mit geringem Aufwand verbunden ist. Ist das «Recht auf Vergessen» bloss dann einzufordern, wenn Journalistinnen und Journalisten in aktuellen Medienberichten auf ein früheres Urteil zurückkommen oder sollten Medienredaktionen darüber hinaus auch durch eine nachträgliche Anonymisierung von Medienberichten in den von ihnen selber geführten oder belieferten digitalen Archiven verhindern, dass ein länger zurückliegender identifizierender Bericht über eine strafrechtliche Verurteilung oder eine damit vergleichbare Information mit wenigen Mausklicks für jedermann zugänglich ist?

c) Die Antwort darauf hängt unter anderem von der Beantwortung einer anderen Frage ab: Sind die gesellschaftlichen Grenzen zwischen Privatheit und öffentlichem Raum aufgrund der Entwicklung von Internet und sozialen Netzwerken neu zu ziehen? Der Presserat hat in der Stellungnahme 43/2010 darauf hingewiesen, dass zwar stets mehr Personen private Informationen und Bilder via Internet öffentlich zugänglich machen. Doch daraus können Massenmedien nicht ableiten, dass diese Leute damit ganz auf den Schutz ihrer Privatsphäre verzichten. Medien dürfen deshalb private Informationen aus dem Internet nicht voraussetzungslos weiterverbreiten.

Ebenso wie bei der Weiterverbreitung von Informationen, die von Privaten ins Netz gestellt werden, ist auch beim «Recht auf Vergessen» zwischen dem Recht der Öffentlichkeit auf Information und dem Schutz der Privatsphäre abzuwägen. Sei es, dass ein Element aus einem Archivbericht für einen aktuellen Artikel wiederverwendet wird oder dass sich bei einem via Internet öffentlich zugänglichen digitalen Archiv nach einiger Zeit eine neue Interessenabwägung darüber aufdrängt, ob eine Identifizierung nach wie vor angebracht ist. Niemand muss sich gefallen lassen, dass ein aktueller Medienbericht eine länger zurückliegende Verurteilung ohne triftigen Grund medial erneut aufwärmt. Müssen wir aufgrund des längeren «Gedächtnisses» des Internets und des einfachen Zugriffs auf digitale Medienarchive hingegen damit leben, dass die mediale Prangerwirkung einer identifizierenden Berichterstattung potentiell auf unbestimmte Zeit anhält? Machen mit anderen Worten die technische Entwicklung und die Digitalisierung der Medienarchive das «Recht auf Vergessen» obsolet?

d) Allgemein zugängliche digitale Medienarchive bieten in der Informationsgesellschaft grosse Vorteile und Chancen – nicht bloss für die Medienschaffenden. Dies bedeutet aber wie beim Thema «Weiterverbreitung von privaten Informationen aus dem Internet» auch hier nicht zwangsläufig, dass die Gesellschaft als «Preis» für diese Vorteile in Kauf nimmt, dass einmal Publiziertes jederzeit und überall abrufbar ist und dass sie damit bereit wäre, in dieser Hinsicht auf das «Recht auf Vergessen» zu verzichten.

Zwar ist angesichts der raschen technischen Entwicklung und der dadurch bewirkten gesellschaftlichen Veränderungen nicht auszuschliessen, dass diese Fragen in Zukunft neu diskutiert und bewertet werden. Gerade auch die aktuelle Diskussion rund um die Respektierung des Persönlichkeitsschutzes bei Google Streetview bestärkt den Presserat jedoch in seiner Haltung, dass ungeachtet der umfangreichen Erweiterung der virtuellen Öffentlichkeit breite Bevölkerungskreise das Bedürfnis haben, ihre Privatsphäre auch im Internetzeitalter vor persönlichkeitsverletzenden Veröffentlichungen zu schützen.
Wie nützlich und beliebt Dienste und Informationen auch immer sind: Auch wenn sie via Internet öffentlich zugänglich gemacht werden, müssen sie den Persönlichkeitsschutz respektieren und damit auch das «Recht auf Vergessen» als wichtigen Teilaspekt dieses Schutzes. Ebenso wie es für ein Unternehmen wie Google zumutbar erscheint, Daten konform zum im jeweiligen Land geltenden Persönlichkeitsschutz zu bearbeiten, gilt dies auch für Medienunternehmen, die ihre Archive im Internet voraussetzungslos zugänglich machen.

e) Welche Folgerungen sind aus diesen Überlegungen in Bezug auf die nachträgliche Anonymisierung bereits veröffentlichter Medienberichte zu ziehen?

Redaktionen, welche die von ihnen online veröffentlichten Medienberichte dem Publikum voraussetzungslos und zeitlich unbeschränkt zugänglich machen und damit auch die Indizierung ihrer archivierten publizistischen Inhalte in Suchmaschinen wie Google usw. ermöglichen, sollten nebst den anderen Aspekten des Persönlichkeitsschutzes auch das «Recht auf Vergessen» beachten. Ebenso wie bei der Frage, ob Archivberichte nachträglich zu aktualisieren sind, wäre es allerdings unverhältnismässig, von den Medienredaktionen beziehungsweise von den von ihnen beauftragten Archiven zu verlangen, sämtliche Artikel regelmässig unter dem Gesichtspunkt des «Rechts auf Vergessen» von sich aus zu überprüfen und gegebenenfalls nachträglich zu anonymisieren.

Hingegen sollten Redaktionen auch hier auf entsprechendes Gesuch hin prüfen, ob ein identifizierender Bericht und dessen Inhalt angesichts des wegen des Zeitablaufs dahingefallenen Interesses aus heutiger Sicht die Persönlichkeit des Betroffenen verletzt. Ebenso wie bei einem Gesuch um nachträgliche Aktualisierung eines Archivberichts muss der Betroffene zudem glaubhaft machen, dass ihm aus der Identifizierung ein aktueller, gewichtiger, nicht durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigter Nachteil droht – beispielsweise bei der Stellensuche. Bei einer nachträglichen Anonymisierung ist dafür zu sorgen, dass der Medienbericht nicht gefunden wird, wenn jemand mit dem Namen oder mit identifizierenden Stichworten sucht. Gleichzeitig ist aber sicherzustellen, dass – analog zu den Papierarchiven – die ursprüngliche Version (zum Beispiel als PDF-Dokument) erhalten bleibt.

f) Bei digitalen Mediendatenbanken wie der SMD und vergleichbaren Diensten sowie Online-Medien, die den Zugang zum (vollständigen) Archiv durch einen Benutzernamen und ein Passwort schützen, ist der öffentliche Zugang im Vergleich zu offenen digitalen Archiven wesentlich eingeschränkt. Die Errichtung der Zugangsschranke verhindert, dass unter den Schutz des «Rechts auf Vergessen» fallende persönlichkeitsschutzrelevante Informationen im Suchergebnis von Google und vergleichbaren Diensten erscheinen.

Zwar sind auch solche Archive potentiell für jedermann zugänglich. Dies gilt aber prinzipiell auch bereits für Papierarchive. Bereits im analogen Zeitalter gab es Wirtschaftsinformations- und Mediendienste, die systematisch Informationen über Personen beschafften. Wiederum ausgehend vom Verhältnismässigkeitsprinzip erscheint bei digitalen Archiven mit Zugangsschranken – denen für Medienschaffende, Historiker und weitere Interessierte eine besonders wichtige Funktion zukommt – eine nachträgliche Anonymisierung eines archivierten Berichts nur dann ausnahmsweise angebracht, sofern die darin enthaltenen Informationen die Persönlichkeit des Betroffenen besonders massiv verletzen.

III. Feststellungen

1. Redaktionen berichtigen Falschinformationen bei aktuellen Medienberichten unverzüglich – unabhängig vom Vertriebskanal, mit dem sie verbreitet werden. Sie sollten Online-Berichtigungen zu relevanten Falschinformationen vorzugsweise als zusätzlichen Vermerk anbringen und damit für das Publikum erkennbar machen, anstatt bloss die vorherige Version zu überschreiben. Berichtigungen und Gegendarstellungen in Online-Medien und digitalen Archiven sind zudem mit den Originalberichten zu verknüpfen.

2. Digital archivierte Medienberichte, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung korrekt waren, müssen nur ausnahmsweise, in besonders begründeten Fällen aktualisiert werden. Damit die historischen Informationen erhalten bleiben, sollten die Redaktionen einen Vermerk anbringen, statt das Original zu überschreiben.

3. Redaktionen prüfen Gesuche um ausnahmsweise nachträgliche Änderung oder Ergänzung eines Archivberichts gestützt auf das Verhältnismässigkeitsprinzip und insbesondere darauf, ob der Bericht persönlichkeitsverletzend wirkt, sowie, ob dem Betroffenen bei einem Verzicht auf die Aktualisierung ein aktueller, gewichtiger Nachteil droht.

4. Stellt sich unmittelbar nach der Publikation in einem Online-Medium heraus, dass eine identifizierende Berichterstattung nicht angebracht gewesen ist, ist der Bericht umgehend zu anonymisieren. Redaktionen sollten aber stets bereits vor der erstmaligen Publikation eines Medienberichts sorgfältig prüfen, ob eine Namensnennung/Identifizierung angebracht ist.

5. Via Internet öffentlich zugängliche, offene digitale Medienarchive müssen den Persönlichkeitsschutz respektieren – und damit auch das «Recht auf Vergessen». Medienredaktionen sind allerdings nicht verpflichtet, archivierte Medienberichte von sich aus regelmässig unter dem Gesichtpunkt des «Rechts auf Vergessen» zu überprüfen und gegebenenfalls zu anonymisieren.

6. Bei Gesuchen um nachträgliche Anonymisierung eines Medienberichts sollten Redaktionen ausgehend vom Verhältnismässigkeitsprinzip prüfen, ob ein identifizierender Bericht und dessen Inhalt aus heutiger Sicht die Persönlichkeit des Betroffenen verletzt sowie, ob der Betroffene glaubhaft macht, dass ihm aus der Identifizierung ein aktueller, gewichtiger Nachteil droht. Bei einer nachträglichen Anonymisierung ist dafür zu sorgen, dass der ursprünglich Medienbericht nicht gefunden wird, wenn jemand mit dem Namen oder mit identifizierenden Stichworten sucht. Gleichzeitig ist aber sicherzustellen, dass – analog zu den Papierarchiven – die ursprüngliche Version (zum Beispiel als PDF-Dokument) erhalten bleibt.

7. Digitale Medienarchive und Online-Medien, bei denen der Zugang an einen Benutzernamen und ein Passwort geknüpft ist, sind nur dann ausnahmsweise verpflichtet, einen Medienbericht nachträglich zu anonymisieren, sofern die darin enthaltenen Informationen die Persönlichkeit des Betroffenen aus heutiger Sicht besonders massiv verletzen.

8. Bei der Recherche für aktuelle Medienberichte würdigen Journalisten Archivberichte kritisch und überprüfen insbesondere, ob die darin enthaltenen Angaben nach wie vor korrekt sind. Vor der Veröffentlichung beziehen sie zudem auch das «Recht auf Vergessen» in die Interessenabwägung ein.