Nr. 23/2016
Verletzung der Privatsphäre / Sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen

(18 Schweizer ParlamentarierInnen c. «Schweiz am Sonntag» und «Schweiz am Sonntag online») Stellungnahme des Schweizer Presserats vom 11. Juli 2016

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Zusammenfassung

Unter dem Titel «Geri Müller: Nackt-Selfies aus dem Stadthaus» hatte die «Schweiz am Sonntag» am 17. August 2014 über einen privaten Online-Chat zwischen Badens Stadtammann Geri Müller und einer jungen Frau berichtet: Müller habe an seinem Arbeitsort und teilweise während der Arbeitszeit Sex-Chats geführt. Eingangs schrieb das Blatt über einen Polizeieinsatz der Stadtpolizei Baden, der zur vorübergehenden Verhaftung der Frau führte. Gemäss zuverlässigen Quellen sei es Müller gewesen, der die Polizei alarmiert habe.

In langjähriger Praxis hat der Presserat immer wieder festgehalten, dass die Privatsphäre von Personen des öffentlichen Lebens grundsätzlich geschützt ist, soweit ihre Funktion in der Öffentlichkeit nicht unmittelbar betroffen ist. Ein überwiegendes öffentliches Interesse an einer Publikation ist in aller Regel zu verneinen, wenn nicht nur die Privatsphäre, sondern gar die Intimsphäre betroffen ist.

Die «Schweiz am Sonntag» argumentierte, Geri Müller sei als Mitglied des Nationalrats eine absolute Person der Zeitgeschichte. Soweit ein sachlicher Zusammenhang mit seiner konkreten Tätigkeit als Stadtoberhaupt respektive seiner öffentlichen Funktion bestehe, seien Eingriffe in seine Privatsphäre – und ausnahmsweise in die Intimsphäre – zu dulden. Demgegenüber waren die Beschwerdeführer der Ansicht, Müller habe sich nicht fehlverhalten, der Chat sei einvernehmlich zwischen zwei Erwachsenen erfolgt.

Für den Presserat ist nicht alles, was in Amtsräumen passiert, von öffentlichem Interesse. Der Inhalt eines intimen Chats gehört der Intimsphäre an, es geht nicht an, dass Medien über den Inhalt eines solchen Chats berichten. Auch dann nicht, wenn dieser allenfalls während der Arbeitszeit geführt wurde.

Hingegen steht für den Presserat ausser Zweifel, dass Fragen zu einem allfälligen Amtsmissbrauch in Bezug auf den Polizeieinsatz gestellt werden dürfen und müssen. Dies jedoch nur, wenn sich solche Vorwürfe belegen lassen. Dies aber konnte die «Schweiz am Sonntag» nicht.

Résumé

Sous le titre « Geri Müller : selfies nus de l’Hôtel de ville », la « Schweiz am Sonntag » rend compte, le 17 août 2014, du « chat » privé en ligne entre le maire de Baden Geri Müller et une jeune femme. Müller aurait conduit ces « chats » à caractère sexuel à son lieu de travail, et en partie pendant ses heures de travail. En introduction, le journal fait état d’une intervention de la police municipale de Baden, qui a mené à l’arrestation temporaire de la jeune femme. Selon des sources fiables, c’est Müller qui aurait alerté la police.

A plus d’une reprise, le Conseil de la presse a déclaré que la sphère privée des personnages publics est en principe protégée, pour autant que leur fonction publique ne soit pas directement concernée. Et quand c’est même la sphère intime qui est touchée, un intérêt public prépondérant ne peut dans la règle pas être donné.

De son côté, la « Schweiz am Sonntag » argumente que Geri Müller, en tant que conseiller national, est une personne absolue de l’histoire contemporaine.  Et que pour autant qu’un rapport concret avec son activité de maire, donc avec sa fonction publique, soit établie, des immiscions dans sa sphère privée – et même exceptionnellement intime – sont tolérables. A l’opposé, les plaignants font valoir que Geri Müller ne s’est pas mal comporté, puisque le « chat » incriminé s’est déroulé entre adultes consentants.

Pour le Conseil de la presse, tout ce qui se déroule dans des lieux officiels n’est pas forcément d’intérêt public. Le contenu d’un « chat » intime ressortit de la sphère intime, et il n’appartient pas aux médias d’en rendre compte. Même si d’aventure il se déroulait pendant les heures de travail.

En revanche, il ne fait pas de doute pour le Conseil de la presse que les questions relatives à un abus d’autorité qui aurait mené à une intervention policière, que ces questions peuvent et doivent être posées. Mais cela uniquement si de tels reproches peuvent être étayés. Ce que la « Schweiz am Sonntag n’a pas été en mesure de faire.

Riassunto

Sotto il titolo «Geri Müller: selfies di nudo da palazzo civico» («Nackt-Selfies aus dem Stadthaus») il 17 agosto 2014 la «Schweiz am Sonntag» pubblicava un’immagine che il sindaco di Baden si era fatto («selfie») senza vestiti e aveva inviato a una giovane donna. Secondo il giornale, l’uomo politico avrebbe l’abitudine di scambiare «selfie» dalla sede del Municipio, addirittura durante le ore di ufficio. La polizia cittadina di Baden sarebbe intervenuta – così il giornale, secondo una fonte definita credibile – fermando la donna, su denuncia dello stesso Müller.  

Secondo la prassi pluriennale del Consiglio della stampa, vale la regola che la vita privata dei politici è protetta quando non sia dato un rapporto diretto tra il fatto e la loro funzione pubblica. Un interesse pubblico prevalente all’informazione non esiste, in linea di principio, quando sia in gioco soltanto la sfera privata, e addirittura la sfera intima, della persona.

La «Schweiz am Sonntag» argomenta che Geri Müller, in quanto consigliere nazionale, è persona pubblica in senso pieno. Le circostanze di fatto dimostrerebbero un rapporto tra il suo agire e la sua funzione di sindaco, per cui l’interesse pubblico alla sua vita privata, e addirittura alla sua vita intima, sarebbe dato. Gli autori del reclamo sostengono invece che lo scambio di «chats» nel caso specifico è un semplice rapporto tra persone adulte.

Il Consiglio della stampa esclude che tutto quel che può capitare all’interno di un ufficio pubblico sia di interesse pubblico. Uno scambio di «chats» è un atto che pertiene alla sfera intima delle persone, sulla quale i media non hanno un interesse pubblico da far valere: e ciò neppure se abbia avuto luogo durante le ore d’ufficio. Se, invece, fosse provato che il sindaco ha abusato della sua funzione nell’allarmare la polizia, questo può essere di interesse pubblico – dice il Consiglio della stampa. Ma la «Schweiz am Sonntag» questa prova non l’ha portata.

I. Sachverhalt

A. Die «Schweiz am Sonntag» veröffentlichte am 16. und 17. August 2014, zuerst online, dann in der Printausgabe den Artikel mit dem Titel «Geri Müller: Nackt-Selfies aus dem Stadthaus». Der Vorspann lautet: «Eine junge Frau erhebt schwere Vorwürfe gegen den Badener Stadtammann und grünen Nationalrat Geri Müller.» Das Sonntagsblatt berichtet von einem privaten Online-Chat zwischen Geri Müller und einer jungen Frau. Inhalt des Chats, der sich ab Februar 2014 über mehrere Wochen erstreckte, war ein Austausch privater, teilweise auch intimer bzw. erotischer Text-, Bild- und auch Audiodateien. Im Artikel wird ausgeführt, aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes werde nur auf Bilder eingegangen, die der Politiker in Amtsräumen geschossen und der Frau geschickt habe. Die Dokumente seien unzweifelhaft echt. Ginge es nur um Privates, hätten sie in der Öffentlichkeit nichts zu suchen. Doch der Stadtammann habe an seinem Arbeitsort und teilweise während der Arbeitszeit Sex-Chats geführt. Eingeleitet wird der Artikel mit dem Bericht über einen Polizeieinsatz der Stadtpolizei Baden vom 13. August 2014, der zur vorübergehenden Verhaftung der Frau führte. Die Kantonspolizei Aargau bestätige auf Anfrage die «Anhaltung» einer jungen Frau an diesem Abend. Doch entgegen der Vermutung der Frau sei die Stadtpolizei nicht von Geri Müller losgeschickt worden. Sondern von der Kantonspolizei Aargau, welche wiederum eine
Meldung von der Kapo Bern erhalten habe. Nur: Gemäss zuverlässigen Quellen sei es Geri Müller gewesen, der die Kapo Bern alarmiert habe. Seine Ex-Geliebte wohne im Kanton Bern. Im Nachhinein sei für die junge Frau klar, dass ihr eine Falle gestellt worden sei. Von der «Schweiz am Sonntag» mit der Frage konfrontiert, ob er eine Frau, die seine Ex-Geliebte sei, habe verhaften lassen, antwortete Geri Müller: «Es ist alles sehr kompliziert. Ich kann das weder bestätigen noch dementieren.» Er habe eine schriftliche Beantwortung in Aussicht gestellt. Stattdessen sei später ein Mail seines Anwalts gekommen. Auf zwei Combox-Nachrichten am Samstag habe Müller nicht reagiert. Dennoch sei der «Schweiz am Sonntag» die Erklärungsversion von Geri Müller bekannt. Demnach habe er am Mittwoch eine Meldung bei der Kantonspolizei Bern gemacht, nicht als Politiker, sondern als Bekannter der Frau. Er habe von ihr mehrere SMS erhalten, in denen sie mit Suizid drohe. Nach Ende der Affäre habe der Politiker wiederholt verlangt, dass sie die Chats lösche und das Smartphone abgebe. Aus einem Tondokument, das der «Schweiz am Sonntag» vorliege, gehe auch hervor, dass Geri Müller die Frau aufforderte, abzustreiten, dass sie mit ihm Kontakt hatte. Grund: Er fürchtete um seine politische Karriere.

B. Am 13. Februar 2015 reichten die beiden grünen Nationalräte Louis Schelbert und Daniel Vischer zusammen mit 16 weiteren Parlamentariern aus unterschiedlichen Parteien (neun Mitglieder der Grünen, drei der SP, zwei der BDP und je einem der FDP, CVP, GLP und CSP) Beschwerde beim Schweizer Presserat ein: Die «Schweiz am Sonntag» habe mit der Publikation privater und intimer Dokumente von Geri Müller dessen Privatsphäre gemäss Ziffer 7 der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten» (nachfolgend «Erklärung») und der zugehörigen Richtlinie 7.1 verletzt; ebenso das Gebot zur Unterlassung sachlich nicht gerechtfertigter Anschuldigungen. Die Beschwerdeführer sind besorgt: «Wenn der Fall Geri Müller ‹Schule› macht, droht unsere ganze Politkultur Schaden zu nehmen.» Zusätzlich betonen die 18 Parlamentarier, dass ihre Beschwerde über den Einzelfall hinaus auch eine Grundsatzdiskussion über das Verhältnis Medien und Politik auslösen sollte: Dürfen Medien private und intime Dokumente benützen mit dem Argument, sie nähmen das öffentliche Interesse wahr? Dürfen Medien einen gewählten Legislativ- und Exekutivpolitiker so blossstellen und in der öffentlichen Wahrnehmung seiner amtlichen Funktionen destabilisieren? Der Artikel habe einen einzigartigen Medienhype bzw. Shitstorm gegen Müller ausgelöst. Geri Müller aber habe sich nicht fehlverhalten, da der Chat einvernehmlich zwischen zwei erwachsenen Menschen erfolgt sei. Zudem sei der Chat-Inhalt nicht illegal gewesen. Und die Anschuldigung, Geri Müller missbrauche sein Amt und habe die Frau verhaften lassen, sei falsch. Am 13. August 2014 habe die Frau innerhalb von 15 Minuten mehrere Suizidandrohungen per SMS an Geri Müller geschickt. Dieser habe nach Rücksprache mit seinem Anwalt die Kantonspolizei Bern darüber verständigt, jedoch keine Festnahme der Frau verlangt. Der Artikel beschuldige Müller auch, seine Amtspflicht verletzt zu haben, indem er während der Arbeitszeit Sex-Chats schreibe, dies bei einem Jahreslohn von 260’000 Franken. Die Beschwerdeführer sind sich einig, dass durch die Veröffentlichung der privaten und intimen Details Geri Müller dazu bewegt werden sollte, von seinen öffentlichen Ämtern zurückzutreten. Sie vermuten eine politische Intrige, die von Müllers Gegnern inszeniert wurde und die dafür auch die Medien instrumentalisierten. In diesem Zusammenhang erwähnen die Parlamentarier auch Peter Wanner, den Inhaber und Verleger der AZ Medien, zu der die «Schweiz am Sonntag» gehört.

C. In ihrer Beschwerdeantwort vom 7. April 2015 verlangt die anwaltlich vertretene «Schweiz am Sonntag», auf die Beschwerde sei nicht einzutreten bzw. diese sei abzuweisen. Aufgrund des laufenden Strafverfahrens liege ein Nichteintretensgrund vor. Zudem stellten sich keine berufsethischen Grundsatzfragen, welche dem Presserat gestützt auf Art. 11 Abs. 2 seines Geschäftsreglements ein Eintreten auf die Beschwerde erlauben würden. Indem die Beschwerdeführer die Frage aufwürfen, inwieweit die Medien einen Legislativ- und Exekutivpolitiker unter Berufung auf überwiegende öffentliche Interessen blossstellen dürften, stellten sie die klassische Interessen- und Rechtsgüterabwägung zwischen der Informations- und Medienfreiheit und dem Anspruch auf Achtung des Privatlebens bei Personen des öffentlichen Lebens zur Debatte. Dazu bestehe eine reiche presseratliche und gerichtliche Rechtsprechung. Deren Kriterien habe die Beschwerdegegnerin sorgfältig geprüft und eine umfassende Rechtsgüterabwägung vorgenommen. Aufgrund des klaren Ergebnisses zugunsten eines überwiegenden Publikationsinteresses blieben keine berufsethischen Grundsatzfragen offen, weshalb auf die Beschwerde nicht einzutreten sei.

In grundsätzlicher Hinsicht macht die «Schweiz am Sonntag» geltend, sie habe über den Politiker Geri Müller und nicht über den Privatmann Gerhard Müller berichtet. Der Beschwerde fehle es an Sachlichkeit, sie sei in einem empörten Stil gehalten und der nachfolgende Medienhype sei nicht einzigartig gewesen. Die 18 Beschwerdeführer handelten in ihrer Rolle als National- bzw. Ständeräte, wobei sie beileibe keine Mehrheit der 246 Bundesparlamentarier verkörpern würden. Zudem gebe es auf Seiten der Beschwerdeführer drei Missverständnisse: Redaktion wie Verleger der «Schweiz am Sonntag» seien nicht explizit gegen Geri Müller. Zweitens sei zwar die Privatsphäre von Politikern zu achten, eine generelle Zensur gebe es aber nicht. Drittens betreffe der Bericht nicht den Nationalrat, sondern den Stadtammann Geri Müller; als oberster Exekutivpolitiker von Baden müsse er aufgrund seiner Funktion auch im Privatleben gewissen Ansprüchen gerecht werden. Sowohl die Beschwerdeführer als auch Geri Müller seien als Mitglieder des National- und Ständerats absolute Personen der Zeitgeschichte. Soweit allerdings ein sachlicher Zusammenhang mit ihrer konkreten Tätigkeit resp. ihrer öffentlichen Funktion bestehe, seien Eingriffe in die Privatsphäre – und ausnahmsweise in die Intimsphäre – zu dulden. Die durch die politische Funktion implizierte Verantwortlichkeit gegenüber der Öffentlichkeit und den Stimmberech-tigten habe zur Folge, dass auch bei privatem Handeln politischer Funktionsträger Berichterstattungsinteressen bestehen könnten, welche gegenüber Persönlichkeitsinteressen höher zu bewerten seien. So könne bei politischen Amtsträgern laut Praxis des Presserats namentlich ein schützenswertes öffentliches Interesse bestehen, wenn sich zwischen ihrem öffentlichen und ihrem privaten Leben tiefere Widersprüche zeigten. Zu berücksichtigen sei überdies, dass der Persönlichkeitsschutz bei leitenden Administrativfunktionen zusätzliche Begrenzungen erfahre. Die Beschwerdegegner plädieren für eine gewisse Freiheit der Medienschaffenden als Public Watchdogs zur Aufdeckung von Missständen bzw. Kontrolle behördlicher Tätigkeiten. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer bestehe nicht nur dann ein Berichterstattungsinteresse, wenn Handlungen oder Unterlassungen von Personen des öffentlichen Lebens strafrechtliche Relevanz aufwiesen. Stattdessen könne bereits ein berechtigtes Informationsinteresse vorliegen, wenn es sich bloss um den Verdacht einer Straftat, den Verdacht einer Amtspflichtverletzung oder eine gewisse allgemeine Kontrolle der Amtsführung handle. Mit Rücksicht auf die Unschuldsvermutung müsse aus der Berichterstattung hervorgehen, dass es sich um einen Verdacht handle. Diesen Pflichten sei die «Schweiz am Sonntag» in ihrer Berichterstattung vollumfänglich nachgekommen. Sie habe nach zwei Polizeieinsätzen, in welche Nationalrat und Vollzeit-Stadtammann Geri Müller in Baden am 13. und 14. August 2014 involviert war, legit
ime Fragen aufgeworfen betreffend die Amtsführung und die Integrität des Exekutivpolitikers und den Verdacht einer Straftat und/oder einer Amtspflichtverletzung geäussert. An all diesen Elementen habe ein berechtigtes Informationsinteresse bestanden, insbesondere an der Klärung offener Fragen zu den Polizeieinsätzen und den dabei gegenüber der Bekannten von Geri Müller ausgeübten resp. ins Auge gefassten Zwangsmassnahmen.

Natürlich gehe es auch darum, ob Müllers Privatleben den Ansprüchen, die sein Exekutivamt mit sich bringe, genüge. Offensichtlich vermöge bei nüchterner Betrachtung das nicht-jugendfreie Verhalten bzw. die «dunkle Seite» von Geri Müller (wie er sie selber bezeichne) dem Ansehen und der Würde seiner Ämter als Nationalrat und Vollzeit-Stadtammann von Baden erheblichen Schaden zufügen. Dieses Verhalten habe in inhaltlicher und zeitlicher Hinsicht auch das Potential, seine Amtsführung negativ zu beeinflussen und werde damit für die Öffentlichkeit prinzipiell relevant. Die Tatsache, dass Müller in öffentlich zugänglichen Amtsräumen der Stadt Baden sich nackt und bei unverschlossener Türe fotografierte, gehöre nicht zur Privatsphäre von Geri Müller. Selbst wenn man mit den Beschwerdeführern argumentieren würde, dass es sich bei diesem Vorfall um Müllers Privatsphäre handle, so könne ein öffentliches Interesse an seinen Handlungen nicht verneint werden. Eine solche Handlung sei nämlich mit dem Amt des Stadtammanns in jedem Fall unvereinbar.

In ihrer Berichterstattung habe die «Schweiz am Sonntag» die Unschuldsvermutung betreffend die Verwirklichung von Straftatbeständen gewahrt und Fremdaussagen korrekt und objektiv richtig wiedergegeben. Indem sie auch den verdächtigten Geri Müller vor der Publikation mit den Vorwürfen konfrontierte und zur Stellungnahme aufforderte, habe sie sämtliche Voraussetzungen für eine Verdachtsberichterstattung erfüllt.

Der Chefredaktor der «Schweiz am Sonntag» sei zudem nicht, wie von den Beschwerdeführern behauptet, vom Kommunikationsberater Sacha Wigdorovits kontaktiert worden, sondern habe diesen selber angerufen, nachdem er vom Polizeieinsatz in Baden erfahren hatte. Die Redaktion verwahre sich in aller Deutlichkeit gegen die haltlose und rufschädigende Unterstellung, sie habe Geri Müller nicht bloss kritisieren, sondern öffentlich diskreditieren und damit zu einem Rücktritt bewegen wollen. Ganz im Gegenteil habe die «Schweiz am Sonntag» auf eine unnötig verletzende oder diffamierende Darstellung verzichtet und grosse Zurückhaltung walten lassen. Anlass des Berichts sei der begründete Verdacht auf Amtsmissbrauch und/oder Amtspflichtverletzungen gewesen. An der Aufklärung der Umstände sowie allfälliger Missstände bei Amtsführung und Integrität des Stadtammanns habe ohne Zweifel ein legitimes Publikationsinteresse und ein öffentliches Interesse an der Berichterstattung bestanden. Die Interpellations-Antwort des aargauischen Regierungsrats vom 24. September 2014 zeige anschaulich, dass die Zeitung die Umstände der Polizeieinsätze in Baden am 13./14. August 2014 inhaltlich richtig wiedergegeben habe und ihren journalistischen Sorgfaltspflichten vollumfänglich nachgekommen sei.  

D. Mit einer Noveneingabe vom 7. Juli 2015 informierten die Rechtsvertreter der Beschwerdegegnerin den Presserat darüber, dass die Rechtsvertreter von Geri Müller und die AZ Zeitungen AG eine Verjährungsverzichtserklärung bis am 7. Juli 2016 unterzeichnet hätten. Offensichtlich beabsichtige Gerhard Müller, die AZ Zeitungen AG, die AZ Medien AG sowie «Schweiz am Sonntag»-Chefredaktor Patrik Müller ins Recht zu fassen und zivilrechtliche Ansprüche aus Schutz der Persönlichkeit gerichtlich geltend zu machen. Zur Unterstreichung der Ernsthaftigkeit dieser Absichten werde der Beschwerdegegnerin die Anhebung einer verjährungsunterbrechenden Betreibung angedroht. Nach dem bereits hängigen Strafverfahren der Staatsanwaltschaft Berner Jura-Seeland im Zusammenhang mit dem Beschwerdegegenstand sei nun auch noch ein zivilgerichtliches Parallelverfahren vorgesehen. Damit liege in doppelter Hinsicht ein Nichteintretensgrund im Sinne von Art. 11 des Geschäftsreglements des Presserats vor.

E. Das Präsidium des Presserates beschloss, die Beschwerde der 3. Kammer zur Behandlung zuzuweisen.

F. Die 3. Kammer, bestehend aus Max Trossmann (Kammerpräsident), Marianne Biber, Jan Grüebler, Matthias Halbeis, Peter Liatowitsch, Markus Locher und Franca Siegfried, behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 27. August 2015 sowie auf dem Korrespondenzweg.

G. Gestützt auf Art. 13 Abs. 3 des Geschäftsreglements des Schweizer Presserats kann das Präsidium bzw. die Kammern in jedem Stadium des Verfahrens von sich aus das Plenum einbeziehen, wenn sich mit einer Beschwerde berufsethische Fragen grundsätzlicher Natur stellen. Das Präsidium hat am 14. Oktober 2015 von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und dem Plenum die Frage unterbreitet, ob sich die 3. Kammer mit der Beschwerde befassen solle. Art. 7 Abs. 2 des Geschäftsreglements präzisiert, dass der Presserat mit Mehrheitsbeschluss Themen oder Fälle von sich aus aufgreifen kann. Im Ergebnis kam kein Mehrheitsbeschluss zustande, da gleich viele Mitglieder des Plenums für die Suspendierung des Verfahrens wie für die Behandlung der Beschwerde gestimmt haben. Damit behielt der Beschluss der 3. Kammer seine Gültigkeit. Mit Schreiben vom 15. Dezember 2015 teilte der Presserat den Parteien mit, dass die 3. Kammer beschlossen hat, das Verfahren angesichts der vorgesehenen Parallelverfahren und insbesondere gestützt auf die von den Parteien vereinbarte Verjährungsverzichtserklärung bis zum Moment, in dem diese Parallelverfahren abgeschlossen sind, zu suspendieren.

H. Mit Schreiben vom 24. Dezember 2015 und 21. Januar 2016 beantragten die Beschwerdeführenden, dass der Presserat auf seinen Sistierungsentscheid zurückkomme und die Anträge so rasch als möglich behandle. Zur Begründung führten sie an, sie würden keine Parallelverfahren führen und auch keine anstrengen. Auch hätten sie keine Verjährungs-verzichtserklärung vereinbart. Der Schweizer Presserat könne Verfahren von grundsätzlicher Bedeutung von sich aus behandeln, selbst wenn es «Parallelverfahren» gäbe. Das vorliegende Verfahren sei von grundsätzlicher Bedeutung, gehe es doch um eine krasse Missachtung der Privat- und Intimsphäre einer öffentlichen Person, die eine neue Qualität darstelle.

I. Am 12. Februar 2016 nahm die Beschwerdegegnerin zu den Verfahrensanträgen der Beschwerdeführer Stellung. Da laut Art. 7 Abs. 1 Geschäftsreglement jedermann zur Beschwerde an den Presserat berechtigt ist, liege es in der Natur der Sache, dass aussenstehende Beschwerdeführende nicht persönlich in die erwähnten Parallelverfahren eingebunden seien. Wie die Beschwerdeführer selbst einräumten, führe die Staatsanwalt-schaft Berner Jura-Seeland in Biel seit dem 14. August 2014 eine Strafuntersuchung gegen die Bekannte von Gerhard Müller sowie Mitbeteiligte. Gegenstand des Verfahrens sei der Chatverkehr zwischen Müller und der Bekannten, dessen Inhalt in unmittelbarem Zusammen-hang mit dem vorliegenden Beschwerdegegenstand stehe. Bei den laufenden Strafverfahren, welche sich gegen mehrere Beteiligte richten, handle es sich somit um Gerichtsverfahren im Sinne von Art. 11 Abs. 1 Geschäftsreglement. Durch das Einholen einer Verjährungs-verzichtserklärung bis zum 7. Juli 2016 habe Gerhard Müller somit die ernsthafte Absicht zum Ausdruck gebracht, zivilrechtliche Ansprüche aus Schutz der Persönlichkeit gerichtlich geltend zu machen. Aus dem Umstand, dass bis dato noch keine Klage eingereicht worden sei, könne angesichts der Erklärung des Verjährungsverzichts der «Schweiz am Sonntag» nichts abgeleitet werden. Wie dargelegt liege aufgrund der laufenden resp. vorgesehenen gerichtlichen Parallelverfahren in doppelter Hinsicht ein Nichtein
tretensgrund im Sinn von Art. 11 Abs. 1 Geschäftsreglement vor. Die Verfahrensanträge seien somit abzuweisen.

K. Das Präsidium beschloss, die Anträge der Beschwerdeführer vom 24. Dezember 2014 und 21. Januar 2015 wiederum der 3. Kammer zur Behandlung zuzuweisen.

L. An ihrer Sitzung vom 10. März 2016 hob die 3. Kammer ihren Entscheid vom 27. August 2015 auf und beschloss, die Beschwerde materiell zu behandeln.

M. Die 3. Kammer behandelte die Beschwerde an ihrer Sitzung vom 18. Mai 2016 sowie auf dem Korrespondenzweg.

II. Erwägungen

1. Vorab ist zu klären, ob der Presserat auf die vorliegende Beschwerde eintritt. Gestützt auf Art. 11 Abs. 1 seines Geschäftsreglements tritt der Presserat auf Beschwerden nicht ein, wenn ein Parallelverfahren (insbesondere bei Gerichten oder der Unabhängigen Beschwerdeinstanz UBI) eingeleitet wurde oder vorgesehen ist. Abs. 2 hält fest, dass der Schweizer Presserat auf Beschwerden eintreten kann, sofern sich berufsethische Grundsatzfragen stellen, auch wenn zum Beschwerdegegenstand ein rundfunkrechtliches Verfahren oder ein Gerichtsverfahren hängig ist, der Beschwerdeführer ein solches während des Presseratsverfahrens einleitet oder vorhat, ein solches einzuleiten. Unbestritten ist vorliegend, dass ein Strafverfahren gegen die Bekannte von Geri Müller eröffnet wurde. Dieses betrifft allfällig strafrechtlich relevantes Verhalten der Frau. Dieses ist nicht Gegenstand der vorliegenden Beschwerde und gilt somit nicht als Parallelverfahren im Sinne des Geschäftsreglements des Presserats. Unbestritten ist zudem, dass die Rechtsvertreter von Geri Müller und der AZ Zeitungen AG eine Verjährungsverzichtserklärung bis am 7. Juli 2016 unterzeichnet haben. Offen bleibt für den Presserat, ob Geri Müller allenfalls Klage wegen Persönlichkeitsverletzung gegen die «Schweiz am Sonntag» erhebt oder ob sich die Parteien in einem aussergerichtlichen Vergleich einigen. Diese allfällige Klage Geri Müllers betrifft somit den gleichen Gegenstand, der auch der vorliegenden Beschwerde zugrunde liegt, weshalb von einem eventuellen Parallelverfahren auszugehen ist. Die Frage einer Klage Geri Müllers ist dann nicht relevant, wenn sich berufsethische Grundsatzfragen stellen. Die Beschwerde wirft die Frage auf, wo die Grenzen der Berichterstattung über einen Stadtpräsidenten und Nationalrat zu ziehen sind, welcher über mehrere Monate eine private Chatbekanntschaft pflegte, im Verlauf derer er seiner Bekannten auch intime Bilder aus den Amtsräumen schickte und dem vorgeworfen wird, nach Beendigung der Beziehung Urheber eines Polizeieinsatzes gewesen zu sein. Diese Frage betrifft u.a. den Privat- und Intimbereich des Politikers. Bezüglich dessen Schutzbereichs stellen sich grundsätzliche berufsethische Fragen. Auf die Beschwerde ist deshalb einzutreten.

2. a) Ziffer 7 der «Erklärung» verlangt von Journalistinnen und Journalisten, dass sie die Privatsphäre der einzelnen Personen respektieren, sofern das öffentliche Interesse nicht das Gegenteil verlangt. Richtlinie 7.1 (Schutz der Privatsphäre) präzisiert: Jede Person – dies gilt auch für Prominente – hat Anspruch auf den Schutz ihres Privatlebens.

b) Über die Privatsphäre von Personen der Öffentlichkeit hat der Presserat sich schon mehrfach ausführlich geäussert. Bereits in Stellungnahme 2/1993 hatte er festgehalten, dass die Privatsphäre von Personen des öffentlichen Lebens grundsätzlich geschützt ist, soweit ihre Funktion in der Öffentlichkeit nicht unmittelbar betroffen ist. In Stellungnahme 36/2001 hielt er zudem fest, selbst wenn ein direkter Zusammenhang zu ihrer Funktion in der Öffentlichkeit bestehe, sei bei einer Interessenabwägung ein überwiegendes öffentliches Interesse an einer Publikation in aller Regel zu verneinen, wenn nicht nur die Privatsphäre, sondern gar die Intimsphäre betroffen ist. Zwar entspricht es der Natur des Menschen, sich für den Intimbereich anderer zu interessieren. Das Interesse einer grossen Öffentlichkeit ist aber nicht zu verwechseln mit einem öffentlichen Interesse (Stellungnahme 62/2002). Und: Gerüchte und Verdächtigungen können zwar den Ausgangspunkt einer Recherche bilden, sie sind aber gerade bei Berichten über Ermittlungen im Anfangsstadium vor der Publikation besonders kritisch zu überprüfen. Erst wenn die Wahrheitssuche in einer hieb- und stichfesten Tatsachenaussage endet, verliert ein Gerücht seine Anrüchigkeit (Entscheide 58/2010, 18/2009). Denn der Schaden für die Beteiligten kann beträchtlich sein.

c) Die Beschwerdeführer machen geltend, Geri Müller habe sich nicht fehlverhalten, da der Chat einvernehmlich zwischen zwei erwachsenen Menschen erfolgt sei. Zudem sei der Chat-Inhalt nicht illegal gewesen. Die «Schweiz am Sonntag» macht demgegenüber geltend, Geri Müller sei als Mitglied des Nationalrats eine absolute Person der Zeitgeschichte. Soweit ein sachlicher Zusammenhang mit seiner konkreten Tätigkeit resp. seiner öffentlichen Funktion bestehe, seien Eingriffe in seine Privatsphäre – und ausnahmsweise in die Intimsphäre – zu dulden. Die durch die politische Funktion implizierte Verantwortlichkeit gegenüber der Öffentlichkeit und den Stimmberechtigten habe zur Folge, dass Medien auch bei privatem Handeln politischer Funktionsträger berichten könnten, wenn das Interesse daran den Persönlichkeitsschutz überwiegt. So könne bei politischen Amtsträgern laut Praxis des Presserats namentlich ein schützenswertes öffentliches Interesse bestehen, wenn sich zwischen ihrem öffentlichen und ihrem privaten Leben tiefere Widersprüche zeigten. Zudem sei der Persönlichkeitsschutz bei Personen mit leitenden Administrativfunktionen begrenzt.

Im von der «Schweiz am Sonntag» zitierten Entscheid 1/2010 war es um die Privatsphäre eines Schriftstellers und dessen Familie gegangen. Der Presserat hatte damals festgehalten, es bestehe kein öffentliches Interesse, hinter die Kulissen ins Privatleben einer Künstlerin oder eines Künstlers zu blicken. Dagegen könne dies bei politischen Amtsträgern dann von öffentlichem Interesse sein, wenn sich zwischen ihrem öffentlichen und ihrem privaten Leben tiefere Widersprüche zeigen. Im erwähnten Fall war es um die Privatsphäre eines Künstlers gegangen. Im vorliegenden geht es um einen Exekutivpolitiker, der Nackt-Selfies an eine Chat-Bekanntschaft per WhatsApp schickte. Eine (erotische) Chat-Bekanntschaft zu unterhalten gehört unbestritten zur Intimsphäre eines Politikers, weshalb der erwähnte Entscheid hier nicht unmittelbar angewendet werden kann.

d) Die «Schweiz am Sonntag» macht weiter geltend, offensichtlich vermöge das nicht-jugendfreie Verhalten Geri Müllers dem Ansehen und der Würde seiner Ämter als Nationalrat und Vollzeit-Stadtammann von Baden erheblichen Schaden zufügen. Dieses Verhalten habe auch das Potential, seine Amtsführung negativ zu beeinflussen und werde damit für die Öffentlichkeit prinzipiell relevant. Die Tatsache, dass Geri Müller in öffentlich zugänglichen Amtsräumen der Stadt Baden sich nackt und bei unverschlossener Türe fotografierte, gehöre nicht zu Müllers Privatsphäre. Selbst wenn man mit den Beschwerdeführern argumentieren würde, es handle sich bei diesem Vorfall um Müllers Privatsphäre, so sei ein öffentliches Interesse an seinen Handlungen nicht zu verneinen. Eine solche Handlung sei nämlich mit dem Amt des Stadtammanns unvereinbar.

Der Presserat teilt diese Ansicht nicht. Nicht alles, was in Amtsräumen passiert, ist von öffentlichem Interesse. Grundsätzlich ist das Büro eines Stadtpräsidenten kein öffentlicher Raum, es ist deshalb irrelevant, ob dessen Büro abgeschlossen war, als er das fragliche Foto schoss. Der Inhalt eines intimen Chats gehört der Intimsphäre an, es geht nicht an, dass Medien über den Inhalt eines solchen Chats berichten. Auch dann nicht, wenn
dieser allenfalls während der Arbeitszeit geführt wurde. Die «Schweiz am Sonntag» hat nicht überzeugend darlegen können, worin das öffentliche Interesse an einer Berichterstattung über diesen Chat bestehen soll.

e) Die Beschwerdeführer beklagen, Geri Müller werde im Artikel der «Schweiz am Sonntag» beschuldigt, er habe sein Amt missbraucht und seine Chat-Bekannte verhaften lassen. Das sei falsch. Am 13. August 2014 habe die Frau innerhalb von 15 Minuten mehrere Suizidandrohungen per SMS an Geri Müller geschickt. Dieser habe nach Rücksprache mit seinem Anwalt die Kantonspolizei Bern darüber verständigt, jedoch keine Festnahme der Frau verlangt. Dazu führt die «Schweiz am Sonntag» aus, ihr Chefredaktor habe sich einer nüchternen Beschreibung verpflichtet und den inhaltlichen Schwerpunkt seines Artikels klar auf die fragwürdigen Polizeieinsätze in Baden am 13./14. August 2014 und den Verdacht eines Amtsmissbrauchs gelegt. Der Bericht der «Schweiz am Sonntag» habe die Persönlichkeitsrechte von Geri Müller nicht verletzt. Anlass der Berichterstattung sei der begründete Verdacht auf Amtsmissbrauch und/oder Amtspflichtverletzungen gewesen. An der Aufklärung der Umstände sowie allfälliger Missstände bei Amtsführung und Integrität des Stadtammanns habe ohne Zweifel ein legitimes Publikationsinteresse und ein öffentliches Interesse an der Berichterstattung bestanden.

Für den Presserat steht ausser Zweifel, dass Fragen zu einem allfälligen Amtsmissbrauch in Bezug auf den Polizeieinsatz gestellt werden dürfen und müssen. Hat Geri Müller sein Amt missbraucht, damit er das Mobiltelefon mit dem kompromittierenden Chat sicherstellen lassen konnte? Diesen Verdacht stellte zumindest die «Schweiz am Sonntag» in den Raum. Und er dient ihr als wesentliche Begründung dafür, wieso sie über Geri Müller, seinen Chat und seine Selfies berichtete. Sie stützte sich dabei jedoch allein auf die Aussagen der Chat-Bekannten Müllers. Geri Müller hat zudem Weisungsbefugnisse in seiner Funktion als Stadtpräsident, somit gegenüber dem Personal der Stadt Baden. Hingegen ist er nicht Polizeivorsteher und hat insofern keine Weisungsbefugnisse der Polizei gegenüber. Unbestritten ist, dass die Polizei das Mobiltelefon der Chat-Bekannten nicht sichergestellt hat und dass Geri Müller die Berner Polizei am Wohnort der Chat-Bekannten über die Suiziddrohungen der Frau informierte. Damit hatte sich der Vorwurf des Amtsmissbrauchs erledigt – und somit auch ein öffentliches Interesse für eine Berichterstattung in den Medien. Ohne Vorliegen entsprechender Belege bzw. Dokumente war somit kein öffentliches Interesse an der Berichterstattung gegeben. Im Ergebnis muss sich die «Schweiz am Sonntag» vorwerfen lassen, nicht genügend recherchiert zu haben. Sie hat mit ihrem Bericht einen riesigen Hype ausgelöst. Sie hätte sich ihrer Verantwortung bewusst sein müssen, was sie auslösen kann, wenn sie solche Dokumente veröffentlicht.

3. Dürfen Medien mit ihren Publikationen gewählte Legislativ- und Exekutivpolitiker so blossstellen, dass sich in der öffentlichen Wahrnehmung deren amtliche Funktionen destabilisieren können? Das fragen sich die Beschwerdeführer und berufen sich auf Ziffer 7 der «Erklärung»: Journalistinnen und Journalisten unterlassen anonyme und sachlich nicht gerechtfertigte Anschuldigungen. Die Beschwerdegegnerin hingegen stellt sich auf den Standpunkt, der nachfolgende Medienhype sei nicht einzigartig gewesen. Sie verwahrt sich gegen die haltlose und rufschädigende Unterstellung, sie habe Geri Müller nicht bloss kritisieren, sondern öffentlich diskreditieren und damit zu einem Rücktritt bewegen wollen.

Der Presserat hält fest, dass der Name der Chat-Bekanntschaft anonym gehalten wurde, die Blossstellung Müllers als öffentliche Person mit der Berichterstattung in der «Schweiz am Sonntag» hingegen gegeben war. Sie genügte, Geri Müllers Position zu gefährden, zumal nach der ersten Berichterstattung alle nationalen Medien über Müllers Nackt-Selfies berichteten. Für die Öffentlichkeit ist die Tatsache, dass der Badener Stadtammann und grüne Nationalrat Geri Müller eine Chat-Affäre hat, nicht von Interesse, sie ist auch politisch nicht relevant. Darüber hinaus ist es nicht Sache des Presserats, sich zu allfälligen Motiven für die Veröffentlichung dieser Informationen zu äussern.

III. Feststellungen

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2. Die «Schweiz am Sonntag» hat mit dem Artikel «Geri Müller: Nackt-Selfies aus dem Stadthaus» vom 16. und 17. August 2014, zuerst online, dann in der Printausgabe veröffentlicht, die Privat- und Intimsphäre des Badener Stadtammanns und grünen Nationalrats Geri Müller in schwerer Weise verletzt. Ein höher zu wertendes öffentliches Interesse, das eine solche Publikation rechtfertigen würde, besteht nicht. Damit verletzt der Artikel Ziffer 7 über den Schutz der Privatsphäre der «Erklärung der Pflichten und Rechte der Journalistinnen und Journalisten».